Donnerstag, 28. März 2024

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Neuerscheinungen zu islamistischem Terrorismus

Mehrere Neuerscheinungen beschäftigen sich mit dem Islam und islamistischem Terrorismus. Außerdem: Wie Gunter Hofmann die Politisierung Europas beschreibt und ein atheistischer Blick auf die Christen von Alfred Grosser.

09.01.2006
    Finanzstreit, Verfassungs- und Vertrauenskrise - das abgelaufene Jahr war für die Europäische Union ein annus horribilis. Und die Zukunft der Staatengemeinschaft scheint ungewiss: Die längst überfällige Debatte über die Grenzen, und damit die Identität Europas wird nicht geführt. Stattdessen rast die Union ungebremst von einer Erweiterungsrunde in die nächste. Ist die EU nicht schon längst an ihre Grenzen gestoßen - kulturell und institutionell? Den "langen Marsch" zur eigenen Identität zeichnet Gunter Hofmann in seinem Buch nach. Er analysiert die Krisen und Querelen der europäischen Staatenfamilie und ihr ambivalentes Verhältnis zu Amerika. "Familienbande. Die Politisierung Europas" - unser Rezensent ist Rainer Burchardt:

    Der etwas zweideutige Titel dieses Buches kommt sicher nicht von ungefähr. Dies umso mehr, als nun in der Tat das nicht nur durch die Osterweiterung in eine Identitätskrise hineingeschlitterte Europa nicht gerade den Eindruck einer friedlichen Familie macht. Gunter Hofmann, Autor der Wochenzeitung "Die Zeit" in Berlin, zuvor auch mehrere Jahrzehnte Bonner Korrespondent des Blattes, versucht insbesondere unter Heranziehung einer Fülle von Kollegen und Wissenschaftler-Zitaten so etwas wie eine politsoziale Strukturanalyse vorzulegen. Es ist erfrischend, dass Hofmann, entgegen sonstiger Gewohnheit von Europaanalytikern, auf ausschweifende Rückblicke zur Gründergeneration verzichtet hat. Vielmehr führt er den Leser mitten hinein in die gegenwärtigen Verwerfungen der europäischen Familie, die vor allem nach dem Zusammenbruch des Ostblocks entstanden sind.

    " Die Fragen, die über Europa hereingebrochen sind, sind dramatisch neu. Ein Wunder kann man es nicht nennen, dass 'wir Europäer’, die wir uns als Europäer ja gar nicht so richtig gesehen haben, uns überfordert fühlen. Solidarität ist gefordert, 'humanitäre Interventionen’ heißt diese neue Herausforderung. Die erfahrene Weltmacht Amerika zögerte, weil sie das für eine Aufgabe der Europäer hielt, handelte dann aber zunächst einmal stellvertretend für sie am Balkan; die Nato, die 1999 am Kosovo intervenierte, erwies sich de facto als eine amerikanische Einrichtung. Nur die USA verfügen über solche militärische Macht. Aber die Europäer lernten auch daraus. Als Amerika wünschte, dass die Europäer nun genauso Solidarität beweisen und im Irak einmarschieren, zögerte hingegen Europa. Krieg nur aus Solidarität mit dem Bündnispartner? Braucht der nicht auch Legitimität? Besteht da nicht ein gewaltiger Unterschied zur 'humanitären Intervention’ am Balkan? Eine hochpolitische Frage war zu beantworten, die die Europäische Staatengemeinschaft geradezu zerriss. Aber wieder lernte Europa. Es hat nicht 'versagt’, wie oft behauptet. Und es erweist sich als Glück, dass jemand Nein gesagt hat. "

    Fast wie ein Roter Faden zieht sich die über allem lastende Ungewissheit über das bislang ungeklärte Verhältnis der EU-Staaten zu den USA, natürlich verschärft durch die unterschiedlichen Haltungen der einzelnen Mitgliedsländer zum Irak-Krieg. Es ist ja unübersehbar, dass unter der Regierung Schröder die Deutschen wieder näher an Frankreich herangerückt sind und gleichzeitig es zumindest gravierende atmosphärische Störungen zu England gegeben hat. Innereuropäisch wurde diese Ambivalenz verstärkt durch den so genannten "Ergebenheitsbrief" acht europäischer Länder unter der Führung Polens und Spaniens in Richtung Bush-Administration. Von den USA wiederum wurde mit einer nicht zu übersehenden Häme dieser Keil noch weiter in die Union hineingetrieben, als Verteidigungsminister Rumsfeld die Formel vom "alten und neuen Europa" in die Debatte warf. Dazu Gunter Hofmann:

    " Das neue Europa erscheint 'entstaatlicht’. Es ist nicht nur groß, bunt und dissonant, es nimmt sich für viele auch fremder, aggressiver, bedrohlicher aus.
    Schwerer zu erkennen sind plötzlich die Vorteile, welche die EU zur Erfolgsgeschichte gemacht haben, Wohlstand, Stabilität, Freizügigkeit. Manchmal ist das nur ein Empfinden, oft aber auch real. Grenzenlosigkeit gilt häufig als Bedrohung (die Visa-Affäre Anfang 2005 in Berlin hätte sonst nicht diese Explosivkraft gehabt). Dass es 'keine Alternative’ gäbe, reicht unter diesen Umständen und bei der Seelenlage als Begründung schlicht nicht mehr aus. Das Versprechen eines 'funktionierenden Binnenmarktes’ kann nicht darüber hinwegtrösten, wenn Arbeitsplätze nach Brünn, Krakau, Budapest oder Vilnius abwandern. "

    In diesem Zusammenhang geht der Autor, wie ich finde, zurecht und gleichermaßen detailliert wie distanziert auf die Rolle Deutschlands ein, das jahrzehntelang gewissermaßen als Frontstaat zwischen Ost und West fungierte und nach der Einheit nicht nur geopolitisch eine zusätzliche zentrale Verantwortungsposition zugeteilt bekommen hat. Nicht zuletzt Angela Merkels großzügige und budgetbelastende Vermittlerrolle im aktuellen Haushaltsstreit hat gezeigt, dass Deutschland nach wie vor eine zentrale Position in EU-Europa besetzt. Dieses muss aber noch nicht bedeuten, dass es auf eine germanische Dominanz hinausläuft. Die Formel vom Europa der unterschiedlichen Geschwindigkeiten ist allerdings auch noch nicht vom Tisch. Und es gibt nicht wenige auch verantwortliche Politiker, die eine Rückbesinnung auf das so genannte Kerneuropa fordern. Hofmann analysiert:

    " Ein deutsches Europa? An nationalen Tönen hat es nicht gefehlt. Schon Helmut Kohl wurde das nachgesagt, Gerhard Schröder erst recht. Keine 'Krise’ aber hat es bisher vermocht, an der europäischen Grundhaltung der Deutschen etwas zu ändern. Viel spricht dafür, dass das so bleibt, trotz des Debakels mit der Verfassung. Aber schon die ersten Schritte einiger Populisten unter den christdemokratischen Politikern nach dem Referendum ließen erkennen, dass künftig in Deutschland dieselben Sehnsüchte nach "Nation" und 'Europe go home’ bedient werden wie bei anderen europäischen Nachbarn auch. Mit einem Mal war die Zeit der Scham vorbei. "

    Gleichwohl warnt auch Hofmann gewissermaßen vor zu viel europäischem Übermut, denn schon in seiner Einleitung sagt er, sicher könne nicht von Amerika abhängen, was Europa sei, aber ohne Amerika lasse sich Europa nicht verstehen. In diesem Zusammenhang greift er auch die leider viel zu früh abgebrochene Amerika-USA-Debatte transatlantischer Intellektueller unter Führung des deutschen Philosophen Habermas und dessen französischen Kollegen Derrida auf. Ausgehend von dem so genannten Spalterbrief der Acht wird hier sehr engagiert die Frage eines stärkeren europäischen Selbstbewusstseins mit der Konsequenz der Lockerung bzw. Auflösung der transatlantischen Bindungen aufgeworfen. Schon vor 20 Jahren gab es bei den europäischen Sozialdemokraten die so genannte Selbstbehauptungsdebatte über mehr Unabhängigkeit. Hofmann legt überzeugend dar, dass bei allem Verständnis für mehr Autonomie dies auch ein Spiel mit dem Feuer werden könne, denn nicht zuletzt auch zunehmende Divergenzen in der EU sorgten eher für deren Schwächung und verstärkten eine latente Abhängigkeit sowohl auf wirtschafts- als auch auf sicherheitspolitischem Gebiet von den USA.

    " Wer hatte das transatlantische Bündnis auseinanderdividiert? In Amerika hieß es: Frankreich. Die Deutschen hätten gezündelt, aber die Franzosen hätten das Feuer gelegt. In Frankreich und Deutschland hieß es: die USA. Angebahnt hatte sich bereits nach 1989 eine Erosion im Verhältnis zwischen Amerika und Europa. So besehen, war der Irak-Konflikt indirekt immer auch ein Streit um Europa und die amerikanische Führungsrolle. Darüber aber konnten naturgemäß Intellektuelle offener sprechen als Politiker. "

    Nicht zuletzt auch die Türkeifrage ist nach wie vor eine europapolitische Zeitbombe. Hier in der Tat stellt sich auch die Frage nach einer multikulturellen Zukunft der EU. Ja, mehr noch: Hofmann hat Recht, wenn er sagt, damit werde das bislang kulturell homogene Westeuropa existenziell in Frage gestellt. Wenn die Osterweiterung der Auftakt zur Politisierung Europas gewesen sei, so würde der Beitritt der Türkei das multiethnische Europa besiegeln. Die ablehnenden Referenden in Frankreich und Holland zur EU-Verfassung seien auch ein Beleg dafür, dass es keine Zustimmung für diese Entwicklung gebe.

    " Die Vorstellung eines multiethnischen, multireligiösen Europa wird darum nicht falsch, weil es in Referenden Vorbehalte gab (gegen was genau, gegen den Islam, gegen die Türkei?), und man kann daraus auch nicht schlicht folgern, in den Augen der Europäer gehöre die Türkei nicht zu Europa. Wenn die Türkei sich als europäisch oder stark europäisch sieht und wenn die Politik das befördert, kann kein Plebiszit an dieser Sichtweise etwas ändern. Ob die Türkei zu Europa gehört, ist eine Sache der Türkei - so wie es eine politische Entscheidung des Clubs Europa ist, wem er den Status gewährt, welchen türkischen Nationalismus er im Zweifel einem Beitritt vorziehen würde und wie er sich ein Arrangement mit den Nachbarn denkt, die ja weiterhin Nachbarn bleiben. "

    Nicht zuletzt dieses Beispiel zeigt, wie tiefgreifend die augenblickliche Identitätskrise in EU-Europa ist. Dazu gehört natürlich auch die Frage einer allumfassenden Erweiterung, die dann auch Länder wie Russland und die Ukraine mit einbeziehen müsste. Hofmanns Buch ist so gesehen ein wertvolles Kompendium für die aktuellen Fragestellungen der EU in der nächsten Dekade. Schon jetzt ist ja nicht zu übersehen, dass die EU mit ihren 25 und demnächst 27 Mitgliedsstaaten an den Grenzen ihrer Handlungsfähigkeit nach den alten Schemata angelangt ist. Übergreifend und über alle internen Problemstellungen hinaus muss Europa in der Tat gerade in diesen Zeiten der Globalisierung seinen politisch strategischen Standort neu bestimmen.

    Rainer Burchardt besprach: Gunter Hofmann: Familienbande. Die Politisierung Europas. Erschienen ist es im Verlag Antje Kunstmann. 268 Seiten kosten 19,90 Euro.

    Die Islamwissenschaft galt lange Zeit als brotlose Kunst, als Orchideenfach: Da befasste man sich mit abstruser alt-arabischer Lyrik oder vielleicht mit der mittelalterlichen Marktordnung in Damaskus. Eine Überzeichnung sicherlich. Doch die populärwissenschaftlichen Bücher über den Islam ließen sich tatsächlich lange an den Fingern einer Hand abzählen. Mit dem 11. September 2001 nahm die idyllische Abgeschiedenheit allerdings ein jähes Ende. Der Koran wurde in Deutschland zum Bestseller. Und noch immer ist das Bedürfnis, den Islam und die von ihm geprägten Länder besser zu verstehen, ungebrochen. Jetzt hat die Berliner Islamwissenschaftlerin Gudrun Krämer den Versuch unternommen, auf gut 300 Seiten die Geschichte des Islam zusammenzufassen. Marc Thörner hat das Buch für uns gelesen:


    Angesichts der Krisen, Kriege und Konflikte, die sich seit Jahren immer wieder in der islamischen Welt abspielen, sollte eine Geschichte des Islam eigentlich zur Standardausstattung jeder Buchhandlung gehören. Wer auf der Suche nach fundierten Hintergrundinformationen durch die Geschäfte streift, dürfte allerdings bald bemerken, was auch die Islamwissenschaftlerin Gudrun Krämer festgestellt hat:

    " Es gibt gar nicht so viele Geschichten des Islam. Es gibt Geschichten, die sich mit dem Koran und dem Islam als Religion beschäftigen, aber ohne historische Perspektive. Ich wollte gerne eine Geschichte schreiben, die, genau gesagt, heißen müsste: 'Geschichte islamisch geprägter Gesellschaften’. Aber das klingt ein bisschen schwerfällig. Und da haben wir uns zu diesem Kurztitel entschlossen, also, eine Geschichte von Gesellschaften, die in der einen oder anderen Weise durch Islam geprägt sind - und diese eine oder andere Weise ist das Interessante, die Vielfalt, der Reichtum islamischer Gesellschaften über die Geschichte, also vom siebten Jahrhundert bis in die Gegenwart. "

    Eine "Beziehungsgeschichte" zu schreiben, eine Chronik des Austausches mit anderen Kulturen - das hat sich Gudrun Krämer vorgenommen, denn der Islam ist aus ihrer Sicht kein statisches Phänomen:

    " Der Austausch hat überhaupt erst das hervorgebracht, was zu bestimmten Zeiten an bestimmten Orten unter Islam verstanden wurde. Das kann zugleich die Vielfalt und Wandelbarkeit islamischer Ideen und Lebenswelten beleuchten, die eben nicht geradlinig aus Koran, Sunna oder gar der beduinischen Kultur der Arabischen Halbinsel erwachsen sind. 'Islam’ ist in diesem Sinne eine Bezugsgröße, keine Zwangsjacke. "

    Die erste vieler Lebenswelten, in die Krämer uns einführt, ist die der arabischen Halbinsel im siebten Jahrhundert - gelegen zwischen dem christlichen Großreich von Byzanz und dem Persien der Sassaniden. Dort leben Menschen, die sich gesellschaftlich vor allem durch ihre Zugehörigkeit zu Stämmen definieren.

    Diese Stammestraditionen, das wird in Gudrun Krämers Perspektive deutlich, brechen mit Mohammed und dem Islam keineswegs ab. Nach dem Tode des Propheten machen sich die alten Familien die neue Religion zu eigen. Mit ihrer Hilfe wollen sie ihre Macht auf neue Stämme und neue Regionen auszuweiten. Und auf dieser Grundlage entwickelt sich die islamische Theologie. Dass Stammesstrukturen sich weiterhin behaupten, bedeutet aber nicht, so Gudrun Krämer, dass die Araber ausschließlich nomadisch geprägt gewesen wären.

    " Das Interessante ist, dass die islamische Gesellschaft von Anfang an geprägt gewesen ist durch ein Nebeneinander und Miteinander von Städtern und Beduinen - und auch Bauern. Es war teilweise eine, schon auf der arabischen Halbinsel, städtisch geprägte Kultur, so dass die Vorstellung falsch ist, wir hätten es nur mit Beduinen zu tun, nur mit Nomaden, die dann zum ersten Mal in Syrien und Palästina, Irak und Iran mit sesshaften Kulturen in Berührung gekommen wären. Zum Teil waren das selber schon sesshafte Stadtbewohner. Mohammed war Stadtbewohner, kein Beduine, so dass wir den Übergang zu einem städtischen Leben schon vor der intensiven Begegnung mit Iran verzeichnen können. Und das Interessante ist, dass Muslime sehr früh ihrerseits als Städtebauer auftraten. "

    Das Bild vom tumben Nomaden, der erst durch den Kontakt mit bestehenden Kulturen zivilisiert wird, lässt sich also bei genauer Betrachtung nicht aufrechterhalten:

    " Die islamische Kultur war - anders als die nicht auszurottende Vorstellung vom beduinischen Charakter des frühen Islam eine städtische Kultur, getragen von höfischen Kreisen und den Angehörigen einer gebildeten urbanen Schicht, die, aus unterschiedlichen religiös-kulturellen Millieus stammend, ihren Beitrag zu einer spezifisch islamischen Wissenschaft, Kunst und Literatur leisteten. "

    Geschult an der Dialektik theologischer Debatten, weiten muslimische Gelehrte ihre Kenntnisse auf verschiedene Wissenschaftsgebiete aus. Medizin, Astronomie, Chemie und Mathematik erleben eine Blüte. Zugleich wandelt sich der Islam von einer Stammes- zu einer Staats- und Reichsreligion.

    Eine neue Lebenswelt entsteht. Vorbei die Schlichtheit, passé die Demut der frühen Kalifen, der ersten Statthalter des Propheten. Im Kontakt mit der persischen Hochkultur, so Gudrun Krämer, tauchen andere Vorbilder auf:

    " Deutlich trat der Einfluss der persischen Tradition des Großkönigtums hervor. Das ließ sich mit den Lehren des Islam nicht leicht in Einklang bringen, die im Grundsatz auf die Gleichheit aller Muslime abheben (...) Doch orientierte sich die Gesellschaft auch in abbasidischer Zeit nicht ausschließlich am Koran. "

    Noch viele andere Lebenswelten schildert Gudrun Krämer. Sie tut das auf ebenso dichte wie eindringliche Art: bunt, zahlen- und faktenreich. So beschreibt sie den Mongolensturm als ambivalentes historisches Ereignis. - Schließlich bedeutet er für die arabischen Gesellschaften auch eine Horizonterweiterung Richtung Zentralasien. Wir blicken auf die fruchtbare und zugleich von Kreuzzügen geprägten Wechselbeziehung von "Christen und Muslimen am Mittelmeer", verfolgen den Aufstieg des Osmanenreiches, die koloniale Expansion Europas und werden am Ende zu Zeugen einer islamischen Rückbesinnung. Ein buntes Kaleidoskop. Doch in der Buntheit liegt auch ein Problem. Geschichtswerke sind ja nie ausschließlich in die Vergangenheit gerichtet. Sie blicken zwar zurück, doch tun sie das zwangsläufig vor dem Hintergrund der Aktualität. Nicht wenige Leser dürften sich das Buch also auch deshalb kaufen, um die historischen Wurzeln aktueller Krisen besser zu verstehen. Wie kommt es, dass eine Religion, die einst für einen breiten theologischen und gesellschaftlichen Diskurs stand, für Wissenschaftlichkeit, für Toleranz, dass diese Religion und die von ihr geprägten Gesellschaften plötzlich stagnierten? Wie lässt sich begreifen, dass die islamische Tradition heute für viele Muslime zu einem bloßen Werkzeugkasten geworden ist, um die Gewalt gegen den jeweiligen politischen Gegner zu rechtfertigen?

    " Ich hab keine Patentantwort. Und das Buch ist auch nicht in erster Linie geschrieben, um nun die Frage zu beantworten, die ja häufig gestellt wird: 'Warum ist der Islam zurückgeblieben?’ - Die Idee war eher, auf die Vielfalt und den Reichtum islamischer Kulturen hinzuweisen und dabei auch Themen wie Säkularisierung, Ausprägungen islamischen Rationalismus und dergleichen anzusprechen. Dass er sich nicht als beherrschendes Denken durchgesetzt hat - vom 12., 13. Jahrhundert an -, hängt tatsächlich mit vielen Faktoren zusammen. Und wie immer würde ich eher fragen, warum er in Europa zu einer bestimmten Zeit vorherrschend wurde, als zu fragen, warum er sich anderswo nicht zur selben Zeit durchgesetzt hat, denn diese Frage müsste man auch an China oder an Japan stellen. "

    So mancher Leser dürfte sich dennoch mehr Einordnung und Interpretation wünschen, und es wäre zudem hochinteressant gewesen, auch jene "Lebenswelten" zu beleuchten, die zwar schon Geschichte sind, aber nicht jahrhundertealt und weiterhin von aktueller Bedeutung: das US-Protektorat über Saudi Arabien etwa oder die Renaissance kolonialer Tendenzen.

    " Die iranische Revolution selbstverständlich ist Teil des Buches - der Islamismus, der Fundamentalismus auch. Aber darüber hinaus ging es nicht darum, nun einzelne Kriege oder Konfliktherde aufzulisten. Es heißt 'Geschichte des Islam’, nicht 'Auseinandersetzung mit den Gegenwartsproblemen’. Dazu gibt es exzellente Literatur, eine Vielzahl von Analysen, die man in so einem Buch nicht nochmals aufgreifen muss. "

    Interpretation, die man gelegentlich im Text vermisst, leisten oft die Bilder. Sie sind überaus geschickt gewählt, beschreiben, bringen Zusammenhänge immer wieder auf den Punkt: Ein persischer Schah des 19. Jahrhunderts, der sich bei der Morgentoilette von einem europäischen Friseur modernisieren lässt, der afghanische Hofstaat Anfang des 20. Jahrhunderts, gekleidet in Pariser Mode, oder der letzte König des Irak, Faisal II., auf einem viel zu großen Thron.

    Wer Gudrun Krämers Abhandlung mit Gewinn lesen möchte, der sollte das nicht in der Erwartung tun, Antworten auf die großen Fragen der Geschichte zu erhalten.

    Der Reiz dieses akribisch recherchierten Buches liegt vielleicht gerade darin, dass es dem Leser Einblicke in eine Vielfalt von Lebenswelten bietet und ihm dabei die Freiheit lässt, selbst zu interpretieren.

    Eine Rezension von Marc Thörner war das. Er besprach: Gudrun Krämer: Geschichte des Islam. Erschienen ist das Buch bei C.H. Beck in München. 334 Seiten zum Preis von 24,90 Euro.

    Etwas konkreter als Gudrun Krämer in ihrer Geschichte des Islam gehen zwei Neuerscheinungen aufs aktuelle politische Geschehen ein, mit denen wir uns jetzt befassen wollen. Mehr als vier Jahre sind seit dem 11. September 2001 vergangen, und der von George Bush erklärte "Krieg gegen den Terror" ist noch lange nicht gewonnen. Im Gegenteil: Überall und immer näher scheinen militante Islamisten zuzuschlagen - der Schrecken von London ist noch in frischer Erinnerung. Wie ist es also heute um al-Qaida und ihre Anhänger bestellt? Zwei Autoren versuchen in neuen Büchern, Antworten auf diese Fragen zu finden, der ZDF-Journalist Elmar Theveßen und der Islamwissenschaftler Guido Steinberg. Yassin Musharbash, Islamwissenschaftler, Al-Kaida-Experte und Redakteur bei Spiegel Online ist unser Rezensent:


    " Der Friede sei mit Euch und Gottes Segen. Die 'Stimme des Kalifats’ begrüßt die islamische Gemeinschaft insgesamt und die Mudschahidin im besonderen im gesegneten Monat Ramadan. "

    Mit diesen freundlichen Worten beginnt eine von Islamisten produzierte Fernsehsendung, die seit einiger Zeit im Internet zum Herunterladen bereitgehalten wird. Die "Stimme des Kalifats" ist das Produkt von Sympathisanten des Terrornetzwerks al-Qaida. Dahinter steht der Versuch, alle Nachrichten aus der Welt des Dschihad und des Terrors, von Afghanistan bis in den Irak, in wöchentlich 20 Minuten zusammenzufassen - um noch mehr Anhänger zu rekrutieren.

    " Der islamistische Terrorismus bewegt sich in einem komplizierten Spannungsfeld zwischen regionaler Verankerung und globaler Orientierung. "

    ...so die zentrale These des Islamwissenschaftlers Guido Steinberg. Sein Buch heißt: "Der nahe und der ferne Feind - die Netzwerke des islamistischen Terrorismus". Der "nahe" und der "ferne Feind" - wie ein roter Faden zieht sich dieses Begriffspaar durch das Buch des Autors, der nach dem 11. September zunächst als Referent für internationalen Terrorismus im Kanzleramt arbeitete und heute als Irakexperte bei der Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik. Der Islamwissenschaftler greift damit eine unter Islamisten seit Jahrzehnten schwelende Diskussion auf: Soll man zunächst gegen die eigenen, unislamischen Regime kämpfen, also gegen den "nahen Feind"? Oder soll man gegen den großen, fernen Feind, die USA, in die Schlacht ziehen? - Dadurch, dass Steinberg sich konsequent an dem orientiert, was Terroristen selber sagen, gelingen ihm neue, frische, unverbrauchte Einblicke.

    " Es gibt - wenn überhaupt - nur wenige Terroristen, denen es allein um den Kampf gegen den Westen und eine islamistische Weltherrschaft geht und die jegliche Beziehung zu ihrem Heimatland verloren haben. "

    Seit dem 11. September 2001, so Steinberg, erleben wir ein Phänomen, das er sinnfällig als "al-Qaida kommt nach Haus" beschreibt: al-Qaida-Kämpfer, die bis zum Beginn des US-Krieges in Afghanistan waren, haben sich seitdem auf den Rückweg in ihre Heimatländer gemacht - und sind dort aktiv geworden. Während in der westlichen Welt die Vorstellung herrscht, die Kette New York - Madrid - London bedeute, dass al-Qaida immer mehr den Westen ins Visier nimmt, schreibt Steinberg dagegen denkbar nüchtern:

    " Das wichtigste Schlachtfeld der islamistischen Militanten ist seit 2003 der Irak geworden. Mit dem Irak-Krieg ist der islamistische Terrorismus zunächst einmal wieder in diejenige Region zurückgekehrt, aus der er stammt, und die Länder des arabischen Ostens sind erneut die wichtigsten Aktionsgebiete geworden. "

    Der Autor schreibt über seinen eigenen Anspruch, er habe eine islam- und regionalwissenschaftliche Einordnung verfassen wollen. Das ist ihm gelungen - wenn auch um den geringen Preis, dass der Leser sich mit einer ungeheuren Detailfülle konfrontiert sieht und das Buch sicher nicht zum Nebenbeilesen geeignet ist. Umso besser, dass Steinberg die großen Leitideen nicht aus den Augen verliert. Der Leser wird für sein Interesse belohnt mit Einschätzungen, die auch einmal gegen den Strich gehen. So etwa, dass Steinberg al-Qaida nur für die Zeit zwischen 1996 und 2001 überhaupt als transnationale Organisation gelten lässt.

    " al-Qaida ist eher die Summe vieler nationaler Gruppierungen, die sich in einer gemeinsamen Organisation die verbesserten terroristischen Arbeitsbedingungen der globalisierten Welt zunutze machen, um sowohl global als auch lokal zu agieren. (...) Die große Zahl von Sympathisanten, die al-Qaida und auch die
    Zarqawi-Gruppe in der arabischen Welt haben, ist ein Hinweis darauf, dass die Forderungen Bin Ladens, Zawahiris und Zarqawis die Stimmung der dortigen Bevölkerung widerspiegeln und gleichzeitig geschickt manipulieren. "

    So lautet Guido Steinbergs Fazit über den Zustand von al-Qaida heute, vier Jahre nach dem 11. September. Steinbergs Stärke sind die nüchterne Analyse und der fachkompetente Blick, etwa wenn er theologische Debatten innerhalb des Terrornetzwerks nachzeichnet oder den irakischen Terrorpaten Abu Musab al-Sarqawi portraitiert - und dabei deutlich macht, dass der eben nicht bloß ein Irrer ist, sondern ein brutaler Militanter mit einer durchdachten Strategie. Mit "Der nahe und der ferne Feind" hat er eine so überzeugende wie detailversessene Studie vorgelegt, ein Nachschlagewerk des islamistischen Terrorismus seit seinen Kindertagen Mitte des 20. Jahrhunderts, mit exzellenten Analysen von al-Qaida-Dokumenten, die sich jenseits eingefahrener Pfade und blinder Panikmache bewegen.

    Gewehrschüsse, Explosionen, Tote und Verwundete... Dieser Auszug stammt aus einem Video, das eine im Irak aktive Terrorgruppe vor wenigen Wochen im Internet veröffentlichte. Es ist eines jener Dokumente, die den Schrecken des Terrorismus bis aufs Letzte ausreizen, indem sie ihn - in tausendfacher Kopie - rund um den Globus spürbar werden lassen. Der Terror ist eine Gefahr, aber nicht nur im Irak, sondern auch hier, in unserer unmittelbaren Umgebung.

    Es ist diese bedrohliche Seite, die den ZDF-Terrorexperten Elmar Theveßen in seinem Buch vor allen Dingen beschäftigt. Es heißt deshalb auch nicht zufällig "Terroralarm. Deutschland und die islamistische Gefahr".

    " Für die potenziellen Täter gibt es kein einheitliches Profil. Sie können arm oder als Kinder von Millionären geboren sein, kleinkriminell oder in einer stabilen wirtschaftlichen Lage sein - gemeinsam ist ihnen, dass die auf der Suche nach dem Sinn und nach einem Halt in ihrem Leben sind und dass sie all dies im Koran zu finden glauben. An diesem Punkt ist der fruchtbare Boden bereitet, es fehlt nur noch einer, der den Weg weist, um die Theorie in die Praxis umzusetzen. Dabei scheint Glaubwürdigkeit in Wort und Tat der Magnet zu sein, der junge Männer in den Dschihad zieht. Es bedarf keiner Gehirnwäsche, wie manche fälschlicherweise vermuten. "

    Der Täter kann an jeder Ecke lauern, die Zahl potenzieller Attentäter wird für viel zu gering gehalten - das ist die Gedankenwelt, in die man eintaucht, wenn man Theveßens Buch liest. Ist Deutschland ausreichend vorbereitet, fragt der Autor - und antwortet mit einem ziemlich deutlichen "Nein".

    Theveßens Buch ist gewissermaßen der Gegenentwurf zu Steinbergs Arbeit. Den ZDF-Mann interessieren theologische Diskussionen von al-Qaida & Co. nicht, und die historische Einordnung des Terrors spielt nur am Rande eine Rolle. Elmar Theveßen spürt vor allem der Frage nach, wieso Menschen im Hier und Jetzt, in Europa gar, zu Attentätern werden können. Über die Folgen der im Internet und anderswo längst allgegenwärtigen Propaganda militanter Islamisten schreibt er etwa:

    " Welche Wirkung haben solche Worte auf junge Muslime hier in Deutschland, etwa auf einen marokkanischen Jugendlichen, der keine Lehrstelle findet, dessen Eltern sich wenig um ihn kümmern, der auf der Straße herumlungert und zum Beispiel wegen Schlägereien und Diebstählen mit dem Gesetz in Konflikt geraten ist? Im Internetcafe verfolgt er die Weltereignisse, sieht, dass Menschen sterben, darunter auch viele muslimische Kinder. Überall werden Konflikte mit Waffen ausgetragen, und oft siegt nicht der Gerechte, sondern eher der Stärkere. Vielleicht hat ihm auch schon jemand erklärt, wie der Islam seinem Leben einen Sinn geben kann und dass sein Einsatz einen Wert hat für die Umma, die islamische Gemeinschaft, während er sonst von allen Seiten das Gefühl bekommt, dass sein Leben nichts wert sei, dass er als Ausländer unter Verdacht steht, potenzieller Terrorist zu sein. Er hat den Koran gelesen. Und jetzt bekommt er ein Papier in die Hand, das ihm erklärt, was die Suren in der heutigen Zeit zu bedeuten haben. "

    Wenn Steinbergs Position die eines wissenschaftlich-neutralen Analytikers ist, versucht Theveßen gar nicht erst, etwas anderes zu sein als der neugierige Journalist, der er ist. Immer wieder lockern Reportage-Szenen, etwa aus Casablanca oder Madrid, sein Buch gelungen auf. Man begleitet den Autor gewissermaßen auf der Suche nach Antworten, zum Beispiel, wenn der sich von Moscheepredigern das Konzept des Dschihad erklären lässt und auf so verblüffend einfache wie verstörende Antworten trifft.

    " Der Tee dampft in einer silbernen Kanne auf einem silbernen Tablett. (...) Uns gegenüber sitzt ein kleiner Mann im grauen Strickpullover. (...) Es ist gemütlich, wir kommen ins Plaudern mit Abdelkhalak el-Khamouni, dem Vorsteher der marokkanischen Gemeinde von Madrid. 'Ich kenne Bin Laden nicht', sagt er. 'Ich kenne ihn nur aus dem Fernsehen. (...) Aber wenn er wirklich hinter diesen Taten stehen sollte, dann ist das nicht der richtige Weg. Weil wir nicht die Konflikte in Europa austragen dürfen’. "

    Hier zeigt sich Theveßen als jemand, der durchaus die richtigen Fragen stellt. Was Theveßen allerdings nicht immer gelingt, ist die saubere Trennung zwischen Islam, Islamismus und militantem Dschihadismus - zu fließend stellt er die Grenzen zwischen strengem Glauben und Militanz dar. Und nachgerade ärgerlich sind Passagen, denen zu Folge die Scharia das "fundamentalislamische Recht" oder das Kalifat schon im Koran verlangt sein soll. Das sind fachliche Fehler, die offenbar auch im Lektorat nicht aufgefallen sind.

    Trotzdem hat Theveßens Buch Stärken. Im zweiten Teil etwa, "Dschihad in Deutschland", spielt der ZDF-Journalist ein Szenario für eine Welle koordinierter Terroranschläge während der
    Fußball-WM 2006 in Deutschland durch.

    " Der 13. Juni 2006 ist ein ganz normaler Dienstag. Vor einem Einkaufszentrum in Nordrhein-Westfalen stehen an diesem Morgen wieder einmal Dutzende von Omnibussen... "

    So beginnt dieses Szenario - und dass sich in besagtem Einkaufszentrum islamistische Terroristen in die Luft sprengen, ist erst der Anfang dieser Horrorvision, die sehr anschaulich macht, was im schlimmsten Fall möglich ist. - Parallel nämlich vergiften in Theveßens Szenario Komplizen der Terroristen auch noch die Fußballmannschaft eines Landes, das am Irakkrieg teilgenommen hat. Und damit nicht genug: Islamistische Hacker greifen kurz darauf die Rechner der Telekom an, und bei der anschließenden Krisensitzung in der Konzernzentrale rast ein mit Sprengstoff beladener Laster in das Gebäude - während zur gleichen Zeit drei europäische Großflughäfen von al-Qaida radioaktiv verseucht werden. - "So weit das Szenario", schreibt Theveßen nach dieser apokalyptischen Phantasie - um dann nachzulegen:

    " Es wird in dieser extremen Form wahrscheinlich nie stattfinden. Jedes einzelne Element aber stimmt mit Erkenntnissen überein, die Sicherheitsbehörden quer durch Europa in den letzten Jahren gesammelt haben. "

    Wem nach der Lektüre dieses Buches noch nicht klar ist, was Terroristen wirklich vorhaben und wie einfach ihre Pläne umzusetzen sind, dem ist nicht mehr zu helfen. Theveßen will wachrütteln und versucht zugleich, keine Panik zu schüren. Darum rundet er sein Buch mit Ratschlägen ab. Er behandelt die Schwächen des Rechtsstaats im Umgang mit dem Terrorismus ebenso tabulos wie die Gefahren sich etablierender Parallelgesellschaften und die Fehler in der Kommunikation von Politikern. - Theveßen kommt so das Verdienst zu, den Finger in die Wunden zu legen. Steinberg dagegen lässt den Blick eher in Richtungen schweifen, die dem normalen Zeitungsleser verborgen bleiben. Zwei neue und lesenswerte Bücher zum Thema al-Qaida vier Jahre nach dem 11. September 2001.

    Yassin Musharbash besprach folgende Titel: Guido Steinberg: Der nahe und der ferne Feind. Die Netzwerke des islamistischen Terrorismus. Verlag C.H. Beck. 281 Seiten kosten 19,90 Euro. Und der zweite Titel: Elmar Theveßen: Terroralarm. Deutschland und die islamistische Bedrohung. Erschienen im Rowohlt Verlag Berlin. 224 Seiten für 14,90 Euro.

    "Ich bin zu alt, um etwas zu tadeln, doch immer jung genug, etwas zu tun." - In diesen Zeilen hat Goethe sein Idealbild des alternden Gelehrten gezeichnet. Milde werden, ohne Neugier und Tatkraft zu verlieren. Philosophen, Schriftsteller, Wissenschaftler wenden sich im Alter häufig noch einmal ganz neuen Themen und Lebensfragen zu. So äußert sich nun auch ein Grandseigneur der Politologie zu einem Thema, mit dem er die Grenzen seines Fachgebietes überschreitet. Kurz vor seinem 80. Geburtstag im Februar präsentiert Alfred Grosser der deutschen Öffentlichkeit sein Verhältnis zur Religion. Eine aufschlussreiche Lektüre - auch dank Grossers biographischem Hintergrund. 1925 wurde er als Sohn jüdischer Eltern in Frankfurt am Main geboren. Seine Familie wanderte nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten nach Frankreich aus. 1937 wurde er französischer Staatsbürger. Berühmt wurde Grosser als Professor für Politikwissenschaft am Institut d’Etudes Politiques in Paris und als Analytiker der deutsch-französischen Beziehungen nach dem Zweiten Weltkrieg. "Die Früchte ihres Baumes. Ein atheistischer Blick auf die Christen" heißt sein neues Buch. Sebastian Engelbrecht hat es gelesen:


    Alfred Grossers Buch ist das Bekenntnis eines Unbestechlichen. Warum unbestechlich? - Weil Grosser Sympathien zu allerlei weltanschaulichen Grundeinstellungen hegt: zum Judentum, weil er jüdischer Herkunft ist, zum Atheismus, weil ihm die Irrationalität des Glaubens verschlossen geblieben ist und nicht zuletzt zum Katholizismus, weil seine Frau, wie er nicht müde wird zu betonen, als bewusste Katholikin lebt.

    " Ich wurde einmal definiert von einem deutschen Journalisten, und ich akzeptiere völlig die Definition als jüdisch geborener, mit dem Christentum geistig verbundener Atheist. Und Jude bin ich nur, wenn es Antisemitismus gibt oder wenn es gilt, gegen andere Juden zu kämpfen, die sich nicht um das Leiden der Palästinenser kümmern wollen. "

    In seiner Kritik des Christentums lässt der Jude Grosser den Blick auf seine eigenen Ursprünge nicht aus und zeigt auch hier die ihm eigene Unbestechlichkeit. Verpflichtet fühlt er sich allein humanistischen Werten und einer Ethik der Nächstenliebe, dem vernunftgemäßen Filtrat der Religion. Jede selbstverliebte Hervorheben der eigenen Bedeutung, sei es der Christen, sei es der Juden, lehnt Grosser ab.

    " Ich bin jedes mal zumindest bedrückt, wenn die Einmaligkeit der Shoah dafür herhalten muss, das jüdische Leiden als etwas darzustellen, was anderen überlegen ist. Oder, noch schlimmer ist es, wenn der Status als Opfer erblich wird, mit der falschen Idee im Hinterkopf, dass die Tatsache, Opfer oder Nachkomme eines Opfers zu sein, einen Menschen oder eine Gemeinschaft daran hindern könnte, ihrerseits selbst zum Henker zu werden. "

    "Die Früchte ihres Baumes" heißt Grossers Buch. Der Titel klingt etwas kryptisch, die Absicht aber ist nur zu deutlich: Jeden religiösen Menschen misst Grosser an den Früchten seines Glaubens, an seinen Taten. Das ist der - durchaus urjüdische - Maßstab, den Grosser an Juden wie Christen anlegt.

    Er lässt es sich nicht nehmen, die atheistische Ablehnung der Religion noch einmal zu formulieren - so als sei das nicht alles längst schon formuliert worden, als hätte es die Religionskritik der Aufklärung und des 19. Jahrhunderts nicht gegeben. Der Humanist Grosser erneuert die allergrundsätzlichste Religionskritik bewusst zu Beginn des 21. Jahrhunderts - in einer Zeit, in der in den Herzen der Europäer wieder viel mehr Platz ist für das Übersinnliche oder zumindest für die Idee von einem Gott.

    " Für mich schließen sich die Exegeten in den gleichen logischen Kreis ein wie die übrigen Christen. Die in der Bibel verkündete Existenz des Geistes ist die Grundlage für die Auslegung ihres Inhalts. Mit anderen Worten, man akzeptiert die Schriften als wahr, weil in ihnen die Wahrheit gesagt ist, und man weiß, dass die Wahrheit gesagt ist, weil die Schriften wahr sind. Ist es anstößig, hierin einen Verstoß gegen die Logik zu sehen? "

    Alfred Grosser umgibt seine - immer wohlwollend, nie destruktiv formulierte - Religionskritik mit der ganzen europäischen Literatur- und Geistesgeschichte. Er zitiert unablässig aus Drama und Roman, Liturgie und Gebet, Zeitungen und Enzykliken. Den roten Faden durch diese bildungsgetränkte Auseinandersetzung mit der Religion bildet sein geradezu trotziger Rationalismus.

    " Ich kann einfach nicht einsehen, dass sich dieser allmächtige und allgegenwärtige Gott fast überall in der Welt damit beschäftigt, die zahllosen, überwiegend egozentrischen Wünsche zu erfüllen, oder auch nicht. Glücklicherweise hat das Gebet des Christen zwei Dimensionen. In der ersten stellt das Gebet eine Bitte dar, aber Gott wird lediglich darum ersucht, den Betenden zu stärken, damit dieser zu dem gewünschten inneren Zustand gelangt. Für mich handelt es sich ebenso gut um eine Forderung, die man an sich selbst richten kann. "

    Erstaunlicherweise bedient sich auch Grosser in der Darstellung seiner eigenen humanistischen Weltanschauung religiöser Begriffe. Er entwirft eine eigene Spiritualität, die auf Gott nicht angewiesen ist.

    " Der Unterschied mit dem christlichen Mystiker ist, dass er sagt: Er geht aus sich heraus (...) oder jemand geht in ihn herein. Ich brauche weder das eine noch das andere. (...) Ich brauche die Vertiefung in mich selbst. (...) Und wenn ich mit einem anderen zusammen bin - das ist Spiritualität. Schon der Wechsel eines Blickes zwischen zwei Menschen gehört zur Spiritualität. Und da brauche ich keinen dritten dazwischen. "

    In der christlichen Mystik findet Alfred Grosser Anknüpfungspunkte. Die Versenkung in Gott, wie sie der mittelaterliche Mystiker Meister Eckhart vorlebte, habe ihr Ziel im Nichts. Darin, so Grosser, zeige sich die Demut des Menschen: Er geht ein in etwas, das sich als Gott bezeichnen lässt, genauso gut aber auch als "Nicht-Gott". Auch in der Musik findet Grosser den Zugang zu dieser befreienden "inneren Leere".

    Mit anderen Worten: Alfred Grosser wirbt um Sympathie für einen kultivierten Atheismus, einen Atheismus, der geradezu religiöse Züge trägt. In diesem Sinne wünscht er sich von den Christen mehr Hochachtung vor allen, die sich Atheisten nennen. Nicht alle, so klingt es zwischen den Zeilen heraus, sind so grobe Klötze, wie die Christen denken. Auch wer keine christliche Erziehung genossen hat, findet Alfred Grosser, kann doch eine tiefe Moral haben.

    " Es gibt eine gewisse Verachtung für die zwei Drittel der Bürger in der ehemaligen DDR, die beinahe als unmoralisch gelten, weil sie keine christliche Erziehung gehabt haben. Das finde ich skandalös. "

    Die Christen können nach Grossers Ansicht von den Atheisten einiges lernen. Die christliche Definition des "ewigen Lebens" zum Beispiel empfindet er als undeutlich. Alfred Grosser formuliert es so: Das zukünftige Leben, meint der, sei kein anderes als das gegenwärtige.

    " Und ich entdecke ja, das ist meine Provokation am Schluss des Buches, dass die Christen mir immer ähnlicher werden und nicht das Gegenteil. (...) An was glauben sie noch? (...) Ich glaube, dass zum Beispiel der Begriff der Auferstehung, des ewigen Lebens so verschwommen geworden ist, dass kaum ein Christ wagt zu sagen, was er unter seiner Auferstehung versteht. "

    Sebastian Engelbrecht war das über das neue Buch von Alfred Grosser. Die Früchte ihres Baumes. Ein atheistischer Blick auf die Christen. So der Titel. Erschienen ist es bei Vandenhoeck & Ruprecht. 280 Seiten kosten 24,90 Euro.

    Die besprochenen Bücher:

    Gunter Hofmann: Familienbande. Die Politisierung Europas. Verlag Antje Kunstmann. München 2005. 268 Seiten. 19,90 Euro.

    Gudrun Krämer: Geschichte des Islam. Verlag C.H. Beck. München 2005. 334 Seiten. 24,90 Euro.

    Guido Steinberg: Der nahe und der ferne Feind. Die Netzwerke des islamistischen Terrorismus. Verlag C.H. Beck. München 2005. 281 Seiten.. 19,90 Euro.

    Elmar Theveßen: Terroralarm. Deutschland und die islamistische Bedrohung. Rowohlt Verlag. Berlin 2005. 224 Seiten. 14,90 Euro.

    Alfred Grosser: Die Früchte ihres Baumes. Ein atheistischer Blick auf die Christen. Vandenhoeck & Ruprecht. Göttingen 2005. 280 Seiten. 24,90 Euro.