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Neuroleptika mit Nebenwirkungen

Das Neue gilt gemeinhin als das Bessere: zum Beispiel bei Antipsychotika der zweiten Generation. Doch nicht alle Patienten vertragen diese besser als die Medikamente aus den 50er-Jahren. Eine aktuelle Studie, bei der mehr als 9000 wissenschaftliche Arbeiten ausgewertet wurden, hat nun etwas mehr Klarheit gebracht.

Von Michael Engel | 28.08.2012
    Die neuartigen Medikamente gegen Psychosen beziehungsweise Schizophrenien werden häufig als "Neuroleptika der zweiten Generation" beziehungsweise atypische Neuroleptika bezeichnet. Atypisch deswegen, weil sie die typischen Nebenwirkungen der älteren Präparate nicht mehr haben. Frei von unerwünschten Nebenwirkungen sind aber auch die neuartigen Wirkstoffe nicht.

    Patient: "Also ich habe im Laufe der Zeit insgesamt 15 Kilo zugenommen. Und das ist also auch geblieben über einen langen Zeitraum. Und das ist etwas, was das körperliche Gefühl unheimlich herabsetzt. Und wo man auch nicht mit Sport dagegen angehen kann."

    Neben der Gewichtszunahme können "atypische Neuroleptika" auch Muskeln verkrampfen, die Sexualität stören und sogar Diabetes auslösen. Seit den 90er-Jahren – seitdem vermehrt die Neuroleptika der zweiten Generation verordnet werden – gibt es eine Diskussion über die Vor- und Nachteile, sagt Prof. Thomas Hillemacher – stellvertretender Leiter der psychiatrischen Klinik an der Medizinischen Hochschule Hannover:

    "Weil bis vor wenigen Jahren es noch galt, man dürfte Medikamente der ersten Generation eigentlich gar nicht verwenden, sondern nur die modernen Präparate. Und die Studien zeigen jetzt doch ziemlich deutlich, dass die Sache so einfach nicht ist."

    Dies betrifft vor allem die Dosierung. In den 50er-Jahren galt noch die Devise "viel hilft viel", sagt Thomas Hillemacher. Erst bei Medikamenten der zweiten Generation seien die Dosierungen deutlich abgesenkt worden:

    "Und das ist auch ein Problem bei vielen Studien, die in der Vergangenheit gemacht wurden, bei denen sehr hohe Dosen von Medikamenten der sogenannten ersten Generation verglichen wurden, mit vergleichsweise niedrigen Dosen der zweiten Generation. Und man dann eben überraschenderweise oder eben nicht überraschenderweise festgestellt hat, dass die Medikamente der zweiten Generation weniger Nebenwirkungen machen."

    Auch geringer dosiert sind Präparate der ersten Generation denen der zweiten durchaus ebenbürtig. Das ist das Ergebnis einer aktuellen Studie: Psychosen lassen sich mit älteren Präparaten also genauso gut behandeln. Neuere Antipsychotika beziehungsweise Neuroleptika sind aber leicht im Vorteil, weil sie tatsächlich weniger Nebenwirkungen haben. Für Kliniker wie Prof. Thomas Hillemacher bedeutet die Studie: Wenn Patienten mit Präparaten der ersten Generation gut klarkommen, wird daran nicht gerüttelt. Ansonsten gibt er modernen Psychopharmaka den Vorzug. Doch auch hier ist Vorsicht geboten:

    "Es gibt beispielsweise Medikamente, die häufig zu einer Gewichtszunahme führen. Die würden wir jetzt bei einem Patienten, der schon Übergewicht hat, nicht einsetzen. Und so schaut man individuell eher nach den Nebenwirkungen, was ist eigentlich das geeignete Medikament."

    Therapieabbrüche sind deswegen häufig, so der Psychiater. Oft geht es dann über viele Wochen nur darum, andere Medikamente mit besserer Verträglichkeit zu finden. Doch nicht alle Mediziner machen sich die Mühe, sagt Rose-Marie Seelhorst – die Vorsitzende der Arbeitsgemeinschaft der Angehörigen psychisch Kranker aus Hannover:

    "Nach meinen Erfahrungen kann man einem psychisch Kranken nicht einfach mit Medikamenten helfen, sondern er braucht dringend eine ganz dichte, menschliche und fachärztliche Begleitung. Das Gespräch findet ganz selten statt."

    Nach Ansicht von Rose-Marie Seelhorst gehört die Therapie mit Neuroleptika in die Hand von Psychiatern beziehungsweise Fachärzten. Dort einen Termin zu bekommen, sei für Betroffene mit einer Psychose oder Schizophrenie sehr schwierig. Viele Patienten, so ihre bittere Bilanz, werden leider nicht optimal versorgt.