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Neuerscheinungen zum EM-Beginn

Am 4. Juli ist alles vorbei. Da jährt sich zum fünfzigsten Mal das "Wunder von Bern", aber vermutlich wird sich jeder entnervt die Ohren zuhalten, wenn dann noch davon die Rede ist. Alles Pulver ist verschossen worden, der Film von Sönke Wortmann hat bereits letztes Jahr die Zeichen gesetzt. Die Fernsehanstalten lieferten sich ein Wettrennen darum, ein paar vergessene Quadratzentimeter Zelluloid des Jahrhundertereignisses vom Wankdorfstadion aufzutreiben, und Herbert Zimmermanns Endspiel-Reportage drang verstärkt aus den Kanälen wie eine Zimmerflak: "Wankdorfstadion, keiner wankt!" Ja, wir haben gewonnen. Auch im Bruttosozialprodukt sind wir schnell an den vermeintlichen Siegermächten des Zweiten Weltkriegs vorbeigezogen, und im Fußball waren wir eine Macht, noch 1990. Aber danach ging es rapide abwärts, irgendwie mussten wir doch noch die Rechnung für den Zweiten Weltkrieg bezahlen. Da helfen jetzt die Recken von einst, die Helden von Bern, und die Buchverlage überstürzen sich mit Titeln zu dem historischen Sieg über die Ungarn. Einer der Helden von damals war auch Rudi Michel. Der Altmeister, bekannt durch Funk und Fernsehen, war als Jungreporter mit dabei, Seit an Seit mit Herbert Zimmermann, und dessen Reportage wird in dem Buch, das Rudi Michel jetzt dazu veröffentlicht hat, vollständig transkribiert und gefeiert. Das ist alles gut und schön, Rudi Michel liefert zum Jubiläum so etwas wie die offizielle Sicht auf die Legende. Aber er tut das halt auch mit allem, was er zur Verfügung hat, mit allen "Chef"- und "Fritz"-Hagiographien und braunstichigen Schwarzweißfotos, und auch das Absingen der ersten Strophe des Deutschlandlieds nach dem Sieg ist dann gar nicht mehr so schlimm.

Von Helmut Böttiger |
    (Rudi Michel: Deutschland ist Weltmeister! Meine Erinnerungen an das Wunder von Bern 1954. Südwest Verlag, München. 223 Seiten, 19 Euro 95)

    Wenden wir uns einem eher internationalen Ansatz zu, nämlich der offiziellen Festschrift der FIFA, des Weltfußballverbands. Die FIFA wird in diesem Jahr hundert Jahre alt, und der rührige Verlag "Die Werkstatt" in Göttingen hat die deutschen Rechte an dieser Festschrift ergattert. Das ist auf den ersten Blick etwas merkwürdig, denn "Die Werkstatt" hat bisher eher durch bescheiden broschierte, aber sehr dicke Bücher auf sich aufmerksam gemacht, die für Kenner ein Genuss waren - vor allem mit fundierten Blicken auf die Fußballgeschichte. Jetzt haben wir einen festlich in Schwarz gehüllten Prachtband vor uns, und gleich am Anfang stoßen wir auf einen ganzseitig lächelnden Sepp Blatter, den allmächtigen FIFA-Chef, dessen Rolle und dessen Ränke mehr als umstritten sind. Dennoch ist dieses Buch sehr zu empfehlen: es legt großen Wert darauf, alle Erscheinungsformen des Fußballs zu berücksichtigen, alle nationalen Eigenheiten, und da wird der deutsche Aspekt durchaus korrekt in den ihm entsprechenden Rahmen gestellt. Reich bebildert, mit vielen historischen Dokumenten und Fotos gibt es Streiflichter über die Entstehung des Fußballspiels, die bis in die italienische Renaissance zurückreicht, über die diversen Stadionbauten auf dem Globus, über die Entwicklung der Regeln oder, besonders hübsch, über "nationalen Spielstil, Technik und Taktik". Irgendwie ist das Buch letztlich doch ein bisschen englandlastig, nicht nur im Kapitel über die rasche Verbreitung des Spiels seit dem Ende des 19. Jahrhunderts. Auch wenn es um den Fußball in Bildender Kunst, Literatur und Film geht, fällt die Dominanz der britischen Inseln auf. Aber das hat durchaus seinen Grund: Dort gibt es richtige Fußballromane, während das Spiel in Deutschland für die Kulturszene die längste Zeit verpönt war und man höchstens die Angst des Tormanns beim Elfmeter teilte. Wer dieses Buch durchgeblättert und durchgelesen hat, sieht am Ende einiges gelassener. Und ist vielleicht auch in der Lage, eines der hervorragend heraus gespielten Tore der Portugiesen oder der Franzosen würdigen zu können.

    (FIFA 1904-2004. 100 Jahre Weltfußball. Verlag Die Werkstatt, Göttingen. 312 großformatige Seiten, 39 Euro 90)

    Kommen wir zu den wahren Fußballstars im Moment in Deutschland, nämlich zu den Fernsehleuten. Da hat sich in den letzten Jahren etwas flächendeckend durchgesetzt. Die Frontmänner und Frontfrauen des Fernsehens werden kaum noch als Journalisten gehandelt, sondern als Pop-Größen, das Medium ist längst die Botschaft. Deshalb sind sie jetzt auch autobiografiefähig. Vermutlich werden sie bei der anstehenden Europameisterschaft weitaus wesentlichere Protagonisten sein als die deutschen Spieler, da stürzen sich die Buchverlage in ihrer Verzweiflung schon jetzt auf sie. Denn die Verlage haben es auch nicht leicht: Da lockt auf der einen Seite das Jubiläum des "Wunders von Bern", aber auf der anderen Seite droht die Europameisterschaft im Juni. Der Glanz der Vergangenheit und das Elend der Gegenwart: Diese Spannung muss erst einmal ausgehalten werden. Einer ist auf jeden Fall dazu prädestiniert: Marcel Reif nämlich. Denn der ist ein ganz herausragender Fußballreporter. Er hat die Gabe der Ironie - das ist etwas ganz Feines und hat überhaupt nichts mit Häme zu tun - und er verbindet sie mit der Fähigkeit zu intelligenter Spiel-Analyse. Aus diesem Grund erwartet man sich auch von seiner Autobiografie etwas Besonderes, aber leider unterscheidet sie sich nur in Ansätzen von den üblichen Fußballstarbüchern. Offensichtlich hat Reif sein Leben einfach mündlich heruntererzählt, und das merkt man der Schriftform deutlich an. Es gibt einiges, worüber man gern ein bisschen mehr erfahren hätte - der jüdische Vater, die Kommerzialisierung des Fernsehens und des Fußballs -, doch das wird alles mehr oder weniger nur gestreift. Ein paar reflektierendere Passagen, vor allem gegen Ende, wo das Ruder wohl noch ein bisschen herumgerissen werden sollte, sind durchaus lesenswert, doch meistens schlägt er nur diese halbhohen Bälle, die so verdammt schwer zu nehmen sind.

    (Marcel Reif: Aus spitzem Winkel. Fußballreporter aus Leidenschaft. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln. 223 Seiten, 18 Euro 90)

    Manche meinen nun, die Rettung könnte nur aus der Kulturszene kommen. Da gibt es schon seit Jahrzehnten frei herumschweifende Essayisten wie Klaus Theweleit, und der kommt jetzt auch punktgenau mit einem Fußballtext heraus. Glückt etwa Theweleit der Befreiungsschlag? Aber ach, wir müssen schnell erkennen: Theweleit lehnt Befreiungsschläge von vornherein ab. Er hat jetzt auch Luhmann gelesen und bastelt ein bisschen systemtheoretisch herum, macht die Räume eng und hat Spaß an taktischen Computerspielchen. So wie er damals bei seinen "Männerphantasien" irgendwo bei Seite 453 den "Antiödipus" von Deleuze/Guattari entdeckt hat und plötzlich wusste, wo es lang geht, ist er jetzt auf die Viererabwehrkette gestoßen und auf das Pressing. Da ist er jedoch, wie ganz Deutschland, ein bisschen spät dran. Theweleit ist manchmal durchaus witzig - aber er hat keinen Humor. Verbissen will er immer nur nachweisen, dass wir uns nicht mehr in der Zeit der Männerphantasien befinden, dass es jetzt ums Kurzpassspiel geht. Deutschland hat seiner Meinung nach das Endspiel 2002 gegen Brasilien deswegen verloren, weil kurz vor dem 1:0 Hamann den Ball hatte und ihn zuerst zu Metzelder und dann zu Ziege spielen wollte - doch jedesmal stand ihm dabei Schiedsrichter Collina im Weg. Auf die wirklich interessanten Fragen geht Theweleit dabei überhaupt nicht ein: Die Deutschen hatten während des Turniers fast immer miserabel gespielt und trotzdem gewonnen, im Endspiel dann waren sie großartig und besser als die Brasilianer - aber verloren. Ein Nachdenken über derlei existenzielle Befunde wäre weitaus ergiebiger als Theweleits Power-Point-Essayistik.

    (Klaus Theweleit: Tor zur Welt. Fußball als Realitätsmodell. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln. 233 Seiten, 8 Euro 90.)
    Der Positivismus der deutschen Fußballschreiber hilft nicht weiter. Aber es gibt immerhin Autoren wie Andreas Höll, die den Fußball als eine Angelegenheit des kulturellen Lebens ernst nehmen - und deswegen ganz leicht. Seine Feuilletons drehen sich um den Gesang der Fans, um das Trikot als Gesamtkunstwerk und natürlich um die Poesie: So hat seiner Meinung nach der Gelegenheitslyriker Gottfried Blumenstein Energie Cottbus zweimal vor dem Abstieg gerettet. Das ist eine hochinteressante Geschichte, und Höll verfolgt die Spuren minuziös. Cottbus spielt bekanntlich im "Stadion der Freundschaft", und diese Form von Freundschaft ist im übrigen Bundesgebiet ziemlich gefürchtet. Ausgerechnet hier verfasste Gottfried Blumenstein in der Saison 2001/2002 für jedes Bundesligaspiel seines Vereins ein Sonett, insgesamt also 34 Stück. Das erste begann so: "Fußball und Kunst scheinen sich zu fliehen / Und haben sich, eh man es denkt, gefunden"... Andreas Höll setzt in seinem Buch zu ausgiebigen Erörterungen und Interpretationen an, er verfolgt den Saisonverlauf und seine lyrischen Resultate, greift mitunter zur psychologischen, oft aber auch zur sozialgeschichtlichen Methode der Literaturwissenschaft. Die Cottbusser Fankurve muss ein köstliches Bild abgegeben haben, als der Stadionsprecher plötzlich begann, ein Sonett von Gottfried Blumenstein vorzutragen. Höll schreibt: "Die Arena verwandelte sich in einen Elfenbeinturm. Keine befohlene Schweigeminute hätte jemals eine solche Beklemmung auslösen können." Nach den Sonetten in der ersten Saison folgten in der zweiten Haikus, und Hölls Analyse ist absolut stringent, was die dritte Saison betrifft: Dichter Blumenstein wählte da die Form der Ballade. Obwohl diese Gattung seit dem 18. Jahrhundert vor allem von dämonisch spukhaftem, tragischem Geschehen erzählt. Natürlich stieg Cottbus ab. Hölls Buch sammelt derlei feuilletonistische Preziosen, und da sich der Blickwinkel sonst viel zu oft auf das Spielfeld begrenzt, wirkt solch ein spielerischer Umgang mit den Phänomen des Fußballs befreiend. Dieser Weg ist der richtige!

    (Andreas Höll: Halbzeiten für die Ewigkeit. Über die wichtigste Nebensache der Welt. Gustav Kiepenheuer Verlag, Berlin. 184 Seiten, 12 Euro 50.)