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Neustart am Theater Chemnitz

Ein Theaterstück über den Versuch eine Filmdokumentation zu drehen über eine DDR-Familie; und Schnitzlers Bühnengedanken über die Tage die uns bleiben, wenn wir wissen, dass wir sterben - zwei der Werke, die das Chemnitzer Theater uraufführt - mit Erfolg, wenn auch mit kleinen Abstrichen.

Von Hartmut Krug | 23.11.2008
    Michael weiß, dass Dokumentationen über die Menschen Ostdeutschlands auf großes Interesse treffen. Deshalb hat er sich an der Filmhochschule mit einem Dokumentarfilm über seine Familie beworben, - den muss er allerdings noch drehen. Das preisgekrönte Stück "Achtzehn Einhundertneun – Lichtenhagen" der 1986 in Wismar geborenen Anne Rabe nennt in seinem Titel die Postleitzahl der Plattenbausiedlungen von Rostock-Lichtenhagen. Hier, wo es 1992 zu den schlimmsten, gewalttätigen fremdenfeindlichen Ausbrüchen in Ostdeutschland gekommen ist, lebt Michael mit seiner Schwester und seiner Mutter. Sein geliebter Vater, zu DDR-Zeiten Lehrer und Stasi-Spitzel, ist nach der Wende in den Westen "geflüchtet". Anne Rabe untersucht in ihrem Stück, wie sich Familienstrukturen nach der Wende entwickelt haben für junge Menschen wie Michael und seine schwangere Schwester Klara, die nur noch wenige DDR-Jahre erlebten. Auf dem Theater wird die scheiternde Produktion eines Dokumentarfilm gezeigt, - Michael fordert Authentizität ein, und alle inszenieren sich oder produzierten vorgeformte Bilder. Sehr komisch ist das, wenn sich zum Beispiel Michael mit dunkler Sonnenbrille als cooler Regisseur geriert, oder wenn die Mutter den Topf mit Alpenveilchen immer wieder umarrangiert.

    Gezeigt wird ein spießig kleinbürgerliches Milieu. In einer Plattenbauwohnung, aus deren Fenster man den 1992 von rechten Demonstranten verwüsteten Plattenbau mit seiner Sonnenblumenverzierung sieht, deckt die Mutter, deren Verunsicherung die Schauspielerin Susanne Stein mit subtiler Körpersprache verdeutlicht, immer aufs neue den Kaffeetisch. Der reale Vorgang, bei dem erst sauber gemacht und dann eine Decke drüber gelegt wird, ist zugleich deutliche Metapher. Alle drei Familienmitglieder verhalten sich wie auf tastender, unsicherer Suche. Michael wird den Film wohl nicht mehr machen, nachdem die Mutter absichtlich sein Filmmaterial mit Wasser zerstört und sein Vater ihm das seit seiner Kindheit gewünschte Rennrad geschickt hat. Und Klara scheint nicht weiter an Vergangenheitsaufarbeitung interessiert zu sein, weil sie eine Stelle beim Rundfunk in Aussicht bekam.

    Die 27-jährige Regisseurin Julia Kunert inszeniert das Theaterstück als eine Folge kurzer, von Blacks unterbrochener winziger filmischer Momentaufnahmen. Die Theaterszene wirkt wie ein Filmset. Durch die Betonung der Flüchtigkeit der Situationen wird verdeutlicht, dass keine endgültig wahren Aussagen und keine Authentizität zu finden sind. Indem die Autorin die Suche von Menschen nach unverstellter Selbsterkenntnis und Selbstdarstellung ausstellt, entgeht ihr Stück, obwohl es zahlreiche Reizthemen wie Stasi und Mauerfall, Arbeitslosigkeit und Ausländerhass berührt, geschickt der drohenden Klischeefalle.

    In der Auseinandersetzung zwischen Michael, seiner Schwester und seiner Mutter werden sowohl die Beschädigungen der Menschen wie ihre Schwierigkeiten mit sich und der alten wie der neuen Zeit deutlich.
    Allerdings wirkt die Inszenierung, obwohl kaum eineinviertel Stunden lang, ein wenig langatmig.

    Auch mit dieser Uraufführung auf kleiner Bühne, während im großen Haus Yasmina Rezas "Der Gott des Gemetzels" lief, demonstrierte das junge Schauspielteam und sein neuer, erst 33jähriger Schauspieldirektor Enrico Lübbe, dass man sich in Chemnitz einiges vorgenommen hat. Neben der Uraufführung von Ulrike Syha Stück "Privatleben" und Thomas Bischoffs eigenwilliger Version der "Emilia Galotti" überzeugte vor allem die Uraufführung der frühen Novelle "Sterben" von Arthur Schnitzler. Ein junger Mann erfährt von seinem Arzt, dass er nur noch ein Jahr zu leben hat. Gezeigt wird nun auf der Bühne nicht etwa eine szenische Bebilderung und auch kein Einfühlungsversuch, sondern die seelischen Vorgänge werden untersucht und demonstriert. Man sieht, wie eine Liebe am Todesurteil für den Kranken kaputtgeht und die soziale Beziehung zu einem Freund sich verändert. Zu Beginn fällt Erde herab auf die leere, nur mit einem katafalkartigen Podest ausgestattete Bühne, - der Vorgang ist Metapher und schafft zugleich eine Grenzmarkierung zwischen den Weiterlebenden und dem Todgeweihten. Jungregisseur Wolfgang Türks inszenierte Schnitzlers zarte Geschichte als ein schauspielerisch so minimalistisches wie sensibel demonstrierendes, teils in der dritten Person berichtetes Spiel. Auch hier überzeugte das neue Chemnitzer Team.