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Neuer Film "Tenet"
Zurück ins Kino

Regisseur Christopher Nolan geizt auch in seinem neuen Film nicht mit opulenten Bildern für die große Leinwand. Er liefert außerdem wie gewohnt komplizierte Zeit-Raum-Gebilde, in denen die Zeit nicht nur linear nach vorne, sondern auch rückwärts läuft.

Von Hartwig Tegeler | 25.08.2020
Der Hauptdarsteller des Films "Tenet", John David Washington, fährt in einem Schnellboot.
Szene aus "Tenet" von Regisseur Christopher Nolan (imago / Warner Bros. Entertainment Inc.)
Was ist, wenn wir uns nicht einmal mehr auf die Zeit verlassen können? Am Anfang von "Tenet", beim Angriff auf das Opernhaus in Kiew, fällt unser Blick auf ein Einschussloch an einem Betonsockel. Plötzlich schießt die Kugel daraus zurück, und das Loch ist wieder geschlossen. Irgendwas stimmt hier nicht. Klar! John David Washington, Hauptfigur in "Tenet", nur "der Protagonist" genannt, bekommt von der Wissenschaftlerin das Problem mit dieser Anomalie und mit der Apokalypse erklärt:
"Ich sehe hier kein Armageddon. Nein, etwas Schlimmeres."
Wir erfahren: Jemand in der Zukunft hat eine Technologie, die zu einem Angriff der Zukunft auf die Gegenwart nutzt. Der Mega-Bösewicht: Ein russischer Oligarch, der diese Technologie aus der Zukunft heraus beherrscht und die Zeit- und Raum-Ebenen damit wechseln kann. Inversion! Zeit-Umkehr also. Wie das geht, erklärt die Wissenschaftlerin dem staunenden Protagonisten und damit uns: Eine Kugel aus einer Pistole abschießen, die dann das Ziel trifft, ist das eine. Aber in der Inversion geht es umgekehrt:
"Sie schießen die Kugel nicht ab, sie fangen sie ein."
Oder auch so:
"Die eine dieser Kugeln bewegt sich vorwärts durch die Zeit, die andere hingegen rückwärts."
Und später bringt der Protagonist es für seinen Buddy noch einmal auf den Punkt:
"Zeitreisen! - Nein, Inversion!"
Dass dann später im Film zwar immer wieder in die Vergangenheit oder die Zukunft oder in die Gegenwart gereist wird, geschenkt. "Tenet" ist ein Zeit-, ein Science-Fiction- und ein Agenten-Thriller. Christopher Nolan, erklärter Fan von James-Bond-Filmen, hat übrigens mit John David Washington als Geheimagenten übrigens nebenbei auch so etwas wie den ersten Bond-Film mit einem schwarzen Quasi-007 gedreht. Inklusive der typischen Reisen um den Globus – Mumbai, Tallin, London, Windpark in Dänemark und und und … und zurück. Immer auf der Suche nach einem Algorithmus, der "die Entropie der ganzen Welt invertiert", soll heißen: Wenn mittels dieses Algorithmus und der Inversion sich Gegenwart und Zukunft verschränken, löst sich alles auf. Ende der Welt! Verstanden? Tja.
Schwarzer Geheimagent
"Tenet" ist intellektuelles Überwältigungskino, und die nahezu gnadenlose Wucht des Soundtracks von Ludwig Göransson tut ihr Übriges. Das Ganze – neben den perfekt inszenierten Action-Szenen - immer wieder garniert mit solch zeitphilosophischen Aphorismen:
"Wenn der Zeitfluss umgekehrt ist, heißt das nicht: Wenn wir jetzt hier sind, dass es nie passiert ist."
"Tenet" bietet Augen- wie Hirnfutter. Was vielleicht damit zu tun hat, dass das mühselige Nachdenken über die Zeit im Film immer den Reiz auslöst, über uns und unser Sein nachzudenken. Bis an die Grenze der Auflösung des Gedankens, den wir meinten gefasst zu haben, der uns aber dann meist entgleitet wie das Stück Seife unter der Dusche. In "Memento", wo die Handlung rückwärts lief, bis zu "Inception" oder "Interstellar" hat sich Christopher Nolan fraglos als Zeit-Philosoph des Kinos erwiesen, aber auch als Architekt ganz eigener Zeit-Raum-Gebilde. Die Prämisse dieses Werkes formuliert die Wissenschaftlerin am Anfang von "Tenet", sozusagen in unsere Richtung als Kinogänger: "Versuchen Sie es nicht zu verstehen", sagt sie, "fühlen Sie es!"
Überwältigungskino mit wenig Gefühl für die Charaktere
Doch mit dem Fühlen oder besser: Den Gefühlen ist es bei Christopher Nolan allerdings immer ein Problem gewesen. Die Architektur seiner Werke, deren Form schien immer wichtiger als die Figuren, die Charaktere. John David Washington als Protagonist wie der nicht minder brillante Robert Pattinson als Sidekick, der diabolisch-großartige Bösewicht – Kenneth Brannagh - und Elizabeth Debicki als dessen geschundene Frau: Sie spielen großartig, aber ihre Charaktere wirken in der Nolanschen Zeit-Raum-Maschine nur wie Rädchen im Getriebe des gottgleichen Schöpfers, sprich: Regisseurs und Autors Nolan. "Tenet" führt unsere Verständnis-Kapazitäten immer wieder an die Grenzen, was ja an sich nicht schlecht ist. Aber "Tenet" wirkt in seiner komplexen Konstruktion eben auch extrem kühl, und man bekommt den Eindruck, als stelle jemand die eigene Schöpfung genüßlich aus, die nur er, und nur er, versteht und beherrscht. "Tenet" ist aufregend, und "Tenet" ist nervig zugleich. Dass sich in einem Film beide Eigenschaften verschränken, das hat immerhin eine hohe Qualität.