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Neues von Gott

Religion, dank Aufklärung zur Privatsache geworden und für eine Weile als Welterklärungsmodell wenig gefragt, entwickelt zunehmend auch in der westlichen Welt wieder ihre Anziehungskraft. Dass diese Erscheinung mit der immer offensichtlicher werdenden Legitimationskrise von Politik und der zunehmenden Verunsicherung großer Teile der Gesellschaft über ihre Zukunft zusammenfällt, dürfte kein Zufall sein. Auf dem Buchmarkt finden die oft ins Politische gewendeten Auseinandersetzungen zwischen den großen Weltreligionen beträchtlichen Widerhall.

Von Hans-Martin Lohmann | 24.04.2006
    Es ist noch nicht lange her, da konstatierte der protestantische Theologe Friedrich Wilhelm Graf die Wiederkehr der Götter. Damit meinte er die erstaunliche Beharrungskraft religiöser Sprachmuster und Glaubensformen, die in transformierter Gestalt nicht nur allen wirtschaftlichen Modernisierungs- und politischen Säkularisierungsprozessen standhalten, sondern diese auch ihrerseits durchdringen. Das Religiöse lebt, bunter und vielfältiger denn je - so könnte man Grafs These grob zusammenfassen. Was diese These indes ausschließt oder zumindest relativiert, ist die schwer zu leugnende Tatsache, dass die religiöse und religionspolitische Selbstvergewisserung, der sich der Westen gegenwärtig unterzieht (wobei wir die Lage in den USA einmal außer acht lassen, weil sie dort völlig anders ist als in Europa), dass solche Selbstvergewisserung unmittelbar mit der islamistischen Herausforderung zusammenhängt. Sagen wir es frei heraus: Seit der blutigen Attacke vom 11. September 2001 auf die zentralen Symbole des christlich-kapitalistischen Westens, der weitere blutige Attacken folgten, steht Europa unter der verschärften Frage, wie wir es mit der Religion, der eigenen und der fremden, halten wollen. Niemand kann im Ernst behaupten, bei dem erkennbaren neuen Interesse am Thema Religion handele es sich um den autonomen Reflexionsprozess eines selbstbewussten Europa, das, etwa im Rahmen seiner Verfassungsdebatte, sich selber auf die Füße stellt.

    Denn eigentlich hatten wir das alles längst hinter uns - oder glaubten es doch zumindest. Der säkular-liberale Staat, eine Errungenschaft des 19. und 20. Jahrhunderts, mit seiner mehr oder minder gelungenen Trennung von Kirche und Staat, von individueller Glaubensfreiheit und weltlicher Ordnung, die jene Freiheit garantiert, sie jedoch auch in ihre Grenzen verweist, ermöglicht und sichert die friedliche Koexistenz von privater Religiosität und staatlichem Gesetz: Gebt dem Kaiser, was des Kaisers, und Gott, was Gottes ist. Damit konnten wir leben. Durch die islamistische Herausforderung, die uns auch den Blick für kopftuchtragende Musliminnen und türkische und maghrebinische Parallelgesellschaften mitten in unseren Großstädten geschärft hat, wird uns nunmehr eine Diskussion aufgezwungen, nach der sich in Alteuropa niemand gesehnt hat. Die Büchse der Pandora, die wir so gut und fest verschlossen glaubten, ist wieder weit geöffnet. Deshalb kann und muss man die Flut von Büchern, die derzeit zum Thema Religion auf den Markt geworfen werden, auch als Symptom lesen - als, wie ich meine, Symptom einer Regression, indem wir über etwas streiten, was eigentlich längst nicht mehr strittig sein sollte.

    Die kleine, aber höchst substantielle Schrift Friedrich Wilhelm Grafs über "Moses Vermächtnis" zeigt den zeitgenössischen aufgeklärt-liberalen Protestantismus von seiner brillantesten Seite. Er ist, ohne Zweifel, religiös toleranter und in der Sache differenzierungsfähiger als etwa der römische Katholizismus. Denn Graf steht wie selbstverständlich auf dem Boden der modernen Trennung von Religion, Moral und Recht sowie der Konsequenzen, die solche Trennung für die Religion hat, was man vom Katholizismus nicht unbedingt und vom Islam wohl kaum sagen kann. Das Vermächtnis des Mose, der Dekalog, ist in Grafs Augen denn auch kein starres Gesetz, sondern das Produkt eines Jahrhunderte langen Prozesses der Überlieferung und der Reflexion, das immer wieder neu auslegungsfähig und
    -bedürftig ist.

    " In manches Gottes Offenbarungswort gewinnen 'Ordnung', 'Autorität' und 'Dienst' nun einmal einen dunkleren, fordernderen Klang als in den mehrstimmigen Schöpfungskantaten heiterer Gotteskinder. "

    Mit anderen Worten: Grafs protestantischer Gott und seine Gebote sind im Kern "pluralismusfähiger", als den monotheistischen Religionen gemeinhin nachgesagt wird, und stehen somit unter dem Vorbehalt ihrer ständigen kulturellen Revision, Ausdeutung und Ausdifferenzierung. Andererseits gibt der Autor klar zu erkennen, dass er vom "Polytheismus-Lob" etwa eines Jan Assmann herzlich wenig hält - in dieser Kritik kommt dann doch der christliche Glaube an den einen Gott ins Spiel. In einer abschließenden Volte seines kulturprotestantischen "Denkglaubens", der sich insgesamt als ziemlich strapazierfähig und modernitäts-kompatibel erweist, wird diesem Gott das letzte Wort über Gültigkeit und Verbindlichkeit seiner Gebote überlassen:

    " Wie alle von Menschen gemachten Gesetze steht auch jede menschliche Deutung von Gottes Gesetz unter dem heilsamen eschatologischen Vorbehalt, dass Gott wohl besser als die Gläubigen weiß, was er Mose zu sagen hatte. "

    Zwischen dem gelassenen Protestantismus Grafs und dem hardcore-Katholizismus Joseph Ratzingers steht das opus magnum von Otto Kallscheuer, "Die Wissenschaft vom Lieben Gott". Das Buch des gelernten Politikwissenschaftlers und Philosophen entpuppt sich als eine wahre Fundgrube gelehrten Gottsuchertums, angesiedelt im Spannungsfeld von Glaube und Glaubenszweifel, von Glaubensbekenntnis und Glaubenskritik, und keine Position, sofern sie sich seriöser Begründungen rühmen kann, wird ausgelassen. Kallscheuers Credo lautet, der in der christlichen Religion aufbewahrte Erfahrungsgehalt sei immer noch geeignet, Fragen zu formulieren, die sich auch heute keineswegs erledigt haben. Theologischen Dünnbrettbohrern wie Eugen Drewermann, Hans Küng und Franz Alt und den religiösen Billiganbietern des New Age wird exemplarisch vorgeführt, dass sich die Frage nach der Wahrheit und der Liebe Gottes nicht in vagen Hinweisen auf ein Weltethos und in ein paar Antworten aus der psychologischen Trickkiste erschöpft. Das Beste, was man über Kallscheuers nicht ohne hintersinnigen Witz verfassten Gottestraktat sagen kann, ist, dass er absolut nicht fernsehtauglich ist. Auch eingefleischte Atheisten werden an diesem Buch ihre helle Freude haben, sofern ihnen scharfsinnige Argumente etwas wert sind. Auf Kallscheuers intellektuellem Niveau wirft die Auseinandersetzung mit der Theologie einen satten Mehrwert ab.

    Der Wagenbach Verlag hat ein schmales Buch herausgebracht, in dem eine Debatte zwischen dem vormaligen Kardinal Joseph Ratzinger und dem Herausgeber der Zeitschrift MicroMega, Paolo Flores d’Arcais, dokumentiert ist, die im Februar 2000 im römischen Teatro Quirino vor einem riesigen Auditorium stattfand. Der prominente italienische Intellektuelle und der heutige Papst Benedikt XVI., beide hochkarätige Vertreter ihrer jeweiligen Sache - eines reflektierten Atheismus hier und katholischer Rechtgläubigkeit dort -, erörterten die Frage "Gibt es Gott?". Dass die Antwort auf diese alte Frage naturgemäß kontrovers und vor allem asymmetrisch ausfällt, macht das Statement von Flores d’Arcais deutlich:

    " Der Atheist [...] ist überhaupt nicht daran interessiert, den Gläubigen von der Inexistenz Gottes zu überzeugen, er hat keinerlei Interesse daran, jemanden von seinem Glauben abzubringen. [...] Atheist sein bedeutet einfach, der Meinung sein, dass sich alles hier und jetzt in unserer begrenzten und unsicheren Existenz abspielt."

    Demgegenüber steht die römisch-katholische Theologie unter dem Zwang, eine Plausibilität Gottes begründen zu müssen, die nicht einfach auf den Akt einer privaten Glaubenswahl verweist, sondern das Überpersönliche, Universelle und Notwendige dieser Wahl hervorkehrt. Ratzinger, ein mit allen Wassern gewaschener Vertreter der Orthodoxie im Sinne ihrer katholischen Verschärfung und Zuspitzung, versucht den Glaubenszweiflern und -kritikern den Wind dadurch aus den Segeln zu nehmen, dass er sich auf eben das Prinzip beruft, das jenen heilig ist - auf das der Vernunft. Aller Anfang, so Ratzinger, sei immer schon Logos, somit vom Göttlichen durchwirkt:

    " Es geht um die Frage, ob das Wirkliche auf Grund von Zufall und Notwendigkeit, also aus dem Vernunftlosen, entstanden ist, ob mithin die Vernunft ein zufälliges Nebenprodukt des Unvernünftigen und im Ozean des Unvernünftigen letztlich auch bedeutungslos ist oder ob wahr bleibt, was die Grundüberzeugung des christlichen Glaubens und seiner Philosophie bildet: In principio erat verbum - am Anfang aller Dinge steht die schöpferische Kraft der Vernunft. Der christliche Glaube ist heute wie damals die Option für die Priorität der Vernunft und des Vernünftigen. Diese Letztfrage kann nicht mehr durch naturwissenschaftliche Argumente entschieden werden, und auch das philosophische Denken stößt hier an seine Grenzen. In diesem Sinne gibt es eine letzte Beweisbarkeit der christlichen Grundoption nicht. "

    Indes ist es genau diese letzte Unbeweisbarkeit der "christlichen Option", die diese zur persönlichen Glaubensangelegenheit macht und alle Debatten zwischen Gläubigen und Nichtgläubigen als so sinnlos erscheinen lässt. Man fragt sich, mit welchem Ziel ein kluger Kopf wie Flores d’Arcais jemanden wie Joseph Ratzinger partout davon überzeugen will,

    " dass man mit Vernunftgründen zu einer anderen Wahrheit oder widerstreitenden Ansichten gelangen kann "

    als zu solchen, die der Katholizismus verkündet. Denn anders als ein geschmeidiger Kulturprotestantismus, der auf solche Einwände immer eine wenigstens vorläufige Antwort parat hat, sieht sich die römisch-katholische Orthodoxie per definitionem außerstande, auch nur einen Millimeter von ihrer theologischen Linie abzuweichen. Als Leser kann man allenfalls Bewunderung dafür aufbringen, mit welcher intellektuellen Spitzfindigkeit Ratzinger die Angriffe seines Widersachers pariert und ins Leere laufen lässt.

    Bis heute tut sich die katholische Kirche schwer damit, die Sphären von Glaube, Moral und Politik säuberlich zu trennen, wie sich etwa an der Abtreibungsfrage zeigt. In ihrer Perspektive erscheint der religiös-weltanschaulich neutrale Staat, in dem Religion eine unter vielen Optionen ist und als Privatsache gilt, als die allenfalls zweitbeste Lösung. Fatal wäre es freilich, wenn unter dem wachsenden Druck der islamistischen Herausforderung, die jene Sphärentrennung rückgängig machen will, die Idee vom christlichen Abendland wieder fröhliche Urständ feiern würde. Es kann heute nicht mehr um die religiöse Mobilmachung Europas gegen den Islam gehen, wie wir sie aus der Geschichte der letzten tausend Jahre kennen, sondern allein darum, die kostbare historische Errungenschaft des laizistischen Staats und der säkularen Gesellschaft zu bewahren.

    Paolo Flores d’Arcais/Joseph Ratzinger: Gibt es Gott?
    Wahrheit, Glaube, Atheismus
    Wagenbach Verlag, Berlin 2006, 112 Seiten, 9,90 €

    Otto Kallscheuer: Die Wissenschaft vom lieben Gott
    Eine Theologie für Recht- und Andersgläubige, Agnostiker und Atheisten
    Die Andere Bibliothek, Band 249, Eichborn Verlag, Frankfurt 2006, 488 Seiten, 34 €

    Friedrich W. Graf: Moses Vermächtnis - Über göttliche und menschliche Gesetze
    Verlag C.H. Beck, München 2006, 100 Seiten, 12 €