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Neuerscheinungen über Stalin und den Stalinismus

Im Frühjahr 1924 findet man unweit des Kreml den Leichnam des aserbaidschanischen Kommunistenführers Nariman Narimanov .Er war in den Wochen nach Lenins legendärer Totenfeier als "Lenin des Orients" in Szene gesetzt worden. Nun wandert auch er in den Ikonenschrein des pseudoreligiösen stalinistischen Personenkults. Als Symbolfigur des sowjetischen "Internationalismus" wird er auf dem Roten Platz beigesetzt. Ein Jahr zuvor hatte Nariman Narimanov Stalins transkaukasischen Statthalter Ordzonikidze und dessen Genossen in einem Manifest als populistische Abenteurer, "Chauvinisten" und "Karrieristen" angeklagt.

Elke Suhr |
    Ich erkläre, dass die Staatsgewalt in Aserbaidschan noch vor einem Jahr von der allgemeinen Sympathie der aserbaidschanischen Massen getragen wurde, aber in der jetzigen Zeit wird die Staatsgewalt ausschließlich durch das Bajonett aufrechterhalten... Nach der Theorie Ordzonikidzes kann man die Bevölkerung des kleinen Aserbaidschan natürlich systematisch vernichten, aber woraus wird dann die Republik bestehen?

    Der Linksintellektuelle Nariman Narimanov verstand sich als "Kulturarbeiter" und "Übersetzer" des Bolschewismus in muslimische Denkweise. Marodierende Rotarmisten, mordende Tschekisten und machthungrige Apparatschiks weckten ihn aus seinem eigensinnigen Traum von einer Synthese zwischen Islam und Kommunismus.

    In seiner Studie "Der Feind steht überall - Stalinismus im Kaukasus" zitiert der Historiker Jörg Barberowski frühe bolschewistische Deklarationen der Religionsfreiheit und der "Rechte der Völker" in Sowjetrussland. Sie hätten Nariman Narimanov in die bolschewistische Partei gelockt, in der er die Avantgarde einer antikolonialen Befreiungsbewegung für den ganzen Orient sah. Von Lenin war er mit der Organisation einer muslimischen Sowjetrepublik Aserbaidschan betraut worden. Narimanov sollte die widerständigen muslimischen Lebenswelten erschließen und neu organisieren. Dabei ging es Lenin vorrangig um die Ölmetropole Baku, in der er eine unbedingt zu verteidigende Energiequelle seiner Heilsformel sah, dass Kommunismus = Elektrizität + Sowjetmacht sei. Öllieferungen an Moskau sollten der Preis für Aserbaidschans Souveränität sein. Tatsächlich wurde Baku zur Potemkinschen Proletarierkulisse, zur modernen Modellstadt für muslimische Arbeiter, deren Reallöhne freilich zusehends sanken.

    Jörg Baberowski beschreibt die Zwangskollektivierung der Landwirtschaft, das Eindringen städtischer Stoßtrupps in die muslimischen Dörfer als eine Art Massenvergewaltigung. Der "kulturrevolutionäre" Totalschlag der bolschewistischen Modernisierungsdiktatur brach sich indes an der Zählebigkeit tradierter muslimischer Werte und Sozialstrukturen. Blutsbande waren stärker als Parteidisziplin und Karrierismus; Liquidierungsquoten wurden unterlaufen, die Listen gefälscht. Zentrale Säuberungsbefehle gingen in lokalen Stammesfehden auf. Kolchosen mutierten zu neuen Bastionen der Clans. In ihrem Schutz behaupteten sich tradierte Produktionsformen und Schwarzhandel gegen die staatlich verordnete Baumwollmonokultur; informelle soziale Netze blieben erhalten. Paradoxerweise war es diese Resistenz der "Rückständigkeit", die Aserbaidschan 1933 vor den schlimmsten Folgen der großen Hungersnot bewahrte.

    Jörg Baberowski beschreibt den Karrierismus nachdrängender lokaler Eliten als Transmissionsriemen des "großen Terrors". So entsteht ein Mosaik der jüngsten Geschichte einer muslimischen "Terra incognita" an der Nahtstelle zwischen Orient und Okzident. Aserbeidschan tritt in dieser Studie aus dem Schatten der egalisierenden Sowjethistorie und einer westlichen Geschichtsschreibung, in der die Menschen nur als amorphe Opferherde vorkommen. Jörg Baberowski hat ihnen Gesichter gegeben und ihrer eigensinnigen Widerständigkeit gegen den bolschewistischen Modernisierungswahn Ausdruck verliehen.

    Allmählich werden Archive geöffnet, und das Bild der sowjetischen Geschichte wird wesentlich verändert. Dabei erscheint die Rolle Stalins in einem neuen Licht. Es ist nunmehr unbestritten, dass der Diktator selbst den Massenterror vorantrieb.

    So kündigt die Deutsche Verlagsanstalt ein ebenfalls in diesem Herbst erschienenes zweites Buch von Jörg Baberowski an: "Der rote Terror. Die Geschichte des Stalinismus". Es ist wohl als Quintessenz der Aserbaidschanstudie gedacht, geht ihren Konsequenzen aber aus dem Weg. Der alte Mythos vom allmächtigen Alleinherrscher und bösen Geist aus der Flasche des Totalitarismus drängt sich durch die Hintertür der unergründlichen russischen Archive wieder in den Vordergrund. Der Autor kann sich zwischen intentionalistischen, funktionalistischen und strukturalistischen Stalinismustheorien nicht entscheiden, und eine Verknüpfung will ihm auch nicht gelingen.
    Stalin gab dem Stalinismus nicht nur seinen Namen. Ohne ihn hätte es auch keinen Stalinismus gegeben, so wenig, wie das System des Nationalsozialismus ohne Hitler denkbar gewesen wäre. Das bolschewistische Projekt der Eindeutigkeit führte nicht zuletzt deshalb in den Massenterror, weil es dem Diktator gefiel, Menschen töten zu lassen. Ohne Stalins kriminelle Energie, seine archaischen Vorstellungen von Freundschaft, Treue und Verrat, seine Bösartigkeit, wären die Mordexzesse der dreißiger Jahre kaum möglich gewesen. Der Exzess war die Lebensform des Diktators. Jede Tötungsaktion wurde in dem Wissen vollbracht, dass sie dem Despoten im Kreml behagte. Nach der Öffnung der zentralen Archive besteht kein Zweifel mehr an der zentralen Urheberschaft des Terrors.

    Die sinnlose Wucht der Zwangskollektivierungen erklärt Barberowski mit der Verachtung Stalins und seiner kaukasischen Gefolgsmänner für das Milieu, dem sie selbst entstammten. Er charakterisiert sie als Selbst- und "Bauernhasser", die den rückständigen Typus Mensch, der ihre Kindheit überschattet hatte und den sie für nicht mehr "zivilisierbar" hielten, vernichten wollten. Allerdings folgte Stalin nur einer allgemeinen Tendenz. Trotzki, Sinowjew und das Gros der modernistischen europäischen Intelligenz von links bis rechts teilte die Ansicht, das "der Bauer" – mit den Worten Ernst Niekischs – aus dem modernen "Arbeiterstaat" zu "verschwinden" habe. Die "Vernichtung des Kulakentums als Klasse" lag für Heinrich Mann, André Gide, George Bernhard Shaw oder Ernst Jünger in der Natur des "Fortschritts". Das große Schweigen der Mehrheit der westlichen Intelligenz angesichts der Hungersnot von 1932/33 muss mitdenken, wer den Stalinismus erklären will. Dazu liefert Wladislaw Hedeler in seiner "Chronik der Moskauer Schauprozesse" Material. Er fügt jüngere russische Studien über das Fiasko der stalinistischen Fünfjahresplandiktatur mit Protokollen von Terrorexzessen und Politbürotagungen sowie mit Rechfertigungsberichten westlicher Beobachter zusammen. In seinem Kalendarium gründet der "große Terror" auf einen weit gefächerten Potemkinschen Effekt. Tatsächlich ging es zunächst schlicht um die Niederschlagung von Hungerrevolten und Bauernunruhen. Das Regime stand – wie im Vorfeld von Kronstadt - auf Messers Schneide.

    Es ging um mehr als nur um die Begleichung persönlicher Rechnungen, um mehr als die Befriedigung der Rachegelüste Stalins. In den Jahren des zweiten Fünfjahresplans (1933-1937) wurde Stalin immer deutlicher bewusst, dass die Fachleute im Wirtschaftsapparat an der Richtigkeit seines Kurses zweifelten...

    Wladislaw Hedeler rekonstruiert die Komplexität der Ursachen, die den Stalinismus letztlich bedingten. Er erklärt ihn als Reaktion auf den – totgeschwiegenen - Widerstand gegen das Massenelend, das sich im Zuge des bolschewistischen Modernisierungseifers eingestellt hatte. Robert Conquest hat in seiner Pionierarbeit auf die Konvergenz zwischen subjektiven und objektiven Faktoren des Terrors hingewiesen. Sein Kronzeuge Bucharin brachte diese wechselseitige Dynamik 1936 so zum Ausdruck.
    Stalin entfaltete in dieser Situation eine selbst bei ihm ungewöhnliche Energie und zwang alle, bis zur Erschöpfung zu arbeiten. Er begriff zweifellos, dass der Sommer 1933 die Entscheidung für ihn bringen musste. Würde die wirtschaftliche Lage nicht verbessert, so würde die Empörung gegen ihn diesen oder jenen Ausweg finden.

    Solche Zeitzeugenberichte gehen in "neue" Studien über den Stalinismus viel zu wenig ein. Aber ohne sie ist die Kernfrage nicht zu beantworten, die Steffen Dietzsch in seinem einleitenden Essay zu Wladislaw Hedelers Chronik stellt: warum denn die foltererprobten "Helden der Revolution" so kläglich vor dem Parteiapparat kapituliert hätten. Der Philosophieprofessor lässt einen "Altbolschewik" aus Aleksander Wats Autobiografie "Jenseits von Wahrheit und Lüge" sprechen.

    Wozu denn Folter? Wir alle hatten die Hände bis zum Ellbogen in der Scheiße und im Blut. Jeder von uns Helden der Revolution blickte auf eine so lange Liste von Verfall, Erniedrigung und Niedertracht zurück, dass uns eigentlich alles egal war.

    Der leninistische Ursprung des Stalinismus ist für Steffen Dietzsch der Ausgangspunkt seiner "Genealogie des Schreckens". Die "Altbolschewisten" seien nach und nach selbst Opfer ihrer eigenen "universalen Lüge" geworden, die sie mit permanenter Gewalt behaupteten. Er erinnert an Lenins fast vergessenen letzten öffentlichen Auftritt vor dem Sowjetkongress im November 1922, der sich im irren Gelächter eines verlassenen Zauberlehrlings erschöpfte.

    Elke Suhr über Jörg Baberowski, "Der Feind ist überall, Sozialismus im Kaukasus", DVA, München, 882 Seiten, 59,90 Euro. Vom selben Autor ist ebenfalls bei der dva erschienen: "Der rote Terror, Die Geschichte des Stalinismus", 287 Seiten, 24,90 Euro. Wladislaw Hedeler ist der Autor des Bandes "Chronik. Moskauer Schauprozesse 1936, 1937 und 1938, Planung Inszenierung und Wirkung", Akademie Verlag, Berlin, 695 Seiten, 69,80 Euro.