Auch Ministerpräsident Zhu Rongji, selbst an der Spitze der Anti-Korruptions-Bewegung, gehört nach eigener Auskunft zu den "Brennpunkt"-Fans. Er sagt: "Nicht alle Funktionäre sehen die Sendung gern, denn einigen bereitet sie großes Kopfzerbrechen. Aber auch ich gehöre zu denen, die sie überwachen muss." Doch das bleibt graue Theorie. Wie eine Jung-Redakteurin in einem vertraulichen Gespräch gesteht, gibt es eine klare Grenze, bis zu welcher Partei-Ebene die Fernseh-Enthüllungen führen dürfen. "Wir fangen nur die kleinen Fische, nicht die großen Haie", sagt sie achselzuckend. Keine echte Presse-Freiheit also, sondern nur ein kleines Deckmäntelchen, das sich die kommunistische Führung umhängt, um den steigenden Unmut der Bevölkerung im Zaum zu halten. Denn die Korruption wächst unaufhaltsam, seitdem sich der Staat aus der Rundum-Versorgung für seine Bürger zurückzieht. Ein politisches Pöstchen ist nicht finanziell interessant, sondern vor allem wegen der damit verbundenen Machtposition. Privilegien sind die Goldgrube der kommunistischen Funktionäre - man kann sie als Druckmittel einsetzen, für einen Tauschhandel oder schlicht verschachern. "Guanxi" heißt das auf chinesisch, und ohne sie ist kaum eine Karriere möglich. Zhang Shu ist 25 Jahre alt und will Journalist werden. Seinen Job als Assistent bei einem Stadtmagazin hat er durch guanxi bekommen.
Zhang: "Nur wenn man in China gute Beziehungen hat, kommt man weiter. Als junger Mensch mit ein bisschen Geld, sollte man versuchen, sich guanxi zu verschaffen. Das funktioniert auf 3 verschiedenen Wegen: entweder forscht man im Familienkreis, ob es irgendwo einen hochrangigen Verwandten gibt, der einem weiterhelfen könnte. Oder man versucht selbst, mit viel Geld hochrangige Beziehungen aufzubauen. Oder, drittens, man kombiniert beides, Bestechung und Blutsverwandtschaft."
Weil die Einheitspartei keine Kontrollmechanismen duldet, hat die Korruption in China Ausmaße angenommen, die nicht nur der Führung großes Kopfzerbrechen bereitet. Auf der jährlichen Parlamentssitzung 1998 wurde der Bericht des chinesischen Generalstaatsanwalts von nur 55 Prozent der Abgeordneten gebilligt. Diese für kommunistische Verhältnisse hauchdünne Mehrheit kam einer Ohrfeige für die Regierung gleich. Die Deputierten des Volkskongresses waren unzufrieden mit dem laxen Vorgehen gegen korrupte Machenschaften. So eine Blamage soll sich nicht wiederholen. Die gut informierte Hongkonger Zeitung "South China Morning Post" berichtet, dass die Mitglieder des Nationalen Volkskongresses im Vorfeld der diesjährigen Sitzung heftig umworben wurden, den Anti-Korruptions-Kurs der Regierung einstimmig abzusegnen. Das wiederum bestätigt zu bekommen, ist ohne gute "guanxi" unmöglich. Immerhin findet sich ein Regierungsbeamter zu einem Interview bereit, allerdings will er weder seinen wahren Namen preisgeben noch seine Behörde - nur dass er in der Großen Halle des Volkes arbeitet und dort internationale Delegationen betreut. Sui Bian, wie wir ihn also nennen, ist 26 Jahre alt und gehört zu einer neuen Generation chinesischer Kader.
Sui: "Meiner Meinung nach ist die Korruption in einem Entwicklungsland wie China offensichtlich. Es ist ein Problem und wir müssen uns dem stellen. Mit der Reform- und Öffnungspolitik sind wir auf dem richtigen Weg, aber die Struktur unserer Regierung ist noch nicht gut genug. Nehmen wir das Beispiel Wohnungsreform. Für die Beamten ist es natürlich gut, eine freie Wohnung gestellt zu bekommen, aber die Regierung kann sich das nicht mehr leisten, deshalb unterstütze ich diese Reform. Ich denke dabei nicht an mich, ob ich in Zukunft weiterhin diese Vergünstigung genieße, sondern daran, dass unser System perfektioniert werden muss. Noch sind wir aber dabei, Erfahrungen zu sammeln."
Als Anreiz für ihre Staatsdiener beschloss die Regierung im letzten Jahr, deren Gehälter um 30 Prozent zu erhöhen. Trotzdem wird die Kluft zwischen privatwirtschaftlichen und staatlichen Einkommen immer größer. Selbst Staatspräsident Jiang Zemin und Ministerpräsident Zhu Rongji erhalten nach der letzten offiziellen Einkommens-Tabelle der Regierung nur gut 2.600 Yuan im Monat, das wären umgerechnet gerade mal 650 Mark. In Wirklichkeit dürften beide zwar kaum auf die offiziellen Zuteilungen angewiesen sein. Aber sie müssen ein Zeichen setzen für Bescheidenheit. Denn ihr Volk wendet sich langsam von ihnen ab. Nicht aktiv, wie in Osteuropa nach dem Fall der Mauer, sondern passiv. In China macht sich Politik-Verdrossenheit breit. Der 25jährige Zhang Shu ist ein typischer Vertreter seiner Generation:
Zhang Shu: "Die Politik ist weit weg von meinem Leben. Sie hat nichts mit der Erfüllung meiner Träume zu tun. Und ich glaube, wenn sich jemand in die Politik einmischt, muss er auf persönliche Freiheiten verzichten."
Dazu sind nur noch wenige bereit - denn persönliche Freiheiten bedeuten in China heutzutage vor allem: Geld verdienen. Die Chinesen haben ihre Lektion aus den Ereignissen von 1989 gelernt, als friedliche Demonstrationen auf dem Tiananmenplatz in einem Blutbad endeten. "Einmischung in die Politik kann gefährlich sein, aber reich werden ist glorreich" - sagte schon Deng Xiaoping. Das denkt auch der junge Zhang:
Zhang Shu: "Mein Traum sieht so aus: ich will ein reicher Mann werden, ein Privat-Unternehmen führen, eine Villa haben, 2 Autos, eine schöne Frau und 2 bis 3 Kinder."
Der Rückzug ins Private ist nicht nur Ausdruck einer politischen Ohnmacht. Sondern Ausdruck einer Spaltung des politischen Lebens: die da oben kümmern sich um ihre Machterhaltung, und wir einfachen Leute genießen dafür unsere Freiheiten, solange wir die Partei nicht in Frage stellen. Der Wunsch nach politischen Freiheiten spielt nur eine untergeordnete Rolle. Das ist Wasser auf die Mühlen der Kommunistischen Partei. Unter Demokratie verstehe man in China eben etwas anderes als im Westen, sagt der Regierungsbeamte Sui Bian:
Sui: "Der Demokratie-Gedanke ist universal, im allgemeinen verstehen wir darunter Wahlen und freie Meinungs-Äußerung. Ich auch. Aber angesichts von Chinas Situation muss man andere Maßstäbe anlegen. Hier ist die demokratische Grundlage das Recht auf Essen, auf Kleidung, das Recht zu überleben. Und als Mitarbeiter der Regierung kann ich sagen, dass die Führung entschlossen ist, den Menschen zu einem besseren Leben zu verhelfen."
Den demokratischen Anspruch ihres Systems hält die Regierung aufrecht, indem sie stolz darauf verweist, wie viele ihrer Bürgerinnen und Bürger an der politischen Willensbildung beteiligt sind: China habe 3 Millionen 230-tausend Abgeordnete in den Volkskongressen der verschiedenen Verwaltungs-ebenen, berichtet die staatliche Nachrichtenagentur Xinhua. Das bedeute, dass einer von 370 Chinesen ein solches Amt bekleide. Doch das sagt weniger über die politische Teilhabe als über die perfekte hierarchische Kontrolle des Systems. Es gibt keine öffentlichen Bekanntmachungen, keine Kampagnen, kein Aktionsprogramm, nur Namen auf einem Stimmzettel. Vor allem gibt es keine Alternativen. Über die Kandidatenaufstellung entscheidet die Gemeinde- oder Bezirks-Regierung, die ihrerseits vom örtlichen Volkskongress gewählt ist.
Klingt kompliziert, ist aber eigentlich ganz einfach: die Auserkorenen der Kommunistischen Partei wählen oder vielmehr ernennen sich gegenseitig. Wer als besonders vorbildlicher Arbeiter gilt, vorbildlich meist im Sinne von linientreu, oder wer als besonders eifriges Parteimitglied auffällt, hat gute Chancen. Die 2-einhalb Millionen so erwählten Volksvertreter Ebene entsenden dann Abgeordnete aus ihrer Mitte in die nächsthöheren Volks-Kongresse der Städte und Provinzen. Und an der Spitze der Pyramide stehen die Abgeordneten des Nationalen Volkskongresses.
Zitator: "Der Nationale Volkskongress ist gemäß Verfassung das höchste Organ staatlicher Macht in China."
Doch in Wirklichkeit hat Chinas Parlament nur geringe Befugnisse. Das liegt auch an seiner fast unüberschaubaren Größe - knapp 3.000 Abgeordnete sind es, die ab morgen in Peking zu ihrer jährlichen Sitzung zusammenkommen. Während der 2-wöchigen Beratungen gibt es deshalb nur ein paar Plenarsitzungen, der Löwenanteil der Arbeit wird in Arbeitsgruppen geleistet.
Diese riesige Menge an Volksvertretern entspricht dem Anspruch der Kommunistischen Partei, dass im Vorzeigeparlament jede Klasse, jede soziale Schicht, jede Nationalität und jede Branche vertreten ist. Entscheidend ist weniger deren Erfahrung als das bunte Mosaiksteinchen im Gesamtbild. Einmal im Jahr will die Regierung öffentlich ein demokratisches und geeintes China zur Schau stellen und sieht es deshalb besonders gern, wenn die Vertreter von Minderheiten aus entlegenen Provinzen in vielen bunten Trachten die Große Halle des Volkes betreten. Die 54jährige Zhuang Yi aus Peking ist eine mustergültige Abgeordnete, weil sie gleich mehrere der gesellschaftlichen Quoten erfüllt. Das sagt sie selbst - nicht verschämt, sondern mit Stolz:
Zhuang Yi: "Zum einen engagiere ich mich für Frauen, ich bin Mutter von 2 Kindern, außerdem eine hochqualifizierte Ingenieurin. Ich habe mir in der Autoindustrie einen Namen gemacht, weil ich für ein technisches Projekt ausgezeichnet wurde. Schließlich bin ich Mitglied im Verband der Übersee-Chinesen, weil meine Eltern während des chinesischen Bürgerkriegs in Kambodscha gelebt haben. Und ich gehöre nicht nur der Kommunistischen Partei an, sondern wurde in dieser Funktion besonders belobigt."
Funktion kommt vor Fachwissen - für ihre Volksvertreter haben viele Pekinger deshalb nur Spott übrig. Ein Taxifahrer kontert auf die Frage nach den Abgeordneten des Volkskongresses mit einem Witz: "Das sind doch die mit den 3 Händen - eine zum Klatschen, eine zum Händeschütteln und eine, um die Entscheidungen der Kommunistischen Parteiführung abzuzeichnen."
Zitator: "Von den knapp 3.000 Abgeordneten in Chinas derzeit amtierenden Nationalen Volkskongress sind 71,5 Prozent Mitglieder der Kommunistischen Partei. 15 Prozent werden als Mitglieder der nicht-kommunistischen Parteien oder unter dem Stichwort "Patrioten" geführt. 21 Prozent fallen unter die Rubrik Intellektuelle, und 268 Parlamentsvertreter sind Soldaten. Knapp ein Fünftel aller Abgeordneten sind Frauen."
Teilzeit-Abgeordnete allesamt, denn der Volkskongress tagt nur 2 Wochen im Jahr. Die restliche Zeit übernimmt ein Ständiger Ausschuss seine Aufgaben. Der wird von den Abgeordneten des Plenums eingesetzt und der Parlamentspräsident hat den Vorsitz inne. Li Peng, der derzeitige Amtsinhaber, ist ein mächtiger Mann. Doch nicht die Ämter geben ihm Macht, sondern umgekehrt: sie sind Ausdruck seiner Stellung in der Partei. Als Mitglied des innersten Politbüro-Zirkels, ist er im Olymp der Kommunistischen Partei, wo alle wichtigen Entscheidungen gefällt werden, bevor sie überhaupt jemals schriftliche oder Gesetzesform erreichen. Bestes Beispiel war die Verhängung des Kriegsrechts nach den Studenten-Unruhen im Mai 1989. Dazu wäre laut Verfassung allein der Ständige Ausschuss des Volkskongresses befugt - doch der ist damals gar nicht gefragt worden. Und es ist noch nie passiert, dass eine Regierungsvorlage vom Volkskongress abgelehnt wurde. So sieht die Bevölkerung ihr Parlament vor allem als unnützen Debattierklub, in dem die Mitglieder einmal pro Jahr auf öffentliche Kosten teure Bankette feiern. Und den Großen und Mächtigen die Hand geben, wie die Abgeordnete Zhuang Yi stolz berichtet:
Zhuang: "Den Genossen Li Peng habe ich mehrmals getroffen und auch schon mal mit ihm gegessen. Ich habe mit ihm über die Entwicklung der chinesischen Automobil-Industrie gesprochen. Da kenne ich mich aus, ich bin schließlich Automobil-Facharbeiterin ...... Aber Chinas Führung ist ein Kollektiv, es ist nicht ein einzelner, der alle Macht hat. Li Peng beschäftigt sich mit der Arbeit im Volkskongress. Zhu Rongji ist ein guter Wirtschafts-Verwalter. Präsident Jiang hat die politische Gesamt-Verantwortung, den Überblick. Sie alle arbeiten sehr gut zusammen und deshalb glauben wir Abgeordneten, dass sich die Führung insgesamt einig ist."
Dazu hat die Masse der Bevölkerung eine ganz andere Meinung. Parlamentspräsident Li Peng ist der mit Abstand unbeliebteste aus Chinas Führungsriege. Mit Vorliebe werden Witze über seine Dummheit kolportiert. Der erklärte Volksheld dagegen heißt Zhu Rongji. Der Ministerpräsident erweckt als einziger chinesischer Politiker nicht den Eindruck, er sei nur auf seinen eigenen Vorteil bedacht. Dadurch wirkt er selbst auf politisch desinteressierte Landsleute wie den jungen Zhang Shu glaubwürdig:
Zhang: "Ministerpräsident Zhu wird von 95 Prozent aller jungen Leute verehrt, er ist pragmatischer als alle Politiker vor ihm und er hat ein gewisses Charisma und einen guten Charakter. Zhu hat das Zeug zu einem guten Politiker. Und er kümmert sich um die Nöte der einfachen Leute, das ist der wichtigste Grund."
Chinas demokratisches Feigenblättchen ist und bleibt die Direktwahl auf unterster kommunalpolitischer Ebene. In mehr als der Hälfte der knapp 1 Million Dörfer dürfen die Bauern ihre Vertreter selbst bestimmen. Doch zum einen beklagen westliche Wahlbeobachter immer wieder Regelverstöße, zum anderen besteht kaum Hoffnung, dass dieses Experiment ausgedehnt wird. Dabei gibt es das Bedürfnis nach mehr Mitsprache, wie ein Beispiel aus der Provinz Sichuan zeigt. Dort setzten sich im letzten Jahr die Bewohner von elf abgelegenen Dörfern über die geltenden Beschränkungen hinweg und wählten kurzerhand auch den Bürgermeister ihrer Kreisstadt selbst. Was die Behörden prompt für ungültig erklärten. Das sei allein Sache des örtlichen Volkskongresses. Den Dorfrat zu wählen, sichere den Bauern schon genügend Mitbestimmung, hieß es lakonisch.
Dieser Meinung ist auch der 26jährige Regierungsbeamte Sui Bian:
Sui: "Das ist nützlich für die Chinesen, die ganz unten an der Basis sind. Sie haben dieses Recht und brauchen einen Anführer. Aber für China als Ganzes, für ein so großes Land, sind allgemeine Wahlen so wie in den USA nicht durchführbar. Nein, dann würde China im Chaos versinken, in totalem Chaos. Die Chinesen wollen nicht denselben Fehler machen wie die Russen."
Doch selbst die handverlesenen Parlamentsabgeordneten dringen auf mehr Mitspracherecht. In den letzten Jahren sind im Volkskongress Forderungen lauter geworden, mehr Einsicht in die Ausgabenpläne der Regierung zu erhalten. Zudem gab es eine wahre Flut von Anträgen. Die Pekinger Abgeordnete Zhuang Yi hat das Jahr über im Kollegenkreis in ihrer Autofabrik Anregungen gesammelt, die sie nun einbringen will:
Frau Zhuang: "In diesem Jahr werde ich vorschlagen, dass Gesetzes-Änderungen auch zügig umgesetzt werden. Und ich will darauf dringen, die Reform des Sozialversicherungssystems möglichst schnell durchzuführen. Außerdem sollen Auslands-Chinesen, die in China investieren wollen, besonders günstige Bedingungen erhalten. Anders als bei Ihnen bekommen wir Abgeordneten des Volkskongresses keine Bezahlung. Wir arbeiten selbstlos und ohne Belohnung. Dass andere mich erwählt haben, bedeutet, dass sie mir vertrauen. Ich sammle also die Meinung des Volkes und leite sie an die Führung weiter. Und dann überwachen wir auch die Arbeit der Regierung."
Die Regierung hat ihre eigene Tagesordnung für die anstehende Sitzung. Darauf steht zum Beispiel der brandneue Plan zur Förderung des westlichen Hinterlands, das Ministerpräsident Zhu Rongji mit Milliardeninvestitionen aufpäppeln will. Korruption, natürlich, und sicher ein paar Drohungen in Richtung Taiwan. Doch selbst die genau inszenierten kommunistischen Rituale sind in China heutzutage nicht mehr unantastbar.
Bei der Sitzung des Parlaments von Guangdong, Chinas südlichster Provinz, kam es überraschend zum Eklat. Der Chef der Umweltbehörde und sein Stellvertreter gerieten unter Beschuss, weil sie 8 Galvanisierungsfabriken genehmigt hatten, ihre Abwässer ungeklärt in den Beijiang-Fluß zu leiten. Die Abgeordneten verlangten eine Erklärung, und weigerten sich, den Jahres-bericht der Beamten abzusegnen. Noch am selben Tag wurde der Chef des Umweltamtes von Guangdong auf einen anderen Posten versetzt. Offiziell war zwar nicht von Unfähigkeit oder Pflichtversäumnissen die Rede, aber immerhin: ein bisschen nach Demokratie riecht es schon.
Zhang: "Nur wenn man in China gute Beziehungen hat, kommt man weiter. Als junger Mensch mit ein bisschen Geld, sollte man versuchen, sich guanxi zu verschaffen. Das funktioniert auf 3 verschiedenen Wegen: entweder forscht man im Familienkreis, ob es irgendwo einen hochrangigen Verwandten gibt, der einem weiterhelfen könnte. Oder man versucht selbst, mit viel Geld hochrangige Beziehungen aufzubauen. Oder, drittens, man kombiniert beides, Bestechung und Blutsverwandtschaft."
Weil die Einheitspartei keine Kontrollmechanismen duldet, hat die Korruption in China Ausmaße angenommen, die nicht nur der Führung großes Kopfzerbrechen bereitet. Auf der jährlichen Parlamentssitzung 1998 wurde der Bericht des chinesischen Generalstaatsanwalts von nur 55 Prozent der Abgeordneten gebilligt. Diese für kommunistische Verhältnisse hauchdünne Mehrheit kam einer Ohrfeige für die Regierung gleich. Die Deputierten des Volkskongresses waren unzufrieden mit dem laxen Vorgehen gegen korrupte Machenschaften. So eine Blamage soll sich nicht wiederholen. Die gut informierte Hongkonger Zeitung "South China Morning Post" berichtet, dass die Mitglieder des Nationalen Volkskongresses im Vorfeld der diesjährigen Sitzung heftig umworben wurden, den Anti-Korruptions-Kurs der Regierung einstimmig abzusegnen. Das wiederum bestätigt zu bekommen, ist ohne gute "guanxi" unmöglich. Immerhin findet sich ein Regierungsbeamter zu einem Interview bereit, allerdings will er weder seinen wahren Namen preisgeben noch seine Behörde - nur dass er in der Großen Halle des Volkes arbeitet und dort internationale Delegationen betreut. Sui Bian, wie wir ihn also nennen, ist 26 Jahre alt und gehört zu einer neuen Generation chinesischer Kader.
Sui: "Meiner Meinung nach ist die Korruption in einem Entwicklungsland wie China offensichtlich. Es ist ein Problem und wir müssen uns dem stellen. Mit der Reform- und Öffnungspolitik sind wir auf dem richtigen Weg, aber die Struktur unserer Regierung ist noch nicht gut genug. Nehmen wir das Beispiel Wohnungsreform. Für die Beamten ist es natürlich gut, eine freie Wohnung gestellt zu bekommen, aber die Regierung kann sich das nicht mehr leisten, deshalb unterstütze ich diese Reform. Ich denke dabei nicht an mich, ob ich in Zukunft weiterhin diese Vergünstigung genieße, sondern daran, dass unser System perfektioniert werden muss. Noch sind wir aber dabei, Erfahrungen zu sammeln."
Als Anreiz für ihre Staatsdiener beschloss die Regierung im letzten Jahr, deren Gehälter um 30 Prozent zu erhöhen. Trotzdem wird die Kluft zwischen privatwirtschaftlichen und staatlichen Einkommen immer größer. Selbst Staatspräsident Jiang Zemin und Ministerpräsident Zhu Rongji erhalten nach der letzten offiziellen Einkommens-Tabelle der Regierung nur gut 2.600 Yuan im Monat, das wären umgerechnet gerade mal 650 Mark. In Wirklichkeit dürften beide zwar kaum auf die offiziellen Zuteilungen angewiesen sein. Aber sie müssen ein Zeichen setzen für Bescheidenheit. Denn ihr Volk wendet sich langsam von ihnen ab. Nicht aktiv, wie in Osteuropa nach dem Fall der Mauer, sondern passiv. In China macht sich Politik-Verdrossenheit breit. Der 25jährige Zhang Shu ist ein typischer Vertreter seiner Generation:
Zhang Shu: "Die Politik ist weit weg von meinem Leben. Sie hat nichts mit der Erfüllung meiner Träume zu tun. Und ich glaube, wenn sich jemand in die Politik einmischt, muss er auf persönliche Freiheiten verzichten."
Dazu sind nur noch wenige bereit - denn persönliche Freiheiten bedeuten in China heutzutage vor allem: Geld verdienen. Die Chinesen haben ihre Lektion aus den Ereignissen von 1989 gelernt, als friedliche Demonstrationen auf dem Tiananmenplatz in einem Blutbad endeten. "Einmischung in die Politik kann gefährlich sein, aber reich werden ist glorreich" - sagte schon Deng Xiaoping. Das denkt auch der junge Zhang:
Zhang Shu: "Mein Traum sieht so aus: ich will ein reicher Mann werden, ein Privat-Unternehmen führen, eine Villa haben, 2 Autos, eine schöne Frau und 2 bis 3 Kinder."
Der Rückzug ins Private ist nicht nur Ausdruck einer politischen Ohnmacht. Sondern Ausdruck einer Spaltung des politischen Lebens: die da oben kümmern sich um ihre Machterhaltung, und wir einfachen Leute genießen dafür unsere Freiheiten, solange wir die Partei nicht in Frage stellen. Der Wunsch nach politischen Freiheiten spielt nur eine untergeordnete Rolle. Das ist Wasser auf die Mühlen der Kommunistischen Partei. Unter Demokratie verstehe man in China eben etwas anderes als im Westen, sagt der Regierungsbeamte Sui Bian:
Sui: "Der Demokratie-Gedanke ist universal, im allgemeinen verstehen wir darunter Wahlen und freie Meinungs-Äußerung. Ich auch. Aber angesichts von Chinas Situation muss man andere Maßstäbe anlegen. Hier ist die demokratische Grundlage das Recht auf Essen, auf Kleidung, das Recht zu überleben. Und als Mitarbeiter der Regierung kann ich sagen, dass die Führung entschlossen ist, den Menschen zu einem besseren Leben zu verhelfen."
Den demokratischen Anspruch ihres Systems hält die Regierung aufrecht, indem sie stolz darauf verweist, wie viele ihrer Bürgerinnen und Bürger an der politischen Willensbildung beteiligt sind: China habe 3 Millionen 230-tausend Abgeordnete in den Volkskongressen der verschiedenen Verwaltungs-ebenen, berichtet die staatliche Nachrichtenagentur Xinhua. Das bedeute, dass einer von 370 Chinesen ein solches Amt bekleide. Doch das sagt weniger über die politische Teilhabe als über die perfekte hierarchische Kontrolle des Systems. Es gibt keine öffentlichen Bekanntmachungen, keine Kampagnen, kein Aktionsprogramm, nur Namen auf einem Stimmzettel. Vor allem gibt es keine Alternativen. Über die Kandidatenaufstellung entscheidet die Gemeinde- oder Bezirks-Regierung, die ihrerseits vom örtlichen Volkskongress gewählt ist.
Klingt kompliziert, ist aber eigentlich ganz einfach: die Auserkorenen der Kommunistischen Partei wählen oder vielmehr ernennen sich gegenseitig. Wer als besonders vorbildlicher Arbeiter gilt, vorbildlich meist im Sinne von linientreu, oder wer als besonders eifriges Parteimitglied auffällt, hat gute Chancen. Die 2-einhalb Millionen so erwählten Volksvertreter Ebene entsenden dann Abgeordnete aus ihrer Mitte in die nächsthöheren Volks-Kongresse der Städte und Provinzen. Und an der Spitze der Pyramide stehen die Abgeordneten des Nationalen Volkskongresses.
Zitator: "Der Nationale Volkskongress ist gemäß Verfassung das höchste Organ staatlicher Macht in China."
Doch in Wirklichkeit hat Chinas Parlament nur geringe Befugnisse. Das liegt auch an seiner fast unüberschaubaren Größe - knapp 3.000 Abgeordnete sind es, die ab morgen in Peking zu ihrer jährlichen Sitzung zusammenkommen. Während der 2-wöchigen Beratungen gibt es deshalb nur ein paar Plenarsitzungen, der Löwenanteil der Arbeit wird in Arbeitsgruppen geleistet.
Diese riesige Menge an Volksvertretern entspricht dem Anspruch der Kommunistischen Partei, dass im Vorzeigeparlament jede Klasse, jede soziale Schicht, jede Nationalität und jede Branche vertreten ist. Entscheidend ist weniger deren Erfahrung als das bunte Mosaiksteinchen im Gesamtbild. Einmal im Jahr will die Regierung öffentlich ein demokratisches und geeintes China zur Schau stellen und sieht es deshalb besonders gern, wenn die Vertreter von Minderheiten aus entlegenen Provinzen in vielen bunten Trachten die Große Halle des Volkes betreten. Die 54jährige Zhuang Yi aus Peking ist eine mustergültige Abgeordnete, weil sie gleich mehrere der gesellschaftlichen Quoten erfüllt. Das sagt sie selbst - nicht verschämt, sondern mit Stolz:
Zhuang Yi: "Zum einen engagiere ich mich für Frauen, ich bin Mutter von 2 Kindern, außerdem eine hochqualifizierte Ingenieurin. Ich habe mir in der Autoindustrie einen Namen gemacht, weil ich für ein technisches Projekt ausgezeichnet wurde. Schließlich bin ich Mitglied im Verband der Übersee-Chinesen, weil meine Eltern während des chinesischen Bürgerkriegs in Kambodscha gelebt haben. Und ich gehöre nicht nur der Kommunistischen Partei an, sondern wurde in dieser Funktion besonders belobigt."
Funktion kommt vor Fachwissen - für ihre Volksvertreter haben viele Pekinger deshalb nur Spott übrig. Ein Taxifahrer kontert auf die Frage nach den Abgeordneten des Volkskongresses mit einem Witz: "Das sind doch die mit den 3 Händen - eine zum Klatschen, eine zum Händeschütteln und eine, um die Entscheidungen der Kommunistischen Parteiführung abzuzeichnen."
Zitator: "Von den knapp 3.000 Abgeordneten in Chinas derzeit amtierenden Nationalen Volkskongress sind 71,5 Prozent Mitglieder der Kommunistischen Partei. 15 Prozent werden als Mitglieder der nicht-kommunistischen Parteien oder unter dem Stichwort "Patrioten" geführt. 21 Prozent fallen unter die Rubrik Intellektuelle, und 268 Parlamentsvertreter sind Soldaten. Knapp ein Fünftel aller Abgeordneten sind Frauen."
Teilzeit-Abgeordnete allesamt, denn der Volkskongress tagt nur 2 Wochen im Jahr. Die restliche Zeit übernimmt ein Ständiger Ausschuss seine Aufgaben. Der wird von den Abgeordneten des Plenums eingesetzt und der Parlamentspräsident hat den Vorsitz inne. Li Peng, der derzeitige Amtsinhaber, ist ein mächtiger Mann. Doch nicht die Ämter geben ihm Macht, sondern umgekehrt: sie sind Ausdruck seiner Stellung in der Partei. Als Mitglied des innersten Politbüro-Zirkels, ist er im Olymp der Kommunistischen Partei, wo alle wichtigen Entscheidungen gefällt werden, bevor sie überhaupt jemals schriftliche oder Gesetzesform erreichen. Bestes Beispiel war die Verhängung des Kriegsrechts nach den Studenten-Unruhen im Mai 1989. Dazu wäre laut Verfassung allein der Ständige Ausschuss des Volkskongresses befugt - doch der ist damals gar nicht gefragt worden. Und es ist noch nie passiert, dass eine Regierungsvorlage vom Volkskongress abgelehnt wurde. So sieht die Bevölkerung ihr Parlament vor allem als unnützen Debattierklub, in dem die Mitglieder einmal pro Jahr auf öffentliche Kosten teure Bankette feiern. Und den Großen und Mächtigen die Hand geben, wie die Abgeordnete Zhuang Yi stolz berichtet:
Zhuang: "Den Genossen Li Peng habe ich mehrmals getroffen und auch schon mal mit ihm gegessen. Ich habe mit ihm über die Entwicklung der chinesischen Automobil-Industrie gesprochen. Da kenne ich mich aus, ich bin schließlich Automobil-Facharbeiterin ...... Aber Chinas Führung ist ein Kollektiv, es ist nicht ein einzelner, der alle Macht hat. Li Peng beschäftigt sich mit der Arbeit im Volkskongress. Zhu Rongji ist ein guter Wirtschafts-Verwalter. Präsident Jiang hat die politische Gesamt-Verantwortung, den Überblick. Sie alle arbeiten sehr gut zusammen und deshalb glauben wir Abgeordneten, dass sich die Führung insgesamt einig ist."
Dazu hat die Masse der Bevölkerung eine ganz andere Meinung. Parlamentspräsident Li Peng ist der mit Abstand unbeliebteste aus Chinas Führungsriege. Mit Vorliebe werden Witze über seine Dummheit kolportiert. Der erklärte Volksheld dagegen heißt Zhu Rongji. Der Ministerpräsident erweckt als einziger chinesischer Politiker nicht den Eindruck, er sei nur auf seinen eigenen Vorteil bedacht. Dadurch wirkt er selbst auf politisch desinteressierte Landsleute wie den jungen Zhang Shu glaubwürdig:
Zhang: "Ministerpräsident Zhu wird von 95 Prozent aller jungen Leute verehrt, er ist pragmatischer als alle Politiker vor ihm und er hat ein gewisses Charisma und einen guten Charakter. Zhu hat das Zeug zu einem guten Politiker. Und er kümmert sich um die Nöte der einfachen Leute, das ist der wichtigste Grund."
Chinas demokratisches Feigenblättchen ist und bleibt die Direktwahl auf unterster kommunalpolitischer Ebene. In mehr als der Hälfte der knapp 1 Million Dörfer dürfen die Bauern ihre Vertreter selbst bestimmen. Doch zum einen beklagen westliche Wahlbeobachter immer wieder Regelverstöße, zum anderen besteht kaum Hoffnung, dass dieses Experiment ausgedehnt wird. Dabei gibt es das Bedürfnis nach mehr Mitsprache, wie ein Beispiel aus der Provinz Sichuan zeigt. Dort setzten sich im letzten Jahr die Bewohner von elf abgelegenen Dörfern über die geltenden Beschränkungen hinweg und wählten kurzerhand auch den Bürgermeister ihrer Kreisstadt selbst. Was die Behörden prompt für ungültig erklärten. Das sei allein Sache des örtlichen Volkskongresses. Den Dorfrat zu wählen, sichere den Bauern schon genügend Mitbestimmung, hieß es lakonisch.
Dieser Meinung ist auch der 26jährige Regierungsbeamte Sui Bian:
Sui: "Das ist nützlich für die Chinesen, die ganz unten an der Basis sind. Sie haben dieses Recht und brauchen einen Anführer. Aber für China als Ganzes, für ein so großes Land, sind allgemeine Wahlen so wie in den USA nicht durchführbar. Nein, dann würde China im Chaos versinken, in totalem Chaos. Die Chinesen wollen nicht denselben Fehler machen wie die Russen."
Doch selbst die handverlesenen Parlamentsabgeordneten dringen auf mehr Mitspracherecht. In den letzten Jahren sind im Volkskongress Forderungen lauter geworden, mehr Einsicht in die Ausgabenpläne der Regierung zu erhalten. Zudem gab es eine wahre Flut von Anträgen. Die Pekinger Abgeordnete Zhuang Yi hat das Jahr über im Kollegenkreis in ihrer Autofabrik Anregungen gesammelt, die sie nun einbringen will:
Frau Zhuang: "In diesem Jahr werde ich vorschlagen, dass Gesetzes-Änderungen auch zügig umgesetzt werden. Und ich will darauf dringen, die Reform des Sozialversicherungssystems möglichst schnell durchzuführen. Außerdem sollen Auslands-Chinesen, die in China investieren wollen, besonders günstige Bedingungen erhalten. Anders als bei Ihnen bekommen wir Abgeordneten des Volkskongresses keine Bezahlung. Wir arbeiten selbstlos und ohne Belohnung. Dass andere mich erwählt haben, bedeutet, dass sie mir vertrauen. Ich sammle also die Meinung des Volkes und leite sie an die Führung weiter. Und dann überwachen wir auch die Arbeit der Regierung."
Die Regierung hat ihre eigene Tagesordnung für die anstehende Sitzung. Darauf steht zum Beispiel der brandneue Plan zur Förderung des westlichen Hinterlands, das Ministerpräsident Zhu Rongji mit Milliardeninvestitionen aufpäppeln will. Korruption, natürlich, und sicher ein paar Drohungen in Richtung Taiwan. Doch selbst die genau inszenierten kommunistischen Rituale sind in China heutzutage nicht mehr unantastbar.
Bei der Sitzung des Parlaments von Guangdong, Chinas südlichster Provinz, kam es überraschend zum Eklat. Der Chef der Umweltbehörde und sein Stellvertreter gerieten unter Beschuss, weil sie 8 Galvanisierungsfabriken genehmigt hatten, ihre Abwässer ungeklärt in den Beijiang-Fluß zu leiten. Die Abgeordneten verlangten eine Erklärung, und weigerten sich, den Jahres-bericht der Beamten abzusegnen. Noch am selben Tag wurde der Chef des Umweltamtes von Guangdong auf einen anderen Posten versetzt. Offiziell war zwar nicht von Unfähigkeit oder Pflichtversäumnissen die Rede, aber immerhin: ein bisschen nach Demokratie riecht es schon.