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Neustart am Kleinen Haus in Dresden

1998 wurde das Kleine Haus des Staatsschauspiels Dresden geschlossen. Zu marode war die 1863 eröffnete ehemalige Tonhalle geworden. Doch obwohl auch Dresden im Kulturbereich mächtig zu sparen sucht, hat man das Kleine Haus nicht eingespart, sondern für dessen Wiederauferstehung rund 10,6 Millionen Euro eingesetzt. Entstanden ist ein veritabler Neubau im Geiste des alten Gebäudes. Nur die Hausfront, der gepflasterte Vorplatz und die doppelflüglige Treppe blieben erhalten, alles andere wurde auf höchstem technischen Niveau und mit ästhetischem Geschick erneuert. Moderne seitliche Glasvorbauten mit einem Bistro fügen sich harmonisch an die klassizistisch wirkende Fassade. So wurde das alte-neue Haus mit etlichen bürgerstolzen und kulturbewussten Reden und drei Premieren eröffnet.

Von Hartmut Krug |
    Denn es ist ein Haus für drei Nutzer geworden: Zum einen dient es dem Staatsschauspiel als Kammerspiele, zum anderen ersetzt es dessen externe Experimentierbühne, das geschlossene "Theater in der Fabrik." "Neubau" nennt sich die von einem jungen Team unter Leitung des 34-jährigen Regisseurs Walter Meierjohann verantwortete Reihe, die Donnerstags und Freitags modernes Theater für die 17- bis 35-jährigen präsentieren soll. "Club Europa" lautet das Motto für die erste Neubau-Spielzeit, und über die Veränderungen in Europa soll in den ersten Inszenierungen mit einem tschechischen, einem niederländischen und einem sibirischen Autor nachgedacht werden.

    Der dritte Nutzer ist die Hochschule für Musik mit ihren Diplominszenierungen. Gleich die zweite Premiere im neuen Haus galt Gottfried von Einems "Besuch der alten Dame". Wieder eröffnet aber wurde das Theater mit der Uraufführung der Bühnenfassung eines Filmdrehbuchs: Intendant Holk Freytag zeigte Aki Kaurismäkis "Der Mann ohne Vergangenheit". Das soziale Märchen um einen Mann, der nach einem Überfall mit seinem Gedächtnis auch seine Identität verliert, aber eine neue findet unter kleinen Leuten, die als Verlierertypen mit Restmenschlichkeit und viel Skurrilität gezeigt werden, bis er zu einer neuen Liebe und zu sich selbst findet, es kommt als zugleich armes wie poetisches Theater daher.

    Seht her, sagt diese erste und bewusst theatermetaphorische Inszenierung im technisch hochgerüsteten Haus: Theater findet in und aus der Fantasie statt. Die pittoreske Atmosphäre von Kaurismäkis Finnland wird nur in den Kostümen zitiert. Auf der leeren, von Olaf Altmann, sonst für Michael Thalheimers Bühnenbilder zuständig, nur mit halbhohen, wie zu Drehkreuzen angeordneten, beweglichen Wänden ausgestatteten Bühne wird jede Geste, jede angedeutete Requisite aus der Luft genommen.

    Der Mann tritt wie eine bandagierte Mumie in die Kulissen ein und wird mit ihnen durch die Gesellschaft gedreht, die ihn im doppelten Wortsinn anzieht und in Bewegung setzt. Begleitet von der Akkordeon-geprägten Musik einer vierköpfigen Band wird hier ein modernes Märchen mit faszinierender formaler Strenge gezeigt. Wie zum Beispiel Christine Hoppe das Heilsarmeemädchen spielt, das zum Mann ohne Vergangenheit findet, indem sie spröde und wortkarg mit ruhigen, tropfenden Worten, zugleich wie von innen leuchtend, erscheint, das lässt an Kati Outinen aus Kaurismäkis Filmen denken und ist doch zugleich nur ein Beispiel für die schauspielerisch neuschöpfende Phantasie eines beeindruckenden Ensembles.

    Auch die erste "neubau"-Inszenierung bietet Identitätssuche. In der deutschsprachigen Erstaufführung von "Geschichten vom alltäglichen Wahnsinn", dem ersten Theaterstück des bekannten jungen tschechischen Filmregisseurs Petr Zelenka tobt sich eine orientierungslose Generation der Mittdreißiger zwischen Hedonismus und alltäglicher Anarchie aus. Eine Bühne, verborgen hinter einer Schiebetür im Breitwandformat, die sich an den unterschiedlichsten Stellen wie zu einer schnellen Aufblende oder einem Schnitt öffnen kann, wird von der Bühnenbildnerin Steffie Wurster im zweiten Teil aufgerissen.

    Dann treiben die einzelnen Teile dieses zuvor zusammenhängenden gesellschaftlichen Zimmers mit seinen skurrilen Bewohnern wie Inseln auf der leeren weiten Bühne. Die Bildhaftigkeit der Bühne unterstützt das Bemühen von Regisseur Walter Meierjohann, die kurzen, schnellen Szenen mit ihren pointierten Dialogen in kräftige Bewegung zu versetzten. Die Schauspieler werfen sich mit enormem Tempo in eine grotesk aufgeschrillte, höchst amüsante Spielweise.

    Da gibt es Petr, der Probleme mit seiner davongelaufenen Freundin, aber auch mit seiner dominanten Mutter hat. Sein Vater, ein ehemaliger Wochenschausprecher, versucht, andere Menschen zu verstehen, indem er in deren Kleidung schlüpft, während Petrs Freund Mücke mangels Freundin mit seinem Staubsauger und dem Abflussrohr onaniert, letzteres mit blutigen Folgen. Später greift er erst zu seiner Putzfrau, dann zu einer Schaufensterpuppe, und steigert sich bei seiner Sinnsuche in einen blutig selbstverletzenden religiösen Wahn. Das Stück, anfangs von einem kommentierenden Hammondorgel-Spieler begleitet und von Filmszenen umrahmt, kommt mit seiner großen Fülle weiterer grotesker Normalmenschen und mit seinen skurrilen Situationen wie eine überdrehte, aber auch poetische Soap daher. Zwar förderte die Sinnsuche von Zelenkas Figuren nicht allzu viele Erkenntnisse jenseits ihres stupenden Unterhaltungswertes zu tage, doch das junge Dresdner Publikum war hellauf begeistert: Wurde es doch von einer schwungvollen Inszenierung aufs Beste und lachhafteste unterhalten. So fanden sich in der Eröffnungswoche des Kleinen Hauses des Staatsschauspiels Dresden das alte kulturbewusste Dresdner Bürgertum wie das junge, studentische Publikum gleichermaßen gut bedient. Ein Erfolg auf der ganzen Linie.