Freitag, 03. Mai 2024

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Neues von Romain Gary
Liebesgeschichte zur Résistance

Romain Garys letzter Roman wurde nach dem Suizid des Autors 1980 zum eindrucksvollen Vermächtnis - aber erst 2018 ins Englische übersetzt. Einst in der DDR verlegt, ist er jetzt endlich aufs Neue zu lesen – siebzig Jahre nach dem deutschen Angriff auf Polen und Frankreichs halbherziger Kriegserklärung.

Von Christoph Haacker | 16.09.2019
Porträt des Schriftstellers Romain Gary (1914-1980) aus dem Jahr 1956
Endlich da: der letzte Roman von Romain Gary (imago)
Romain Gary, im Zweiten Weltkrieg Kampfflieger von "France Libre", eroberte spielend auch den Literaturbetrieb und die Frauen. Er schrieb das Drehbuch zum D-Day-Klassiker "Der Längste Tag" und erschlich sich 1975 unter dem Pseudonym Emile Ajar mit "La vie devant soi" kreativ seinen zweiten Prix Goncourt. Umso verblüffender, dass sein letzter Roman "Les Cerfs-Volants" erst 2018 ins Englische übersetzt wurde. Schließlich war das Buch zum Vermächtnis eines Starautors geworden. Denn 1980 erschoss sich Gary in Paris. William Styron erinnerte sich an eine Begegnung zwei Jahre zuvor, als sie sich über die Depressionen von Albert Camus unterhielten – und Gary seine eigenen ansprach:
"Als russischer Jude, der in Litauen geboren wurde, schien Romain schon immer von einer osteuropäischen Melancholie beherrscht zu sein … Er sagte, er könne ein Flackern des verzweifelten Geisteszustandes wahrnehmen, der ihm von Camus beschrieben worden war."
Irrwege eines künftigen Bestsellers
Nicht einmal Garys Tod verschaffte seinem letzten Werk internationale Aufmerksamkeit. Allerdings kam es 1989 in der Übersetzung von Jeanne Pachnicke in der DDR heraus, unter dem Titel »Gedächtnis mit Flügeln«, als Nr. 638 der Reihe "bb" – billige Bücher – des Aufbau-Verlags. Dass im Internet von der üblichen Riesenauflage nur zwei Exemplare zu haben waren, legte einen traurigen Grund nahe: die Berge druckfrischer Bücher auf Halden und in Altpapiermühlen der Wendezeit. Ob das wirklich so war, muss offenbleiben. Aus dem Aufbau Verlag erfuhr ich:
"Über das Schicksal der Verlagsproduktion eines Landes im Untergang ist ja schon viel geschrieben worden. Im Monatstakt passierte Neues, Unerhörtes. Da flogen eben nicht nur die alten Sofas auf den Müll."
Hinein ins Buch: Das normannische Kaff Cléry hat nur zwei touristische Attraktionen: das Restaurant Clos Joli, einen Wallfahrtsort der französischen Cuisine, und ein Museum, gewidmet einem Ambroise Fleury. Um beide Orte spinnt Romain Gary seinen roten Faden und zum Bindeglied zwischen ihnen wird der Junge Ludovic.
Der Spleen des Onkels
Er wächst in den 30er-Jahren als Vollwaise bei seinem Onkel auf, und schon der tickt nicht ganz richtig. Ambroise ist der Dorfbriefträger, davon besessen, Papierdrachen zu bauen – allerdings nicht irgendwelche, sondern solche mit Gesichtern. Es sind Berühmtheiten der französischen Kultur oder Politik, und so bevölkert bald sein fliegendes Panthéon den Himmel – nicht zu übersehen:
"Onkel, diese Pariser haben sich über Sie lustig gemacht, sie haben gesagt, Sie seien übergeschnappt."
Der Spleen des Onkels färbt auf den Neffen ab, als der zehnjährige Ludo, den Kopf noch voller "Lederstrumpf" und Irokesen, den Bauch voller Beeren, im Wald eine Begegnung hat:
"Mitte Juni, vollgefressen und vor mich hin dösend, erblickte ich, als ich die Augen öffnete, vor mir ein sehr blondes Mädchen, unter einem großen Strohhut, das mich streng ansah."
Ich reichte dieser blonden und strengen Erscheinung eine Handvoll Erdbeeren. So billig kam ich aber nicht davon. Das Mädchen setzte sich neben mich und bemächtigte sich, ohne meiner Opfergabe auch nur die geringste Aufmerksamkeit zu schenken, des ganzen Korbes. Damit waren die Rollen ein für allemal verteilt. Als nur noch wenige Erdbeeren auf dem Boden des Korbes lagen, gab sie ihn mir zurück und ließ mich, nicht ohne Vorwurf, wissen: "Mit Zucker schmecktʼs besser."
Kleine Diva, großes Verlieben
Die noch namenlose Mademoiselle verabschiedet sich wie eine Diva: "Ich werde wiederkommen, falls ich nichts Besseres zu tun habe", und lässt den fortan emsig, aber fruchtlos, Beeren sammelnden Ludo zappeln und träumen – vier Jahre lang. Dann ist sie wieder da. Und entpuppt sich als polnisches Adelstöchterlein. Damit ist sie für ihn eigentlich wie vom anderen Stern – unerreichbar. Ist es diese Konstellation, die mich an eine Verliebtheitsgeschichte unter ähnlichen Vorzeichen, Tadeusz Konwickis, wenngleich düsterere, "Chronik der Liebesunfälle", denken lässt? Ludo jedenfalls ist nicht nur in der Liebe noch ziemlich unerfahren:
"Ich denke nur Gutes über Polen, es ist berühmt für …"
"Wofür?"
Ich schwieg. Ich stellte mit Grauen fest, dass das Einzige, was mir zu Polen einfiel, die Redewendung "voll wie ein Pole" war.
Sie lachte.
Was hier schon nach einer Beerdigung Erster Klasse für die Liebe eines pubertären Jungen klingt, nimmt einen märchenhaften Verlauf. Denn Ludo hat Persönlichkeit, ist dem Spiel seines schönen Gegenübers ganz anders gewachsen und taucht in jenem Sommer 1936 auf deren benachbarter Sommerresidenz in die strahlende Welt jener Bronickis ein.
Der Schrei steigt hoch
Er lernt den Bruder Tadeusz kennen und schließlich entdecken Ludo und Lila staunend mehr:
"Und dann, eines Tages, hörte ich eine unbekannte Stimme Lilas, die kein Vokalgenie je übertreffen kann […] Der Schrei stieg so hoch, dass ich […] mich fühlte, als hätte ich gerade Gott gegeben, was ihm gebührt. […]: "Ludo, ach Ludo, was haben wir getan?" Alles, was ich wahrheitsgemäß darauf antworten konnte, war: "Ich weiß nicht." – "Wie konntest du nur?"
Bald schon soll Ludo Lilas Vater, dem spielsüchtigen Grafen, mit seinen phänomenalen Rechenkünsten neue Reichtümer erschließen. Bedroht scheint die Liebe nur von einem Rivalen: Hans von Schwede, dem deutschen Cousin der Bronickis aus Ostpreußen. Am ersten September 1939 schiebt sich die Weltgeschichte dazwischen. Zurück von einem Besuch in Polen und durch den Kriegsausbruch abgeschnitten von Lila, befällt Ludo die Liebeskrankheit:
"So kann es nicht weitergehen, Ludo. Man sieht dich mit einer nicht anwesenden Frau redend durch die Straßen gehen. Man wird dich irgendwann einsperren."
"Na und, sollen sie uns doch einsperren. Sie wird bei mir bleiben, drinnen wie draußen."
"Scheiße", sagte mein Onkel, und es war das erste Mal, dass er auf diese Weise in der Sprache der Vernunft mit mir redete.
Ludo bleibt davon beseelt, nach dem Krieg seine Geliebte wiederzufinden, mit der er weiter im Gespräch ist – in Tagträumen und nachts. Abwechslung bietet die Anstellung in jenem Spitzenrestaurant in Cléry. Dessen Chef Duprat sieht nach dem Zusammenbruch im Juni 1940 in der Rettung der französischen Küche einen Akt des Widerstands. Selbst die Besatzer sollen die Überlegenheit Frankreichs schmecken müssen:
"Hör gut zu, Du Vollidiot […] Unsere Politiker haben Verrat begangen, unsere Generäle haben sich als Schlappschwänze erwiesen, aber die große französische Küche wird bis zum Schluss verteidigt werden."
Manieren, Bildung, Maskerade
Duprat gerät so schnell in den Ruch der Kollaboration, doch zum Glück ist Ludo inzwischen für die Résistance aktiv. So bringt er Duprat aus der Schusslinie, indem er ins Clos Joli Informanten des Untergrunds einschleußt, die den deutschen Offizieren Geheimnisse ablauschen – zu Tisch oder danach im Bett. Dabei spielt Julie Espinoza eine schillernde Rolle: eine Puffmutter, die sich mit Ludos Hilfe Manieren und Bildung antrainiert, um ihre jüdische Haut hinter einer glänzenden Maskerade als steinreiche Verwandte des ungarischen Diktators Horthy zu retten.
Nicht die einzige Verstellung: Denn Hans von Schwede entpuppt sich schließlich als Verschwörer innerhalb der Wehrmacht. Das klingt irrsinnig konstruiert, ist aber nicht gar so abwegig, wenn man bedenkt, dass in Paris am 20. Juli 1944 Offiziere um Carl Heinrich von Stülpnagel den Staatsstreich einleiteten und von Schwedes Rolle an Fabian von Schlabrendorff erinnert. Auch Lila und Ludo sehen sich wieder – unter Umständen, die all sein romantisches Sehnen wie eine Seifenblase bös platzen lassen. Aber er ermannt sich und nach der Invasion sehen sie vereint ihrem Ende entgegen:
"Wir nutzten eine Gefechtspause […] als hundert Meter vor uns in breiter Front deutsche Panzer auftauchten. […] Ich ergriff Lilas Hand. Wir verharrten regungslos im Feld. Keiner meiner gefallenen Kameraden hatte das Glück gehabt, so wie ich eine Hand in der seinen zu halten. Das war sozusagen mein letzter Gedanke. […] Und Lilas Profil, das blonde Haar im Nacken und auf ihren Schultern, das Gesicht, auf dem die Angst beschlossen hatte zu lächeln."
Gary als notwendiger Nestbeschmutzer
Romain Garys Fabulierkunst ist überbordend, die Dialoge sind teils von grandiosem Witz, es ist eine Lust, das zu lesen. Warum nur blieb dieses europäische Liebespaar Lila und Ludo, warum dieses lichte Buch bloß so im Schatten? Ob eine Rolle gespielt hat, dass Gary Unterhaltung von höchstem Niveau mit einer massiven Infragestellung eines selbstgerechten französischen Geschichtsbilds verbindet?
"Ich hasste die Deutschen nicht mehr. Drei Jahre nach der Niederlage erschwerte alles, was ich gesehen hatte, mir jene Routine, die darin bestand, Deutschland auf seine Verbrechen und Frankreich auf seine Helden zu reduzieren."
Vor allem legt Gary den Finger in die Wunde der Mittäterschaft von Franzosen an der Deportation der Juden, so der Internierung im Velodrȏme dʼHiver, wie sie in Joseph Losys Film "Monsieur Klein" von 1976 mit Alain Delon und Jeanne Moreau ebenfalls für Aufsehen sorgte.
Letzte Botschaften der Gerechten
Noch 2017 stellte Marie le Pen die französische Mitverantwortung daran in Abrede. Wo viele mitgemacht, viele geschwiegen und wenige gehandelt haben, setzt Garys stiller Held Ambroise Fleury eine Geste der Solidarität, die ihn nach Buchenwald und Auschwitz bringt:
"Sieben Drachen standen am Himmel über La Motte. Sieben gelbe Drachen. Sieben Judensterne. […] Umringt von ein paar Kindern, stand mein Onkel Ambroise auf der Wiese vor der Hütte und schaute zum Himmel empor, wo die sieben Sterne der Schande schwebten."
Das vielleicht Letzte, was der Autor Gary überhaupt zu sagen hatte, war die Verbeugung vor französischen "Gerechten unter den Völkern", die in Dörfern in den Cevennen bis zu 5000 Flüchtlinge retteten – als denkwürdige letzte Sätze von "Die Jagd nach dem Blau". In seinem Abschiedsbrief bezieht er sich erneut auf diese Zeilen mit dem Zusatz, er habe sich nun endlich vollständig ausgedrückt.
"Ich beende diese Geschichte, indem ich noch einmal den Namen des Pfarrers André Trocmé niederschreibe und den von Le Chambon-sur-Lignon, denn besser könnte man es nicht ausdrücken."
Romain Gary: "Die Jagd nach dem Blau".
Aus dem Französischen von Jeanne Pachnicke
Rotpunktverlag, Zürich, 376 Seiten, 24 Euro