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Nicht alle lieben das Kulturhauptstadtjahr

Marseille rüstet sich für das Kulturhauptstadtjahr. Doch die Künstler der Stadt fühlen sich übergangen und organisieren deshalb ein Off-Festival. Dutzende Projekte haben sie auf die Beine gestellt. Jeder soll mitmachen können bei diesem Festival des Antikonformismus.

Von Werner Bloch | 07.01.2013
    Fröhliche Musik aus dem sonnigen Süden. Doch dieser Reggae kommt nicht aus der Karibik, sondern aus Südfrankreich. Ausdruck der bunten alternativen Szene in Marseille und zugleich ein Protestsong der besonderen Art: eine, wenn man so will, Gegenhymne zu den offiziellen Festivitäten, dem Projekt "Europäische Kulturhauptstadt" 2013.

    "Kulturhauptstadt? Jaja. Aber mit authentischer Kultur hat das nichts zu tun."

    Während das Video läuft, sieht man die neu entstandenen Prachtgebäude von Marseille schon einmal in Flammen aufgehen.

    Die Stimmung ist schlecht unter den Kulturschaffenden, es grummelt in Marseille. Der Autor und Journalist Mika Biermann, der seit 30 Jahren in Marseille lebt und über die Kunstszene berichtet:

    "Die Künstler, die ich kenne, sind völlig mürrisch, böse, nicht zufrieden, überhaupt nicht happy. Da werden Projekte nicht ausgeschrieben und dann sitzen die Marseiller Künstler hier und sagen ich und ich. Das ist ein großes Missverständnis, dazu ist 2013 nicht gemacht."

    Marseilles Künstler fühlen sich übergangen. Und selbst Künstler, die mitmachen dürfen bei Marseille 2013, wie Gillles Desplanques, sind alles andere als zufrieden.

    "Die Regierung tut nichts für die Kultur, sie tötet die Kultur. Marseille und die Kultur? Das ist ein Riesenproblem. Wenn, dann besinnt man sich auf die sogenannte 'Tradition': Pagnol, van Gogh, die Krippenfiguren aus der Provence. Es fehlt ein großes Museum zur Gegenwartskunst. Jetzt will man im Rahmen der Kulturhauptstadt ein Museum eröffnen – aber das ist viel zu wenig. In Marseille leben eine Million Einwohner, die die Kultur im Mittelmeerraum mit geprägt haben und die im Verhältnis dazu völlig unterrepräsentiert sind."

    Doch es geht um noch mehr. Das Herz, der Charakter der provenzalischen Metropole steht auf dem Spiel, sagen die Kritiker. Marseille eigne sich nicht zu prestigeträchtigen Hochglanzveranstaltungen. Die alte Hafenstadt, das einstige Tor zur arabischen Welt und inzwischen längst selbst von vielen Algeriern, Marokkanern und Schwarzafrikanern bevölkert – Marseille ist die Stadt der Gegensätze, der Widersprüche. Eine rätselhafte Metropole, die selbst nicht genau weiß, was sie will, sagt die Künstlerin Anne Valérie Gasc:
    "Erfolg hat für die Einwohner von Marseille immer etwas Anrüchiges, Suspektes. Dies ist eine arme Stadt – arm an Geld, arm an Kultur. Aber reich an Geschichte, doch diese Geschichte manifestiert sich nicht wirklich. Der Marseiller sagt: Ich will einfach meine Ruhe haben. Marseille will immer Dritter werden, nicht erster. Die Menschen hier wollen niemals im Rampenlicht stehen, ihnen ist es lieber, wenn man sie unterschätzt."

    Für viele Kulturschaffende heißt es: jetzt erst recht! Sie gehen in die Offensive, organisieren sogar ein Off-Festival, zum ersten Mal überhaupt in der Geschichte einer "europäischen Kulturhauptstadt".

    Und das schon seit einem Jahr: Dutzende Projekte haben sie auf die Beine gestellt. Jeder soll mitmachen können bei diesem Festival des Antikonformismus. Da ist zum Beispiel die Aktion: "Die Kultur bereitet uns Kopfschmerzen." Jedermann kann ein zehnsekündiges Video einschicken, in dem er mit seiner Mimik einen Kommentar zur Lage abgibt. Zehn Sekunden, in denen die Kamera nur auf das Gesicht hält.
    Während die Gehälter der Top-Kulturmanager in drei Jahren um 17 Prozent gestiegen sind, bekommen die Künstler immer weniger. Die Organisation der "Europäischen Kulturstadt streicht 30 Prozent des Budgets für sich selbst ein – für Werbung und Kommunikation, heißt es.

    Doch die Werbung läuft schlecht, und die Künstler sollen zunächst mal nur ein Sechstel des vorgesehenen Kulturbudgets bekommen – skandalös wenig.