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Neuer Kriegsfilm: "Dunkirk"
Jenseits von Patriotismus und Heldentum

Chaos und Unübersichtlichkeit: "Memento"- und "Batman"-Regisseur Christopher Nolan inszeniert in "Dunkirk" die Erfahrung des Krieges - kaum auszuhalten für den Kinobesucher. Zurückbleibt das Gefühl, dass Krieg pures Chaos ist. Ein bedrückendes, klaustrophobisches Meisterwerk.

Von Hartwig Tegeler | 25.07.2017
    Soldaten stehen dicht gedrängt auf einem Schiff, einer der Männer schaut nach oben
    Christopher Nolan erzählt in "Dunkirk" die Geschichte der "Operation Dynamo", die Evakuierung von im Zweiten Weltkrieg eingekesselten alliierten Soldaten in Dünkirchen. (imago stock&people/Cinema Publishers Collection)
    75 Kilometer. Die Entfernung. Von Dünkirchen bis nach Dover in England. Luftlinie.
    "Man kann sie von hier aus fast sehen. - Was? - Die Heimat."
    Aber für die eingekesselten Soldaten, die im Frühjahr 1940 in Dünkirchen in der Falle sitzen … "Es sind 400.000 Mann an diesem Strand." ... ist sie unüberbrückbar, wenn nicht die Schiffe kommen. Die deutschen Jagdflieger bomben und schießen auf die Soldaten, die am Strand auf die Evakuierung warten.
    "Die feindlichen Panzer haben angehalten. - Wieso? - Warum kostbare Panzer opfern, wenn sie uns von oben wie Fische im Netz erwischen können."
    Gefangensein in unerträglicher Intensität
    Erstaunlich ist an diesem filmischen Meisterwerk - und das ist "Dunkirk": ein Meisterwerk - wie unblutig Christopher Nolans Film aussieht. Es geht ums Überleben, ohne Frage, es geht um den Tod. Rettungsschiffe sinken, Soldaten springen ins Wasser, ertrinken oder verbrennen. Aber Christopher Nolan weiß, dass der Hyperrealismus eines Gemetzels, den Steven Spielberg mit der Alliierten-Landung in der Normandie in seinem Film "Saving Private Ryan" inszenierte und damit als Standard des Kriegsfilms 1998 gesetzt hat, er kann nicht noch einmal gesteigert werden. Nur kopiert. Und genau das macht Christopher Nolan nicht.
    Von links nach rechts: Harry Styles als Alex, Aneurin Barnard als Gibson und Fionn Whitehead als Tommy im Film "Dunkirk"
    Harry Styles als Alex (links), Aneurin Barnard als Gibson und Fionn Whitehead als Tommy (rechts) im Film "Dunkirk" (imago stock&people/Cinema Publishers Collection)
    Die Wirkung von "Dunkirk" zielt also nicht auf den Schock spritzender Gedärme, abgeschossener Gliedmaßen und zerplatzter Körper, sondern erweckt in unerträglicher Intensität das klaustrophobische Gefühl des Gefangenseins an diesem riesigen Strand. Nicht vor, nicht zurück. Pure Emotion. In einer Weise, dass ich immer wieder kurz davor war, die Pressevorführung zu verlassen, weil ich die Wucht dessen, was hier mit den Menschen passiert, kaum aushalten konnte. Und doch blieb, fasziniert von der komplexen Dramaturgie des Nolanschen Films.
    Der bedrückendste Eindruck bei diesem Film: Krieg ist reines Chaos, anarchischer Ablauf von Ereignissen. Du weißt nicht, wann du wo bist. Verstärkt wird dieser Eindruck dadurch, dass Christopher Nolan eine lineare Erzähl-Chronologie und damit die Erfahrung derjenigen, die in der Situation sind, fragmentiert. Zeitschichten überlagern sich. Was vorher passierte, beim Sinken eines Schiffes, scheint auf einmal wie das, was passieren wird.
    Der Krieg in vielen Realitäten
    "Es war ein kolossales militärisches Desaster."
    Der Krieg hat bei Christopher Nolan viele Realitäten, viele Wahrnehmungsrealitäten. Der junge Soldat Tommy am Strand beim Versuch wegzukommen; immer wieder wird er quasi zurückgeworfen an den Strand, weil beispielsweise sein Rettungsschiff torpediert wird. Im Gesicht des jungen britischen Schauspielers Fionn Whitehead - hier in seinem Kinodebüt - spiegelt sich dieses Chaos als ungläubiges Staunen. Tommy ist ein Parzival. Dazu Kenneth Branagh als Commander, der versucht, die Evakuierung zu organisieren. Dazu Tom Hardy als Pilot in seiner Maschine, der die Deutschen abzuschießen versucht, um die Wartenden am Strand zu retten.
    Kenneth Branagh als Commander Bolton im Film "Dunkirk" von Christopher Nolan
    Kenneth Branagh als Commander Bolton (imago stock&people/Cinema Publishers Collection)
    Szenen, die am ehesten noch das Klischees des patriotischen Kriegsfilms bedienen, aber konterkariert werden durch die Verzweiflung des traumatisierten britischen Offiziers, Überlebender eines gesunkenen Rettungsbootes.
    "Wo fahren wir hin? - Dünkirchen. - Ich gehe nicht mehr zurück. - Es lässt sich nicht vermeiden, Junge."
    Der das sagt, ist der Hobbysegler Dawson, gespielt von Mark Rylance, der mit seinem Boot Soldaten aus Dünkirchen abholen will.
    "Der Befehl ist ergangen. Wir müssen nach Dünkirchen. Klar bei Achterleine. - Was macht du denn? Du weißt, wo wir hinfahren. - In den Krieg, George. - Ich werd nützlich sein, Sir!"
    All diese Figuren sind getrieben von unterschiedlichen Erfahrungen, Wahrnehmungen, Motiven. Und in diesem Mahlstrom der Ereignisse am Strand löst sich Christopher Nolans Film "Dunkirk" von den historischen Ereignissen quasi ab. Verdichtet sich - erbarmungslos, eindringlich - zum Bild des Menschen in einer todbringenden Kriegs-Situation. Das letzte Bild, eine Sekunde oder zwei, vor dem Abspann, zeigt Tommys Gesicht. Nichts patriotisch Heroisches. Sein Blick, ohne Worte, sagt: "Ich habe gesehen!"