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Neues Deutsches Subproletariat?

Die Erregung über Edmund Stoibers Hinweis auf den Zusammenhang von Massenarbeitslosigkeit und NPD-Erfolgen ist noch nicht abgeklungen, erschöpft sich jedoch weitgehend in Schuldzuweisungen der einen Volkspartei an die Adresse der anderen. Sehr viel mehr in die Tiefe geht der Beitrag von Ijoma Mangold in der Süddeutschen Zeitung, der sich mit dem Phänomen des "white trash" beschäftigt, dem neuen deutschen Subproletariat, das die Parteien anscheinend nicht mehr erreichen.

Von Jochen Thies |
    Ijoma Mangold stellt fest: "Deutschland ist eine Klassengesellschaft - wenn auch eine ohne Bewusstsein für die sowohl feineren wie auch deutlich gröberen Unterschiede. Das neue Subproletariat ist im strengen Sinne eine Klasse, weil es eine hohe Menge an Eigenschaften teilt, durch die man es als homogene Gruppe beschreiben kann. Ihm gehört an, wer so gering qualifiziert ist, dass der immer anspruchsvoller werdende Arbeitsmarkt keine Verwendung für seine Arbeitskraft hat. Die Industrien, die früher in großer Zahl schlecht ausgebildete Hilfsarbeiter einsetzen konnten, sind durch die Globalisierung in andere Länder abgewandert. Nur durch Bildung kann man heute an der Gesellschaft partizipieren. Aber genau darin ist - wie mittlerweile allgemein bekannt - Deutschland so schlecht wie kaum eine andere Industrienation: Diejenigen am Bildungssystem partizipieren zu lassen, die nicht selbst aus Familien mit Bildungserfahrung stammen".

    Ijoma Mangold fährt fort: "Für das neue Subproletariat gibt es damit keine Perspektive eines sozialen Aufstiegs. Dafür, dass man es in Wahrheit aufgegeben hat, stellt man es durch Sozialleistungen ruhig. Das wiederum zeigt sich an den sehr einheitlichen Lebensformen dieses Subproletariats. Liest man die entsprechenden Untersuchungen der empirischen Sozialforschung, stellt sich ein eindeutiges Bild dar: Die neuen Unterschichten sind kinderreich, aber sie kennen kaum mehr stabile Familienverhältnisse. Sie schauen eklatant mehr Fernsehen als der Bundesdurchschnitt und sie rauchen mehr (was durch die Tabaksteuer zu einer absurden Umverteilung von unten nach oben führt). Sie ermähren sich ungesund und das bevorzugt durch teures Fast Food. Sie sind oft übergewichtig, haben motorische Probleme und betreiben weniger Sport als der Gesellschaftsdurchschnitt. Dafür geben sie große Summen für Unterhaltungselektronik aus und sterben in der Regel zehn Jahre früher als der Rest der Gesellschaft".

    Ijoma Mangold beschließt: "Der Sozialstaat verhält sich gegenüber diesen Unterschichten im buchstäblichen Sinne nach der römischen Herrschaftstaktik "Brot und Spiele". Die Sinnentleertheit eines solchen Daseins muss keineswegs automatisch zum Rechtsradikalismus führen. Aber jedes Milieu sucht nach Artikulation. Die demokratischen Parteien sollten diese Wirklichkeit zur Kenntnis nehmen, sonst macht man der NPD die Arbeit zu einfach".

    Die Jahrestage anlässlich des nahenden Kriegsendes vor sechzig Jahren mehren sich. "Und die Lust der Deutschen, sich nach Jahrzehnten voller Schuldgefühle endlich einmal nicht als Täter, sondern als Opfer zu sehen, ist groß", meint Ernst Piper in der Frankfurter Rundschau. In der Rückschau auf die Geschichte der deutschen Gedenkpolitik konstatiert er eine Begriffsverwirrung, die gleich nach dem Krieg begann. Die Gründe dafür sieht er so: "Die Entnazifizierung der Alliierten wurde rasch beendet, als Nationalsozialisten entlassene Beamte wieder eingestellt, verurteilte Kriegsverbrecher großzügig amnestiert. Eingebettet in eine derartige Vergangenheitspolitik war ein Viktimisierungsdiskurs, der die ursprüngliche Perspektive umdrehte. Aus der Sicht der Alliierten, die die Deutschen besiegt und befreit hatten, waren Opfer die dem SS-Staat Ausgelieferten: die ermordeten Juden, Russen, Polen und all die anderen Opfer der deutschen Eroberungs- und Vernichtungsfeldzüge. Doch in den 50er Jahren waren nicht die Opfer der Deutschen, sondern die Deutschen als Opfer im kollektiven Gedächtnis präsent".

    Piper verfolgt danach die Entwicklungen und hebt als Wendepunkt den Frankfurter Auschwitz-Prozess in den Jahren 1963-1965 und die Eröffnung der Dachauer KZ-Gedenkstätte im Jahre 1965 hervor. Im gleichen Jahr wird die Verjährungsfrist für NS-Verbrechen nach leidenschaftlicher Debatte im Deutschen Bundestag verlängert.
    Was die heutigen Diskussionen angeht, den Kampf rivalisierender Opfergruppen um jeden Quadratzentimeter, wie Piper beobachtet, erinnert der Autor an den Leitsatz in der Empfehlungen der Enquete-Kommission 'Überwindungen der Folgen der SED-Diktatur im Prozess der deutschen Einheit’, wo es heißt: "NS-Verbrechen dürfen nicht durch die Auseinandersetzung mit dem Geschehen der Nachkriegszeit relativiert werden, das Unrecht der Nachkriegszeit darf aber nicht mit dem Hinweis auf die NS-Verbrechen bagatellisiert werden".

    Eberhard Jäckel, der Stuttgarter Historiker, befasst sich mit einem Teilaspekt, dem Streit um eine Inschrift für das Denkmal der Zigeuner in Berlin, wofür das Geld, ein Grundstück am Tiergarten und sogar ein Entwurf (von Dani Karavan) seit Jahren bereitstehen. Soll die seit 1982 in Deutschland gültige Bezeichnung "Sinti und Roma" oder die seit dem Mittelalter übliche Bezeichnung "Zigeuner" zum Tragen kommen, fragt Jäckel in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung? Die Argumente, die der Historiker zugunsten der Bezeichnung "Zigeuner" für die Denkmalsinschrift zusammenträgt, sind derart schlagend, dass zu hoffen ist, dass die Kontroverse zwischen dem Zentralrat der Sinti und Roma und der Sinti Allianz bald beendet wird.

    Anlässlich des Berliner Filmfestivals schreibt Daniel Kothenschulte in der Frankfurter Rundschau, dass es der Berlinale seit Jahren an einer künstlerischen Vision mangele. "Jetzt, wo das Gesundschrumpfen greift, muss sich dieses kostbare Schaufenster des Weltkinos überlegen, was ihm wirklich wichtig ist. Einen einzigartigen Akzent hat Kosslick mit seinem Talentcampus gesetzt. Damit hat er aber auch das dankbarste und anspruchvollste Publikum der Welt nach Berlin gelockt, 500 internationale Nachwuchstalente. Hoffen wir, mit ihnen…Unvergessliches zu erleben".

    Verena Lueken beschreibt in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung eines der Hauptprobleme von Kosslick: "Die Amerikaner, jedenfalls die aus Hollywood, kommen nicht mehr. Das hat nichts mit Berlin und mit Kosslick schon gar nichts zu tun. Es liegt an den Academy Awards, den Oscars, die seit dem vergangenen Jahr nicht mehr Ende März, sondern bereits Ende Februar verliehen werden. Seitdem machen die Anwärter auf die Industrietrophäe in der letzten Phase vor der Preisverleihung in Hollywood Stimmung für sich und ihren Film. Die Berlinale fällt da als popularitätssteigerndes Ereignis nicht ins Gewicht".

    Das war der Rückblick auf das Feuilleton der Woche, zusammengestellt von Jochen Thies.