"Lebedinoje osero", wie das Ballett im russischen Original seit 1877 heißt, kann heute die ganze Welt buchstabieren. "Swan Lake", "Le lac des cygnes", Il lago dei cigni", "Schwanensee" ist zum Synonym für klassischen Tanz geworden. Den einen, jenen, die mit der umwerfenden Ästhetik der Petipa/Iwanow-Version von 1895 und ihrer getreuen Nachfahren vertraut sind, läuft bei der Erwähnung des Tschaikowsky-Titels ein Schauer über den Rücken - die anderen, die nur so tun, als kennten sie das Ballett, glauben, es achselzuckend abtun zu können. Von beiden Seiten - von der Partei der Ballettomanen wie der Ballettverächter käme als Antwort auf die Frage "Braucht die Welt noch einen "Schwanensee"? wahrscheinlich ein entschiedenes Nein.
Ballettkenner neigen dazu zu glauben, Peter Iljitsch Tschaikowskys, Marius Petipas und Lew Iwanows großes Tanzwerk über Selbstfindung, Verführung, Macht, Liebeszauber und Hingabe bis in den Tod werde am besten weitgehend originalgetreu inszeniert, und sie lieben es, verschiedene Ballerinen in der Rolle der Odette/Odile zu vergleichen - so wie Opernliebhaber diskutieren, welche Stimmen welche Partituren am überzeugendsten interpretieren. Nicht-Ballettgänger brauchen natürlich keinen neuen "Schwanensee", weil sie ja schon den alten überflüssig fanden.
Nun, in Florenz stellte sich jetzt heraus, dass beide Seiten zwar schwerwiegende Argumente für ihre Skepsis haben, aber im Ergebnis mit ihrer Ablehnung Unrecht. Der kanadische Choreograf Paul Chalmer hat jetzt beim Festival del Maggio Musicale in Florenz mit "Il lago dei cigni. Lo scandalo Caikovskij" eine ganz neue Fassung des Balletts präsentiert. Seine Idee war es, Tschaikowskys Konzept des "Schwanensees" zu der künstlerischen Existenz des Komponisten in Beziehung zu setzen.
Chalmers Ballett inszeniert den See als unheimliches Gewässer, das den Musiker, dem mehrere Selbstmordversuche nachgesagt werden anzieht wie die Vision eines erlösenden Todes. Die mythologischen Wesen, die unerlösten Mädchen in Schwanenkörpern, scheinen den Weg in diese jenseitige Freiheit zu weisen. Der Schwan als ein Tier, dessen Geschlecht sich nicht nach leicht am Gefieder abzulesenden Kennzeichen oder der Körpergröße bestimmen lässt, fasziniert den älteren Mann.
Tschaikowskys letzte große Liebe war sein Neffe Vladimir, Sohn seiner geliebten Schwester Alexandra. Anfangs zeigt Chalmer Vladimirs achtzehnten Geburtstag, den die große ganz in Weiß gekleidete Familie mit einem Gartenfest feiert, als wär's eine Szene von Tschechow.
Eines büßt man in dieser detailreichen, psychologisch klugen, neoklassischen Version natürlich doch ein:
Die heiteren kleinen Schwänchen etwa passen natürlich gar nicht in eine solche entlang Tschaikowskys Lebensunglück erzählte Fassung. Seine traumatische Eheerfahrung und heimlich gelebte Homosexualität fehlen nicht. Vorherrschend an diesem Abend ist aber, wie man in Tschaikowskys tiefes Verlangen, in der Welt der Musik beschützt zu sein vor der Wirklichkeit, eintaucht als wäre es das eigene. Die Gefahr dabei, diese weißen Akte umzustellen, ist natürlich, dass die Erinnerung an die Schönheiten der Originalchoreografie übermächtig wird, wenn das Neue nicht genügend ästhetisches Eigengewicht in die Wagschale wirft. Doch keinen Moment vermisst man in diesen zwei jeweils einstündigen Akten die zweiunddreißig anmutig in die Arabesque sinkenden Schwäne. Gebannt folgt man Chalmers Erzählung im zweiten, ganz in Schwarz getauchten Teil. Ein Maskenball findet statt, bei dem Petipas Nationaltänze in zeitgenössischer neoklassischer Manier getanzt werden, aber nur von Männern. Es ist Nacht geworden, und Chalmer zeigt Tschaikowskys heimlich gelebte Homosexualität in dieser dunklen Fantasie maskierter Männer. Die Welt hat eigentlich genügend sentimentale Künstler-Ballette abgesessen: "Verdi" von Patrice Bart, "Caravaggio" von Mauro Bigonzetti, Mozart- und Bernsteintänze von Heinz Spoerli und John Neumeier. Chalmer hat etwas ganz anderes geleistet: Er hat uns mitten hinein in Tschaikowskys Welt entführt.
Ballettkenner neigen dazu zu glauben, Peter Iljitsch Tschaikowskys, Marius Petipas und Lew Iwanows großes Tanzwerk über Selbstfindung, Verführung, Macht, Liebeszauber und Hingabe bis in den Tod werde am besten weitgehend originalgetreu inszeniert, und sie lieben es, verschiedene Ballerinen in der Rolle der Odette/Odile zu vergleichen - so wie Opernliebhaber diskutieren, welche Stimmen welche Partituren am überzeugendsten interpretieren. Nicht-Ballettgänger brauchen natürlich keinen neuen "Schwanensee", weil sie ja schon den alten überflüssig fanden.
Nun, in Florenz stellte sich jetzt heraus, dass beide Seiten zwar schwerwiegende Argumente für ihre Skepsis haben, aber im Ergebnis mit ihrer Ablehnung Unrecht. Der kanadische Choreograf Paul Chalmer hat jetzt beim Festival del Maggio Musicale in Florenz mit "Il lago dei cigni. Lo scandalo Caikovskij" eine ganz neue Fassung des Balletts präsentiert. Seine Idee war es, Tschaikowskys Konzept des "Schwanensees" zu der künstlerischen Existenz des Komponisten in Beziehung zu setzen.
Chalmers Ballett inszeniert den See als unheimliches Gewässer, das den Musiker, dem mehrere Selbstmordversuche nachgesagt werden anzieht wie die Vision eines erlösenden Todes. Die mythologischen Wesen, die unerlösten Mädchen in Schwanenkörpern, scheinen den Weg in diese jenseitige Freiheit zu weisen. Der Schwan als ein Tier, dessen Geschlecht sich nicht nach leicht am Gefieder abzulesenden Kennzeichen oder der Körpergröße bestimmen lässt, fasziniert den älteren Mann.
Tschaikowskys letzte große Liebe war sein Neffe Vladimir, Sohn seiner geliebten Schwester Alexandra. Anfangs zeigt Chalmer Vladimirs achtzehnten Geburtstag, den die große ganz in Weiß gekleidete Familie mit einem Gartenfest feiert, als wär's eine Szene von Tschechow.
Eines büßt man in dieser detailreichen, psychologisch klugen, neoklassischen Version natürlich doch ein:
Die heiteren kleinen Schwänchen etwa passen natürlich gar nicht in eine solche entlang Tschaikowskys Lebensunglück erzählte Fassung. Seine traumatische Eheerfahrung und heimlich gelebte Homosexualität fehlen nicht. Vorherrschend an diesem Abend ist aber, wie man in Tschaikowskys tiefes Verlangen, in der Welt der Musik beschützt zu sein vor der Wirklichkeit, eintaucht als wäre es das eigene. Die Gefahr dabei, diese weißen Akte umzustellen, ist natürlich, dass die Erinnerung an die Schönheiten der Originalchoreografie übermächtig wird, wenn das Neue nicht genügend ästhetisches Eigengewicht in die Wagschale wirft. Doch keinen Moment vermisst man in diesen zwei jeweils einstündigen Akten die zweiunddreißig anmutig in die Arabesque sinkenden Schwäne. Gebannt folgt man Chalmers Erzählung im zweiten, ganz in Schwarz getauchten Teil. Ein Maskenball findet statt, bei dem Petipas Nationaltänze in zeitgenössischer neoklassischer Manier getanzt werden, aber nur von Männern. Es ist Nacht geworden, und Chalmer zeigt Tschaikowskys heimlich gelebte Homosexualität in dieser dunklen Fantasie maskierter Männer. Die Welt hat eigentlich genügend sentimentale Künstler-Ballette abgesessen: "Verdi" von Patrice Bart, "Caravaggio" von Mauro Bigonzetti, Mozart- und Bernsteintänze von Heinz Spoerli und John Neumeier. Chalmer hat etwas ganz anderes geleistet: Er hat uns mitten hinein in Tschaikowskys Welt entführt.