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Nicht auszumachen, wie die neue Welt aussieht

Säkulare apokalyptische Denk- und Verhaltensmuster der Gegenwart - von den münsteraner Wiedertäufern bis hin zur Ideologie des Nationalsozialismus'.

Von Ulrich Baron | 16.01.2011
    Drei eiserne Käfige hängen in Münster. Als sie 1536 dort am Turm der Lambertikirche emporgezogen wurden, lagen darin die verwesenden Leichen dreier Männer - den Vögeln zum Fraße und dem Volke zur Warnung, was mit Menschen geschah, die das Himmelreich auf Erden einführen wollten.

    Der eine war Prediger gewesen, der zweite Tuchhändler und Scharfrichter. Der dritte war ein niederländischer Schneider und für kurze Zeit König jenes Wiedertäuferreichs zu Münster, in dem die Prophezeiungen der Bibel Wirklichkeit werden sollten. Von feindlichen Truppen belagert, hatte ihr Regime bald groteske Züge angenommen.

    Die Täufer lebten in Gütergemeinschaft und trieben Vielweiberei. Für Ostern 1534 hatte der Prophet Jan Mathys das Erscheinen Jesu Christi angekündigt, aber war nach dessen Ausbleiben von feindlichen Söldnern in Stücke gehackt worden. Der Schneider Jan van Leiden war zum "König Johannes I." ernannt worden, doch obwohl sein Reich Missionare entsandte, blieb Hilfe von oben und draußen aus. Im Juni 1535 wurde Münster gestürmt. Hunderte von Täufern wurden getötet, und die Stadt war verwüstet.

    In seiner Endzeiterwartung war das Täuferreich dem mittelalterlichen Denken verhaftet; sein kritischer Impetus aber war von jenem radikalen Flügel der Reformation inspiriert, der nicht nur das geistige, sondern auch das weltliche Leben neu ordnen wollte. So schuf es sich selbst eine fatale, eine apokalyptische Perspektive, die sich nur durch eine gewaltsame Weltwende hätte erfüllen lassen.

    Dass sich die Welt wandelte, war freilich offenkundig. Spanier und Portugiesen hatten den Seeweg nach Indien und eine neue Welt erschlossen. Nikolaus Kopernikus rückte statt der Erde die Sonne in die Mitte des Universums. Stand gar die Geburt des Antichrist bevor, nachdem der rebellische Mönch Martin Luther 1524 die Nonne Katharina von Bora geheiratet hatte? Oder regierte der Antichrist längst als Papst in Rom und hatte es in ein neues Babylon verwandelt, das sich am Ablasshandel schamlos bereicherte?

    Zehn Jahre vor Beginn des Täuferreichs hatten Bauern gegen die infame Allianz ihrer feudalen und klerikalen Herren rebelliert. Martin Luther galt mit seiner Schrift "Von der Freiheit eines Christenmenschen" als Inspirator der Aufständischen. Er hatte 1525 "wider die mörderischen und räuberischen Rotten der Bauern" gewettert und gefordert, "man soll sie zerschmeißen, würgen, stechen, heimlich und öffentlich, wer da kann, wie man einen tollen Hund erschlagen muss." Die Täufer zählten zu diesen "tollen Hunden". Sie lehnten die Kindstaufe ab und propagierten die Gütergemeinschaft. Sie warfen der römischen Kirche vor, aus der Taufe "ein Kinderwaschen" gemacht zu haben und sprachen Laien religiöse Kompetenzen zu. In Traktaten und Flugschriften denunzierten sich die Kontrahenten gegenseitig. Man begann, die endzeitlichen Prophezeiungen der Bibel wörtlich zu nehmen und weckte damit die Apokalyptischen Reiter.

    Dass die Lage in Münster eskalierte, hatte auch handfeste Ursachen. Es gab Streit um politischen Einfluss und um die Übernahme des evangelischen Glaubens. Die Zuwanderung fanatischer Prediger und ihrer mittellosen Anhänger aus den Niederlanden schuf eine brisante Mischung aus bürgerlichem Ungehorsam, religiösem Überschwang und verzweifelter Armut. Arbeiter und Handwerker stießen sich an der Konkurrenz klösterlicher Manufakturen. Die Absetzung des Predigers Bernhard Rothmann erhitzte die Gemüter seiner Anhänger.

    Mit der Einführung der Erwachsenentaufe im Jahre 1534 verstieß man in der Stadt gegen das auf dem Reichstag zu Speyer erlassene Mandat, das die Wiedertaufe mit der Todesstrafe bedrohte. Damit war ein gewaltsames Eingreifen legitimiert. Und nun setzte ein fataler Mechanismus der Radikalisierung ein: Indem man seine Anhänger aus Sicht der Außenwelt zu Mittätern machte, schuf man einen unüberwindlichen Graben, der die Gemeinschaft in Konfrontation mit dieser Außenwelt vereinte. Und der theologische Kopf der Münsteraner, Bernhard Rothmann, lieferte dieser Radikalisierung einen apokalyptischen Rahmen.
    Rothmann wollte sich nicht mit Luthers Reformation begnügen, sondern forderte eine radikale "Restitution rechter und gesunder christlicher Lehre". Der Kirche warf er vor, die Worte Gottes verdreht und durch theologische Spitzfindigkeiten "verdüstert" zu haben. Dabei seien es doch gerade die einfachen, schlichten Gemüter, denen die Worte Gottes einleuchteten. Das verwandelte kirchliche Lehrmeinungen in Makulatur, denn gerade ihre Gelehrtheit sprach nun gegen sie. Nachdem die Theologen über Jahrhunderte hinweg die heiligen Schriften so interpretiert hatten, dass sie zum Gang der Welt passten, folgte Rothmann einer apokalyptischen Lesart, die besagte, der Anbruch einer neuen, der "dritten" Welt stünde bevor.

    Während Münster belagert wurde, suchte Rothmann nach dem Heil, das aus dem drohenden Untergang doch hervorgehen müsse. Im "Bericht von der Rache" beschwor er 1534 den Zorn des Herrn auf den "Kop der Godtloßen" herab:

    "Er will seinem Volk erzene Klauen machen und eiserne Hörner, Pflugscharen und Hacken sollen sie zu Schwertern und Spießen machen."


    Umbarmherzige Vergeltung an den Mächten Babylons würden Gottes Streiter üben, mit wehenden Fähnlein und Posaunenschall, aber diese Überwindung der Gottlosen sollte nur eine Übergangsphase sein. In "Von Verborgenheit der Schrift des Reiches Christ" beschrieb Rothmann Anfang 1535 den Gang der Geschichte in einem klassischen Dreischritt. Dreierlei Welten gebe es:

    "Nämlich die erste Welt, die im Wasser untergegangen ist; die andere, die im Feuer zerschmelzen soll, und schließlich die dritte, als neuer Himmel und neue Erde, in der die Sonne zehnmal klarer und der Mond wie die Sonne scheinen soll und in der alle Kreatur frei sein soll in der Herrlichkeit der Kinder Gottes, ja worin die Gerechtigkeit herrschen und wohnen soll."

    Bei aller martialischen Rhetorik wird Rothmanns Tonfall merklich sanfter, wenn er auf jene "Dritte Welt" zu sprechen kommt. Seine Lehre ähnelt den Ausführungen des Joachim von Fiore, der die Geschichte in Anlehnung an die Trinitätslehre in drei Zeitalter gegliedert und damit dem 13. Jahrhundert eine apokalyptische Perspektive eröffnet hatte. Auf die Zeit des Vaters und des Alten Testaments und die des Sohnes und des Neuen Testaments sollte schließlich das Zeitalter des Heiligen Geistes folgen. Darin würde nach Auftreten und Überwindung des Antichrist dann das Dritte Reich, die Ära des Himmlischen Jerusalems anbrechen.

    Die Vorstellung, dass am Ende die menschliche Vernunft die religiöse Offenbarung übernehmen könne, dürfte auch einem Bernhard Rothmann nicht ganz ferngelegen haben. Doch er war ein Kind seiner Zeit, und die duldete weder vernünftige Aufklärer noch apokalyptisch inspirierte Gläubige. Nachdem das göttliche Strafgericht über die Feinde Münsters ausgeblieben war, veröffentlichte Rothmann Anfang 1535 in "Von Verborgenheit der Schrift" ein melancholisches Resümee, das schon wie ein Nachruf auf überzogene Hoffnungen anmutete:

    "Nun beschlüsslich, das Reich Christi ist noch nicht gekommen, denn Israel streitet noch und muss darum zum Teil leiden, und es gehört eigentlich auch in diese Welt nicht, sondern mehr in die Dritte Welt, in der die Gerechtigkeit wohnen soll."

    Der Untergang der Wiedertäufer hat auch diesen letzten Hoffnungsfunken erlöschen lassen und die Frage aufgeworfen, wie viel apokalyptisches Denken dazu beigetragen hat. Gibt es eine apokalyptische Glaubensgewissheit, die Menschen in Scharen in den Untergang ziehen lässt? Zumindest gibt es einen fatalen Prozess der Selbstverstärkung, bei dem individuelle und kollektive Ängste und Krisenerfahrungen die Empfänglichkeit für apokalyptisches Denken erhöhen und Endzeiterwartungen erzeugen, die zur Eskalation führen. Wer mit der Todesstrafe rechnen muss, kann nur noch auf ein Wunder hoffen.

    Zum apokalyptischen Glauben aber gab es da schon eine Alternative. Mit seiner "Utopia" gab Thomas Morus 1516 jenen Gesellschaftsentwürfen einen Namen, die viele politische Diskussionen und Konzepte der Neuzeit prägen sollten. Und bereits im Denken der Täufer steckte der utopische Kern einer Gütergemeinschaft, eines urchristlich inspirierten Kommunismus.
    Man musste vielleicht gar nicht die ganze Welt verändern, sondern nur die Eigentumsverhältnisse, um sie besser zu machen. Aber daran waren schon die rebellischen Bauern und nunmehr auch die Münsteraner Täufer gescheitert.

    Man brauchte also einen mächtigen Bündnisgenossen, und wer nicht auf Gott vertrauen mochte, musste sich einen Ersatz erschaffen, einen Führer, eine Partei, eine Bewegung, die als Sachwalterin des objektiven Geschichtsprozesses erschien. Dies setzte eine Eschatologie voraus – eine Vorstellung vom Weg, den die Geschichte nehmen würde. Und hier schieden sich erneut die Geister. Während die einen auf einen langen, mühseligen und von Rückschlägen bedrohten Weg der Vernunft und des Fortschritts setzten, lebte das apokalyptische Denken in säkularem Gewande fort.

    Dessen radikale Anhänger gaben der Weltwende einen neuen Namen: Revolution. Und hatte die Französische Revolution im Zeichen von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit das Ende des Feudalismus und den Beginn des Bürgerlichen Zeitalters eingeläutet, so folgte ihr im 19. Jahrhundert das Gespenst des Kommunismus. In ihrem "Kommunistischen Manifest" formulierten Karl Marx und Friedrich Engels 1848 ein säkulares Credo, das das Ende aller bisherigen Weltordnungen postulierte:

    "Die kommunistische Revolution ist das radikalste Brechen mit den überlieferten Eigentumsverhältnissen, kein Wunder, dass in ihrem Entwicklungsgange am radikalsten mit den überlieferten Ideen gebrochen wird."

    Dieses "radikalste Brechen" gleicht der Überwindung der Mächte des Bösen in der Apokalypse mit ihren monströsen Tieren und ihrem satanischen Verführer. Marx und Engels verhehlten keineswegs, dass es dabei zu gewaltsamen Enteignungen und Zwangsmaßnahmen kommen werde, aber die wurden durch das Konzept einer dialektischen Aufhebung vertuscht, in der die Herrschaft der letzten Klasse jede Klassenherrschaft endlich überflüssig machte:

    "Die politische Gewalt im eigentlichen Sinn ist die organisierte Gewalt einer Klasse zur Unterdrückung einer anderen. Wenn das Proletariat im Kampfe gegen die Bourgeoisie sich notwendig zur Klasse vereint, durch eine Revolution sich zur herrschenden Klasse macht, und als herrschende Klasse gewaltsam die alten Produktionsverhältnisse aufhebt, so hebt es mit diesen Produktionsverhältnissen die Existenzbedingungen des Klassengegensatzes der Klassen überhaupt, und damit seine eigene Herrschaft als Klasse auf.

    An die Stelle der alten bürgerlichen Gesellschaft mit ihren Klassen und Klassengegensätzen tritt eine Assoziation, worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung Aller ist."

    So nüchtern lässt sich der Schritt in eine neue Weltordnung beschreiben. Auf dem Weg dahin aber geriet auch der atheistische Marxismus wieder in apokalyptisches Fahrwasser. Denn auch, wenn man Heilsgeschichte durch historische Gesetzmäßigkeiten ersetzt und den Glauben durch dialektischen Materialismus, kommt einmal die Nagelprobe. Nachdem die Berufsrevolutionäre in Russland gesiegt hatten, standen sie unter Erfolgszwang. Sie mussten ihren noch in bürgerlichen Zweifeln befangenen Genossen deshalb mit aller Gewalt einbläuen, dass ihre neue Welt jene bessere war, die sie ihnen verheißen hatten. Paradoxerweise hat dann gerade das Zwiedenken, das George Orwell ihnen in seinem Roman 1984 so treffend vorgehalten hat, ihr Sowjetreich vor einem apokalyptischen Ende und die Welt vor einer atomaren Agonie bewahrt. Auf Revolution folgte dort Stagnation, ein Nebeneinander von verordnetem Fortschritt und ungeordnetem Verfall, der in den Bankrott führen musste.

    Mochte die Sowjetunion in ihren revolutionären Kampfzeiten apokalyptischen Elan aus der Synthese von Bedrohung und Erwartung geschöpft haben, so verlor sich dieser Schwung nach Anbruch des Sozialismus merklich. Angesichts seiner wissenschaftlich begründeten Überlegenheit gegenüber dem Kapitalismus und der atemberaubenden Erfolge der Planwirtschaft, die überall doch zumindest gefeiert wurden, gab es keinen Grund, seine Kräfte für etwas zu verausgaben, das ohnehin unvermeidlich sein sollte. So stand die größte Anstrengung des russischen Volkes während der Sowjetzeit nicht im Zeichen der Revolution, sondern in dem der Heimatverteidigung – im "Großen Vaterländischen Krieg". Dass das Sowjetimperium dann 1989 ohne Gegenwehr in den Staub sank, lag auch daran, dass dort Anspruch und Wirklichkeit in einem Ausmaß auseinanderklafften, das keine apokalyptischen Hoffnungen, sondern nur noch Resignation und Ratlosigkeit weckte.

    Ihre Rolle in einem apokalyptischen Endkampf bekam die Sowjetunion dennoch zugeschrieben und das von einem Gegner, dessen Selbstbezeichnung als "Drittes Reich" die Überlegungen Joachim von Fiores in eine Karikatur verwandelt hatte. Dass ausgerechnet die Nazis sich mit fremden und christlichen Federn schmückten, entsprach freilich dem Stil ihrer Zeit. Wie im Zeitalter der Glaubensspaltung und der chiliastischen Schwärmer folgte auf die Revolution in Russland und die Katastrophe des Ersten Weltkriegs eine Phase der Desorientierung und Heilssuche.

    Die Kaiserkronen waren gefallen. Der Weltkrieg markierte den moralischen Bankrott des bürgerlichen Zeitalters, und der Kommunismus drohte die Konkursmasse zu schlucken. Im besiegten Deutschland standen nationalistische Freikorps gegen rote Garden, und Männer wie der anarchistische Schriftsteller Theodor Plievier zogen im Prophetengewande durchs Land, um die nahende Weltwende zu verkünden. Anknüpfend an sein bewegtes Leben als Tramp und Matrose predigte Plievier einen anarchistischen Vitalismus, in dem sich Eros und Apokalyptik verbanden:

    "Der Zusammenprall des Kapitalismus mit dem Sozialismus hat das Aggressive, Fieberhafte, Besinnungslose, Selbstmörderische des Zeugeaktes. Kapitalismus und Sozialismus, diese mächtigsten Strömungen, diese ausgewachsensten Kinder der materialistischen Weltepoche, zeugen in gewaltiger Umarmung, in der Entladung hochgespannter Gegensätze das neue Zeitalter."

    Plieviers krude Mischung aus apokalyptischen Endzeitvorstellungen und anarchistischer Staats- und Kirchenkritik mündete in eine Apotheose des freien Individuums, das seine Selbsterlösung sucht. In seiner Flugschrift "Aufbruch" vom Mai 1922 warf Plievier, wie vier Jahrhunderte zuvor Bernhard Rothmann, den Kirchen zunächst eine Verfälschung der fundamentalen Wahrheiten vor, um diese Wahrheiten dann tief im Inneren des Menschen wiederzuentdecken:

    "Die Wahrheiten aller Zeiten, die nicht erfasst, gelitten und gelebt wurden: Die verhüllten sich, versteinten, wurden Kirchen. Und dort, wo Ereignisse stehen blieben, wo sie statisch wurden, wurde der Staat. Staat und Kirche sind keine lebend gewachsenen Bäume, sind Umweg und Abweg, sind Hemmung.

    Aber die Stunde ist da, Hüllen und Schalen, Staaten und Kirchen zu sprengen, verschlossene Tore aufzustoßen, aufzubrechen in das Leben.

    Aufnehmen das Kreuz – und sei es als Hammer! Wenn aber Kultur und Zivilisation in Trümmer gehen, muss in dir die Liebe lebendig sein, wenn die Kirchen in Flammen aufgehen, muss in dir lodern, was sie beschlossen hielten."

    Was Plievier hier in expressionistischer Metaphorik ausmalte, hatte der 1895 geborene Ernst Jünger in den Materialschlachten des Weltkriegs hautnah erlebt: eine Zivilisation, die in Trümmer gelegt wurde, Kirchen, die in Flammen aufgingen. Dass der Krieg verloren ging, musste dieser Frontkämpfer akzeptieren. Dass er vergeblich gewesen sein sollte, hat er nie akzeptiert. In "Die totale Mobilmachung" beschrieb Jünger 1930, wie der moderne Krieg sich alle Aspekte menschlichen Lebens unterwarf:
    "So macht es die ungeheure Vermehrung der Kosten unmöglich, die Führung des Krieges aus einem festen Kriegsschatze zu bestreiten, es ist vielmehr die Anspannung aller Kredite, die Erfassung auch des letzten Sparpfennigs notwendig, um die Maschinerie des Krieges im Gange zu erhalten. So fließt auch das Bild des Krieges als einer bewaffneten Handlung immer mehr in das weitergespannte Bild eines gigantischen Arbeitsprozesses ein. Neben den Heeren, die sich auf den Schlachtfeldern begegnen, entstehen die neuartigen Heere des Verkehrs, der Ernährung, der Rüstungsindustrie, - das Heer der Arbeit überhaupt. In dieser absoluten Erfassung der potenziellen Energie, die die kriegsführenden Industriestaaten in vulkanische Schmiedewerkstätten verwandelt, deutet sich der Anbruch des Zeitalters des vierten Standes vielleicht am sinnfälligsten an, - sie macht den Weltkrieg zu einer historischen Erscheinung, die an Bedeutung der französischen Revolution zumindestens ebenbürtig ist."

    Jünger nahm vorweg, was Erich Ludendorf 1935 in einem Buch und in dessen Nachfolge auch Joseph Goebbels den "totalen Krieg" nannten. Seine im Ansatz durchaus rationale Analyse mündete in eine Mythologisierung des Krieges, die ihn als großen Transformator aller Material- und Energieströme vergötzte. Die heranbrechende Welt des vierten Standes, des Arbeiters, aber war noch nicht die erhoffte:

    "Die Abstraktheit, also auch die Grausamkeit aller menschlichen Verhältnisse nimmt ununterbrochen zu. Der Patriotismus wird durch einen modernen, stark mit Bewusstseinselementen durchsetzten Nationalismus abgelöst. Im Faschismus, im Bolschewismus, im Amerikanismus, im Zionismus, in den Bewegungen der farbigen Völker setzt der Fortschritt zu Vorstößen an, die man bisher für undenkbar gehalten hatte, er überschlägt sich gleichsam, um nach einem Zirkel der künstlichen Dialektik seine Bewegung auf einer sehr einfachen Ebene fortzusetzen. Er beginnt sich die Völker zu unterstellen in Formen, die von denen eines absoluten Regimes bereits wenig unterschieden sind. An vielen Stellen ist die humanitäre Maske fast abgetragen, dafür tritt ein halb grotesker, halb barbarischer Fetischismus der Maschine, ein naiver Kultus der Technik hervor. Gleichzeitig nimmt die Schätzung der Massen zu, das Maß der Zustimmung, das Maß an Öffentlichkeit wird zum entscheidenden Faktor der Idee. Kapitalismus und Sozialismus sind, in diesem Sinne gesehen, Gegensätze von untergeordneter Art, sie sind zwei Sekten der großen Kirche des Fortschritts, die sich hier vertragen und dort in erbittertem Kampfe stehen."

    Hier attackierte ein Konservativer, der seine Gegenwart überwinden wollte, die Enthumanisierung und Banalisierung der Welt, die Verzifferung und Vermassung, die Technik- und Kapitalismusgläubigkeit, das Quotendenken und damit auch die Gesellschaft und die Verfassung der Weimarer Republik. Von einer religiösen Offenbarung war hier keine Rede, ja der Begriff "Kirche" wurde an Instanzen abgetreten, die ganz von dieser Welt waren. Und dennoch offenbarte sich gerade hier auch ein apokalyptisches Denkmuster, das die Gegenwart samt ihren -ismen verwarf und sie als substanzlos darstellte. Wie der Anarchist Plievier suchte auch der Nationalist Ernst Jünger nach einem neuen Halt und stellte den falschen Offenbarungen ein Konzept der Verinnerlichung entgegen - freilich mit einem völkischen Beigeschmack:

    "Tief unter den Gebieten, in denen die Dialektik der Kriegsziele von Bedeutung ist, begegnete der deutsche Mensch einer stärkeren Macht: Er begegnete sich selbst. So war dieser Krieg ihm zugleich und vor allem das Mittel, sich selbst zu verwirklichen. Und daher muss die neue Rüstung, in der wir bereits seit Langem begriffen sind, eine Mobilmachung des Deutschen sein – und nichts außerdem."

    Im Rückblick auf die Nazi-Herrschaft sollte Jünger dann feststellen, dass ausgerechnet "die Münchner Schule, das heißt die flachste" gesiegt habe. So geriet er nie in Verlegenheit, die von ihm postulierte "Mobilmachung des Deutschen" praktisch umsetzen zu müssen. Vielmehr distanzierte er sich vom NS-System und veröffentlichte 1939 mit "Auf den Marmorklippen" einen endzeitlich geprägten Roman, den man als kritische Allegorie auf Hitlers Reich und seine Konzentrationslager verstehen konnte. Deren apokalyptische Szenerie aber wurde von der Wirklichkeit in einem Ausmaß überboten, das Jünger sich nicht vorzustellen vermocht hatte.

    Trotz Germanenkult und Ahnenerbe hatten sich auch die Nationalsozialisten biblischer und christlicher Vorgaben bedient. Den Begriff "Drittes Reich" hatte der Publizist und Verleger Dietrich Eckart schon 1919 für die NS-Bewegung reklamiert. 1923 lieferte Arthur Moeller van den Bruck den Nationalsozialisten dann mit seinem Buch "Das dritte Reich" eine ideologische Untermauerung dieser Selbstbezeichnung.

    Hatte Joachim von Fiore ein Zeitalter des Heiligen Geistes postuliert, so wurde dieser Geist durch nationalsozialistische Politik ersetzt, die sich als Vollenderin einer historischen Entwicklung ausgab, deren erste und zweite Phase das Heilige Römische Reich Deutscher Nation und das Deutsche Kaiserreich gebildet hatten. Apokalyptische Züge nahm diese Politik umso mehr an, je stärker sie einen Krieg provozierte, der über Gelingen oder Scheitern der verheißenen Transformation entscheiden würde. Und so maßlos die Forderungen, Versprechen und Drohungen, die Bau- und Rüstungsprojekte der Nationalsozialisten waren, so maßlos war bald auch die Staatsverschuldung, mit der sie ihr Drittes Reich vorfinanzierten. Am Ende war die Ultima Ratio auch aus ökonomischen Gründen ein Krieg, aus dessen Beute man diese gigantische Zeche begleichen wollte.

    Doch als Joseph Goebbels am 18. Februar 1943 im Berliner Sportpalast seine Claqueure auf den "totalen Krieg" einschwor, folgte der Hybris des Dritten Reichs schon ihre Nemesis. Mit dem Untergang der 6. Armee in der Schlacht von Stalingrad hatte Deutschlands militärische Machtentfaltung ihren Zenit überschritten. Die Zeit der Blitzsiege und schnellen Vormärsche war vorbei, und vom Himmel fiel das Feuer der alliierten Bomber. Als Goebbels vor die Mikrofone trat, hatte sich nationalsozialistische Angriffsrhetorik in eine Rhetorik der Verteidigung und des "Heldenopfers" von Stalingrad gewandelt. Und nun folgte eine erstaunliche Verklärung des Angreifers zum Verteidiger:

    "Hier ist eine Bedrohung des Reiches und des europäischen Kontinents gegeben, die alle bisherigen Gefahren des Abendlandes weit in den Schatten stellt. Würden wir in diesem Kampf versagen, so verspielten wir damit überhaupt unsere geschichtliche Mission. Alles, was wir bisher aufgebaut und geleistet haben, verblasst angesichts der gigantischen Aufgabe, die hier der deutschen Wehrmacht unmittelbar und dem deutschen Volke mittelbar gestellt ist. Wäre die deutsche Wehrmacht nicht in der Lage, die Gefahr aus dem Osten zu brechen, so wäre damit das Reich und in kurzer Folge ganz Europa dem Bolschewismus verfallen."

    Goebbels beschwor die Kraft allein der Deutschen, "eine grundlegende Rettung Europas aus dieser Bedrohung durchzuführen", wobei schon die Wortkombination "Rettung durchführen" tief blicken ließ, um dann zum berühmten Angelpunkt seiner Rede zu kommen:

    "Ich frage euch: Wollt ihr den totalen Krieg? Wollt ihr ihn, wenn nötig, totaler und radikaler, als wir ihn uns heute überhaupt noch vorstellen können?"

    Doch nicht um die Rettung Europas ging es und nicht um die Deutschlands, sondern um Erteilung einer Generalvollmacht, das Dritte Reich mit fliegenden Fahnen in einen Untergang zu führen, der ohne Kapitulation unvermeidbar war. Hier erreichte dessen Hybris ihren Gipfelpunkt, und das "Ja, Ja, Ja" des fanatisierten Publikums erteilte seiner Führung die Lizenz, auch dessen Nemesis bis zur Neige auszukosten. Die erhoffte Mobilisierung aber blieb aus, und in den zerbombten Städten wuchs der Eindruck, schon alles hinter sich zu haben. In seinem Bericht über den Untergang seiner Heimatstadt Hamburg im Feuersturm beschrieb Hans-Erich Nossack 1943 die Zeit als eine Mutter, deren Kinder sich nach dem Bombenhagel der von den Alliierten "Operation Gomorrha" benannten Angriffe von ihr entfernt hatten:

    ""Die Mutter hat noch viel zu tun, sie wäscht, sie kocht und sie muss zwischendurch in den Keller, um Kohlen zu holen. Als sie wieder heraufkommt, sind die Kinder fort. Sie geht ans Fenster und hört, wie die Kinder singen:
    'Maikäfer, flieg,
    Mein Vater ist im Krieg,
    Meine Mutter ist in Pommerland,
    Pommerland ist abgebrannt.'

    Wir sind wieder auf die Straße gelaufen und spielen mit dem Tode. Da setzt sich die Zeit traurig in einen Winkel und kommt sich nutzlos vor."

    Dem totalen Krieg folgte die totale Niederlage. Und totale Ernüchterung ging ihr voraus. Nossacks nutzlos gewordene Zeit kennt keine apokalyptischen Heilsversprechen mehr, mit denen sie ihre Kinder vom Spiel mit dem Tode fortlocken könnte. Doch als Nossack diese traurige Zeit beschwor, ahnte er nicht, dass der Feuersturm von Hamburg nur ein Vorschein noch weit größerer Zerstörungen sein würde. Als das Dritte Reich sich anschickte, seine apokalyptische Namensgebung im "totalen Krieg" schreckliche Wirklichkeit werden zu lassen, war das Konzept des totalen Krieges schon dabei, ad absurdum geführt zu werden. Mit der Entwicklung und Verbreitung der Atombombe endete auch die Zeit, in der ein Weltkrieg militärisch zu gewinnen war. Ihn zu führen, kam fortan einer totalen Vernichtung auch aller Hoffnungen auf eine bessere Welt nach dem Krieg gleich.

    Die Mittel der Apokalypse stehen uns heute zu Gebote, nur ihre Heilsversprechen nicht mehr. Die Hoffnung, mit dem Ende des Sowjetimperiums wäre das Happy End der Geschichte angebrochen, ist von Macht- und Geldgier ebenso demontiert worden wie von islamistischen Terroristen, die mit der Vernichtung des World Trade Centers die Allegorie unseres neuen Millenniums inszenierten. Macht haben wir vor allem über die Zerstörung. Und zudem ist eine Vorstellung ins Wanken geraten, mit der sich apokalyptisches Denken immer wieder im Zaum halten ließ: Die Hoffnung, eine zumindest etwas bessere Welt sei durch ständiges Wachstum erreichbar. An unserem Wahrnehmungshorizont nämlich sind die Grenzen des Wachstums sichtbar geworden. Und wieder scheiden sich Gläubige und Ungläubige. Wieder wird das Ende der Welt, wie wir sie kannten, prophezeit. Wieder ist nicht auszumachen, wie eine andere Welt denn aussehen könnte.