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Neueinspielung von Meyerbeers Oper 'Margherita d'Anjou'

Auf deutschen Bühnen sind sie bis heute immer noch eher selten anzutreffen: die großen Opern Giacomo Meyerbeers. Wer beispielsweise 'Die Hugenotten', 'Der Prophet' oder 'Die Afrikanerin' einmal live erleben möchte, muss zwischen Kiel und Konstanz schon sehr genau suchen – oder sich in Richtung Frankreich orientieren; dort, wo Meyerbeer an der Pariser Opéra ab 1831 triumphale Erfolge feierte, sind seine Werke häufiger anzutreffen. Immerhin gibt es vom Spätwerk Meyerbeers, etwa den 'Hugenotten' oder 'Robert, dem Teufel' repräsentative Gesamteinspielungen; die frühen und mittleren Opern dagegen warten noch auf ihre Wiederentdeckung. Beim englischen Label 'Opera Rara' ist Ende des vergangenen Jahres eine Aufnahme der kaum bekannten 'Margherita d'Anjou' mit dem London Philharmonic Orchestra unter der Leitung von David Parry erschienen.

Von Klaus Gehrke |
    • Musikbeispiel: Giacomo Meyerbeer: Ouvertüre aus der Oper "Margherita d'Anjou”

    Ähnlich wie Gioacchino Rossini begann auch der 1791 bei Berlin geborene Giacomo Meyerbeer früh mit der Komposition von Opern; 1810 debütierte der erst 19jährige mit 'Der Fischer und das Milchmädchen' in der preußischen Hauptstadt. Auf Anraten Antonio Salieris, seine Opernstudien in Italien zu vertiefen, zog Meyerbeer 1816 nach Venedig; dort eignete er sich die italienische Kantabilität sowie den Stil Rossinis an. Seine Opern wurden sowohl in Venedig als auch in Turin und Parma stürmisch gefeiert. Zu dieser rund neun Jahre andauernden 'italienischen Periode' gehört auch das Melodramma semiserio 'Margherita d'Anjou' in zwei Akten. In der Oper, die im England des 15. Jahrhunderts zur Zeit der so genannten 'Rosenkriege' spielt, griff Meyerbeer erstmals ein historisches Sujet auf. Zwar fällt den geschichtlichen Ereignissen hier noch nicht das Gewicht zu wie in den späteren französischen Opern; dennoch beeinflussen sie die Couleur des Werkes bereits in beachtlichem Maße. Eine weitere wichtige Neuerung in Meyerbeers Schaffen ist die Einfügung des heiter witzigen Arztes Michele, eine Art humoristischer Kontrapunkt zum sonst eher dramatischen Geschehen. Dieser macht sich zu Beginn des ersten Aktes mit brillanten Parlandopassagen über die pathetischen Liebesklagen Isauras lustig.

    • Musikbeispiel: Giacomo Meyerbeer: aus: 1. Akt aus der Oper "Margherita d'Anjou”

    Michele und Isaura, hier gesungen von Fabio Previati und Daniela Barcellona, gehören zum französischen Heer der Königinwitwe Margherita d'Anjou, das an der schottischen Grenze lagert. Nach dem Tod des englischen Königs Heinrich VI. war Margherita vor den Nachstellungen des Herzogs von Glocester, dem Führer der Lancaster-Partei, nach Frankreich geflohen; nun ist sie zurückgekehrt, um ihren Thronanspruch einzufordern. Der Befehlshaber des Heeres, der Herzog von Lavarenne, hat sich in sie verliebt und ihretwegen seine Braut Isaura verlassen; doch auch diese ist in Männerkleidern vor Ort, um ihren Gatten wieder zurückzugewinnen. Eine Schlacht gegen die feindlichen Truppen des Herzogs von Glocester steht bevor; Margherita und die Ihrigen hoffen auf den Sieg. Im Finale des ersten Aktes singen Annick Massis, Margherita, Bruce Ford, Lavarenne, Daniela Barcellona, Isaura, sowie der Geoffrey Mitchell Choir. David Parry leitet das London Philharmonic Orchestra.

    • Musikbeispiel: Giacomo Meyerbeer: Finale 1. Akt aus der Oper "Margherita d'Anjou”

    Die Umstände, die zur Komposition der 'Margherita' führten, sind nicht ganz geklärt; ursprünglich hatte Meyerbeer sich verpflichtet, in der Mailänder Karnevalssaison 1819/20 das Drama 'Francesca da Rimini' für die Scala zu schreiben. Als Librettist stand ihm der prominente Felice Romani zur Seite. Die Zensur machte das Projekt jedoch zunichte. Für die Suche nach einem neuen Stoff sowie dessen Ausarbeitung forderte Meyerbeer eine Verschiebung des Premierentermins, den die Opernleitung ablehnte; daraufhin trat der Komponist vom Vertrag zurück. Ein halbes Jahr später waren ein neuer Stoff und ein neuer Premierentermin gefunden: am 14. November 1820 erlebte 'Margherita d'Anjou' ihre erfolgreiche Uraufführung an der Mailänder Scala. Die Leipziger Allgemeine musikalische Zeitung schrieb in ihrem Premierenbericht: "Die Oper wurde mit vielem Beyfall gegeben, und der Meister in den ersten drei Abenden nach jedem Acte auf die Szene gerufen". Zu der Begeisterung trugen sicherlich die vielen technisch anspruchsvollen Arien bei, etwa die groß angelegte Auftrittsszene der Margherita zu Beginn des zweiten Aktes, aus der nun der Schluss mit Annick Massis, dem Geoffrey Mitchell Choir sowie dem London Philharmonic Orchestra unter David Parry erklingt.

    • Musikbeispiel: Giacomo Meyerbeer: aus: 2. Akt aus der Oper "Margherita d'Anjou”

    Von Mailand aus verbreitete sich der Erfolg der Oper über ganz Europa: Bis 1837 hatte Meyerbeers 'Margherita d'Anjou' alle großen Bühnen von Lissabon bis Prag erobert. Allerdings konnte das Werk sich nicht lange halten: Nur 30 Jahre nach ihrer Uraufführung war 'Margherita' fast völlig von der Bühne verschwunden. An ihre Stelle rückten nun Meyerbeers große französische Opern, die eine deutliche Abkehr vom rossinihaften Parlando zugunsten größerer Dramatik zeigen. Diese kommt insbesondere im 2. Akt der 'Margherita' stellenweise zu kurz, beispielsweise wenn die Königin auf ihren bewaffneten Verfolger stößt. Das Finale, in dem Isaura ihren Gatten glücklich wieder in ihre Arme schließen kann, ist als Bravourarie mit Variationen angelegt.

    • Musikbeispiel: Giacomo Meyerbeer: aus: 2. Akt aus der Oper "Margherita d'Anjou”

    Wer abseits der gängigen Opernliteratur nach selten gespielten Bühnenwerken sucht, wird beim englischen Label Opera rara fast immer fündig; gerade im Belcanto-Bereich sind hier exemplarische Einspielungen erschienen. Auch 'Margherita d'Anjou' macht da keine Ausnahme: David Parry gelingt mit seinem exzellent agierenden Solistenensemble, dem Chor sowie dem London Philharmonic Orchestra eine höchst facettenreiche Interpretation der Oper. Darüber hinaus macht er deutlich, warum 'Margherita d'Anjou' nicht nur richtungsweisend in Meyerbeers Schaffen war, sondern auch zu den populärsten Opern ihrer Zeit gehörte.

    • Musikbeispiel: Giacomo Meyerbeer: aus: 2. Akt aus der Oper "Margherita d'Anjou”

    Das war ein Ausschnitt aus dem Sextett des zweiten Aktes mit Annick Massis, Bruce Ford, Daniela Barcellona, Alastair Miles, Fabio Previati, Pauls Putnins sowie dem Geoffrey Mitchell Choir; das London Philharmonic Orchestra wurde geleitet von David Parry. Neben der Oper umfasst die Einspielung noch einige nachträglich von Meyerbeer geänderte Szenen sowie ein ausführliches, allerdings nur englisches, Booklet zur Entstehungsgeschichte der 'Margherita d'Anjou'.

    Giacomo Meyerbeer: "Margherita d'Anjou"
    div. Solisten
    London Philharmonic Orchestra unter David Parry
    Label: Opera Rara/Note 1
    Labelcode: 00691
    Bestellnr.: ORC 25