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Neues Denken

Auf einem Kongress linksorientierter Studentenorganisationen in der Berliner Humboldt-Universität widmeten sich etwa 1600 Teilnehmer der Frage, wie die 68er-Bewegung politisch zu bewerten sei. Sind die Erfahrungen von damals für heute nutzbar?

Von Dorothea Jung |
    Berlin, Humboldt-Universität, Sonntagvormittag: Auf einer kleinen Rasenfläche hinter dem Hauptgebäude warten ein paar Studierende in der Sonne auf den Beginn ihrer Workshops. Drei junge Frauen sind aus Hannover angereist.

    "Es sind Veränderungen notwendig, weil es großen Teilen des Volkes nicht mehr gut geht. Was damals 68 passiert ist und auch in den Jahren danach, hat uns ja vorgemacht, was alles möglich ist, wenn die Massen sich bewegen."

    "Es muss wieder was getan werden, die Leute müssen wieder was für ihre Rechte tun."

    "Das können wir wieder! Das kriegen wir wieder auf die Reihe. Vor allem, wenn wir uns jetzt alle hier treffen und ein Gefühl dafür bekommen, was möglich ist in einer großen Gruppe."

    Ein Hauch von Revolte schwebt über dem Campus. "Wir möchten das Thema '68' von links betrachten", erklärt Katharina Volk. Sie studiert in Gießen Politikwissenschaften und ist Geschäftsführerin des Studierendenverbandes DIE LINKE.SDS. Der Kongress will untersuchen, in welchen Politikfeldern die 68er Eindrücke hinterlassen haben. Da sei man dann sehr rasch bei den Themen Demokratie-Entwicklung, Emanzipation und Hochschulpolitik, sagt Katharina Volk, und natürlich auch bei der Organisationsfrage.

    "Wie müssen wir uns organisieren, um die Widersprüche in der Gesellschaft, die ja nach wie vor noch bestehen, wie müssen wir da ansetzen, wie können wir uns organisieren, wie entwickelt sich auch Bewegung, um auch Gesellschaft zu verändern?"

    Von den 68ern lernen heißt siegen lernen? Ganz so umstandslos vielleicht nicht, erwidert Nele Hirsch, die bildungspolitische Sprecherin der Linksfraktion im Deutschen Bundestag.

    "Wir greifen die Situation damals, 68, auf, versuchen, es eben zu diskutieren, und überlegen dann, was für heute wichtige Interventionsfelder waren und was man da machen könnte. Und für mich ist es eben besonders spannend, was sich um die ganze Frage dreht: Was für Hochschulen wollen wir eigentlich? Dass sie 68er ja schon sehr, sehr stark den Ansatz hatten, zu sagen: 'Wir gucken uns jetzt einfach an, was an den Hochschulen passiert, aber analysieren ganz klar, dass das, was an den Hochschulen passiert, natürlich in ganz engem Zusammenhang steht, was auch in der Gesellschaft passiert.'"

    Ein Bewusstsein zu schaffen für kritische Wissenschaft, das heißt, einen Zusammenhang herzustellen von Wissenschaft und Gesellschaftskritik, das sei eines der Hauptanliegen dieses Kongresses, meint Nele Hirsch. Denn die Unzufriedenheit über den Wissenschaftsbetrieb an den Universitäten sei groß. Wegen der Tendenz zur Ökonomisierung und Beschleunigung des Studiums fühlten sich viele Studierende in der Defensive.

    "Was man aber tun muss, ist eben, sich dagegen zur Wehr zu setzen, und ich glaube, dass dieses Zur-Wehr-Setzen anfängt an den eigenen Hochschulen und direkt vor Ort. Dass wir eben wieder Studierende brauchen, die sich in die Seminare setzen, die sich auch ansonsten organisieren und sagen: So stellen wir uns das nicht vor. Wir wollen etwas anderes."

    Der Kongress wirbt dafür, an den Universitäten Arbeitsgruppen zu bilden, in denen Karl Marx' Kapital gelesen wird. Damit die Studierenden ein theoretisches Werkzeug in der Hand haben, um die Hochschulen zu verändern, heißt es. Unter dem Druck einer strikten Studienordnung sei das kein leichtes Unterfangen, stellt ein Student aus Jena fest, der gerade aus einem Vortrag über kritische Wissenschaft kommt.

    "Ich studiere modularisiert, Lehramt, und ich finde, dass die kritische Wissenschaft zunehmend zu kurz kommt. Es werden immer die gleichen Kurse angeboten, mit den gleichen Inhalten, es wird standardisiert. Und ich will das eigentlich nicht dulden; und ich will auch bei der 'Kapital'-Lese-Bewegung mitmachen und selbst als Student kritische Wissenschaft in die Unis bringen."

    Die 68er-Bewegung sei zwar eine Anregung für ein kritisches Verständnis von Wissenschaft und Hochschulpolitik; vielleicht auch ein Ideengeber für Aktionsformen studentischer Initiativen; ergänzt ein Studienkollege. Für ihn sind die 68er aber kein Vorbild.

    "Ich glaube, dass es wichtig ist, dass man sich nicht einfach '68' irgendwo draufschreibt, sondern voranschreitet und selbst darüber nachdenkt, in welchen Konflikten wir uns befinden, und anfängt, wieder selbst zu denken."