Archiv


''Nicht die Wiedervereinigung ist wichtig - sondern Frieden und Freiheit''

Millionen Koreaner tranken, tanzten, taumelten – unvergessene Bilder der Fußball-Weltmeisterschaft im Sommer. Ihr rhythmisch skandiertes "Dae-han-minkuk" – zu deutsch Republik Korea – hatte nicht nur eine sportliche, sondern auch eine politische Note: In ihrer Begeisterung für den fußballerischen Erfolg empfanden sich die Südkoreaner zum ersten Mal nach dem Krieg wieder als Einheit. Die seelischen Narben der Kolonialzeit taten auf einmal nicht mehr weh, der Fußballrausch kurierte das Trauma der Teilung. Ausgerechnet die rote Farbe der Fan-Trikots drückte dieses neue Nationalgefühl aus. Rot war bisher dem kommunistischen Norden vorbehalten, war ein ideologisches Erkennungszeichen. Durch die WM wurde Rot zum Symbol von Dynamik, Selbstbewusstsein und Patriotismus. Hyon Ho Shin von den Roten Teufeln, dem nationalen Fanklub, erklärt:

Martin Fritz |
    Die rote Farbe haben wir genommen, weil man rot gut sehen kann und sie Aufregung ausdrückt. Rot ist zwar auch die Farbe der Kommunisten, in Nordkorea, China oder Russland – aber dort steht Rot für Blut, bei uns ist das anders.

    Man kann einwenden, dass das südkoreanische Fußball-Fieber eher religiöse als nationale Züge trug. Das runde Leder wurde zu einer neuen Gottheit in einem Land, das für seine extremen Sekten bekannt ist. Aber viele Korea-Kenner meinen, hier sei etwas anderes passiert als religiöse Erweckung: Vielleicht lässt sich die nationale Verzückung dieses Sommers einmal rückblickend zur Geburtsstunde des erwachsenen Korea erklären. Für eine solche Deutung ist es wohl heute noch zu früh, nicht aber für eine Spurensuche ein halbes Jahr danach.

    Wahlkampfstimmung in Seoul, ein neuer Präsident wird gewählt, Amtsinhaber Kim Dae Jung, ohnehin schon fast 80 Jahre alt, darf nicht mehr antreten. Die roten T-Shirts sind aus dem Straßenbild verschwunden. Aber das nationale Zusammengehörigkeitsgefühl, das während der WM die Menschen erfasst hatte, ist noch wahrzunehmen. Zwei interessante Ventile öffneten sich plötzlich: Zum einen haben sich viele Südkoreaner innerlich vom Norden abgewandt, das Wort Wiedervereinigung wird immer mehr mit "Unbehagen" verbunden und immer weniger mit "Verheißung". Zum anderen hat der traditionelle Anti-Amerikanismus in Südkorea in den letzten Monaten stark zugenommen.

    Demonstranten warfen Molotow-Cocktails, verbrannten amerikanische Flaggen und ketteten sich an die Tore der Kasernen. Nonnen und Priester gingen in den Hungerstreik, in Restaurants und Bars hingen Schilder: "Amerikaner nicht willkommen". Der Auslöser für die stärkste anti-amerikanische Protestwelle seit vielen Jahren war der Freispruch für zwei US-Soldaten, die im Juni mit ihrem Minenräumer zwei Teenager, die unterwegs zu einer Geburtstagsparty waren, überfahren hatten. Seitdem hielten Studenten vor schrecklichen Bildern der getöteten Mädchen eine Mahnwache und zogen immer wieder vor die Unterkünfte der US-Truppen. Auf Spruchbändern forderten sie eine "gerechte Strafe". Die Demonstranten waren empört, dass der Prozess vor einem US-Militärgericht in Südkorea stattgefunden hatte, mit einer Jury aus US-Soldaten, und dass die Freigesprochenen das Land unmittelbar nach dem Urteil verlassen konnten. Um die Stimmung zu beruhigen, übermittelte US-Präsident Bush zwar eine umständliche Entschuldigung nach Seoul, aber die Geste kam nach Ansicht vieler Südkoreaner zu spät. Eine Studentin meinte sarkastisch:

    Die Entschuldigung war nicht so stark, die kam ziemlich kurz angebunden daher, macht man das so in Amerika?

    Denn zum Zeitpunkt der Entschuldigung war die Debatte in Südkorea längst ins Grundsätzliche gekippt. 37.000 amerikanische Soldaten stehen hier seit dem Korea-Krieg. Anders als die meisten der über 50.000 US-Soldaten im benachbarten Japan sind sie nicht auf einer abgelegenen Insel stationiert, sondern große Teile davon mitten in der Hauptstadt Seoul. Das Hauptquartier der US-Truppen ist ausgerechnet im ehemaligen Regierungsgebäude der verhassten japanischen Kolonialherren untergebracht. Die auffällige Präsenz ist nicht der einzige Faktor für die ausgeprägt negativen Gefühle der Südkoreaner gegen die fremden Streitkräfte: Anders als in Japan ziehen die Vereinigten Staaten in Südkorea nämlich keine Samthandschuhe an, wenn sie etwas durchsetzen wollen. Etwa die neue Nordkorea-Politik der Bush-Administration, die wenig Rücksicht auf die Entspannungsbemühungen des südkoreanischen Präsidenten Kim Dae Jung genommen hat. So etwas verletzt den nationalen Stolz der Südkoreaner, zumal sie von Nordkorea immer wieder als Marionetten Amerikas verhöhnt werden. Viele Südkoreaner reagieren ohnehin empfindlich auf ausländische Bevormundung, und mancher hegt den Verdacht, die Vereinigten Staaten seien an einer Entspannung auf der koreanischen Halbinsel gar nicht wirklich interessiert. Ein Student bringt die Stimmung auf den Punkt:

    Die US-Truppen stehen aus eigenem Interesse in Südkorea. Okay, sie kamen hierher durch den Korea-Krieg und haben uns geholfen, aber jetzt vertreten sie nur noch amerikanische Interessen, deshalb werden sie nie abziehen.

    Tatsächlich ist eine vor zehn Jahren vereinbarte Verringerung der Truppen bisher nicht vorangekommen. Das könnte sich demnächst durchaus ändern: Sowohl Präsident Kim Dae Jung wie auch die beiden wichtigsten Kandidaten für seine Nachfolge haben bereits eine Änderung des Truppenstatuts verlangt, erste Gespräche darüber wurden mit den Amerikanern in der letzten Woche geführt. Auch im Wahlkampf spielte das Verhältnis der Kandidaten zu den Vereinigten Staaten eine wichtige Rolle. Lee Hoi Chang von der Opposition gilt als amerika-freundlich, er hat in den USA studiert. Sein ebenso aussichtsreicher Mitbewerber Roo Moo Hyun von der regierenden Milleniumspartei betonte dagegen seine Distanz zu Amerika, er sei noch nie in den USA gewesen. In seinen jungen Jahren schon hatte er den Abzug der US-Truppen gefordert. Im Interview mit dem Deutschlandfunk meinte er:

    Die bisherigen Präsidenten in Südkorea waren sehr abhängig von den Vereinigten Staaten und deswegen äußerlich freundlich gegenüber Washington. Wir können mit Amerika zusammenarbeiten und dabei doch für uns als Südkoreaner entscheiden, wann eine Zusammenarbeit sinnvoll ist, wann sie Südkorea Vorteile bringt.

    Die Meinungsumfragen sehen den früheren Rechtsanwalt Roh Moo-hyun gleichauf mit seinem schärfsten Rivalen von der konservativen Großen Nationalpartei. Deren Kandidat Lee Hoi-chang, ein früherer Oberster Richter, war noch drei Wochen vor der Wahl der klare Favorit, bis die Regierungspartei ihre Kräfte bündelte und sich auf einen einzigen Kandidaten aus ihrem Lager einigte, eben Roh Moo-hyun. Das gleiche politische Spiel ereignete sich bei der letzten Präsidentenwahl vor fünf Jahren, dadurch hatte Lee Hoi-Chang gegen den jetzigen Amtsinhaber Kim Dae Jung verloren. Jetzt könnte der Oppositionsführer auch im zweiten Anlauf scheitern. Die beiden Spitzenkandidaten haben wenig gemeinsam: Der 67 Jahre alte Lee Hoi-Chang kommt aus guter Familie und hat hervorragende Schulen besucht. Der 56 Jahre alte Roh Moo-hyun dagegen stammt aus einfachen Verhältnissen und hat – das ist nicht nur in Korea selten – seine Rechtsanwaltszulassung ohne Hochschulausbildung bekommen. Wie Präsident Kim Dae Jung ist auch Roh Moo-hyun ein Menschenrechtler. 1981 verteidigte er eine Gruppe von Studenten, die ohne Haftbefehl eingesperrt und gefoltert worden waren. Dennoch versucht er sich dem Klischee von Rechts und Links zu entziehen.

    Überall da, wo der Kapitalismus regiert, gibt es Reiche und Arme. Wer etwas für die Armen tut, wird dann gleich als links qualifiziert.

    Die zwei Politiker unterscheiden sich auch im Naturell. Der konservative Lee Hoi Chang tritt gewandt auf und verkörpert den typischen südkoreanischen Familienpatriarchen. Lee hält Abstand zur ausländischen Presse, trotz wochenlanger Nachfragen von deutschen Medien gewährte er kein Interview. Dagegen pflegt Roh Moo-hyun einen erfrischend offenen Stil. Auf seinen Kundgebungen wirkt er ehrlich und unterhaltsam, vor allem bei der Generation unter vierzig ist er beliebt. Er ist eine Art Kronprinz von Präsident Kim Dae Jung, ist dessen Weg mitgegangen und verfolgt ähnliche Ziele. Roh Moo-hyun betont aber:

    Ich werde die politische Linie von Kim Dae Jung fortsetzen und ausbauen, das kann ich bereits sagen. Ich will allerdings näher am Volk regieren.

    Auffällig wenig wurde im Wahlkampf der Name von Kim Dae Jung selbst erwähnt, zugleich zeigte der amtierende Präsident fast kein Profil. Im Gegenteil: Er hatte sich bewusst bereits seit dem Sommer aus der Tagespolitik zurückgezogen und sogar den Vorsitz seiner Milleniumspartei aufgegeben. Das sind klare Indizien dafür, dass Kim Dae Jung nach fünf Jahren im Amt zum politischen Leichtgewicht geschrumpft ist. Diese Entwicklung ist schwer verständlich, vor allem wenn man den wirtschaftlichen Wiederaufstieg von Südkorea während der vergangenen fünf Jahre betrachtet.

    Vor gerade mal einem halben Jahrzehnt lag Südkorea völlig am Boden. In der Asienkrise stürzte der Won, die koreanische Währung, ab, brachen Banken zusammen, standen Auto- und Schiffsfabriken still. Selbst Hotels drehten die Heizung herunter, um teuren Strom zu sparen. Ganz anders die Lage dagegen heute: Korea hat die Asienkrise am besten gemeistert, viele Banken sind saniert, Unternehmen wie Samsung und LG rollen den Weltmarkt auf, mit ihren neuen Kreditkarten kaufen die Südkoreaner ein wie im Rausch, man surft im modernsten Internet der Welt. In den Hotels strahlen die Lichter auf üppig geschmückten Weihnachtsbäumen. Nur einem hat das alles merkwürdigerweise nichts genützt: dem Präsidenten Kim Dae Jung. Obwohl das fabelhafte Comeback des koreanischen Tigers mit seiner Amtszeit zusammenfällt, ist er in weiten Teilen der Bevölkerung unpopulär. Obwohl seine Person für den Sieg über die Militärdiktatur stand blieb er als Präsident einsam und isoliert, viele halten ihn für die Marionette einer kleinen Beraterclique.

    Man hat Kim Dae Jung einmal den Nelson Mandela von Asien genannt, weil er so vehement für Demokratie und Menschenrechte kämpfte, für seine Überzeugungen immer wieder im Gefängnis saß und einmal sogar kurz vor der Exekution stand. Vor zwei Jahren bekam er schließlich den Friedensnobelpreis für seine Entspannungspolitik gegenüber Nordkorea. All dies hat viele Südkoreaner zuletzt allerdings nicht mehr beeindruckt, denn seine wichtigsten Versprechen hat er dann doch nicht gehalten: Er wollte die Korruption beenden, mit diesem Satz hatte er die Wahl 1997 gewonnen. Aber in den letzten sechs Monaten wurden zwei seiner drei Söhne wegen Bestechlichkeit zu Gefängnisstrafen verurteilt, ihre Verschwendungssucht machte das einfache Volk fassungslos. Der heute fast 80-jährige Kim Dae Jung war angetreten, die Demokratie zu stärken, aber er regierte wie ein absolutistischer Fürst, kümmerte sich nicht darum, dass seine Partei im Parlament keine Mehrheit hatte. Mit seiner Sonnenscheinpolitik suchte er zwar den selbstlosen Ausgleich mit dem Norden, aber der kommunistische Bruderstaat hat ihn dafür immer wieder aufs Kreuz gelegt, etwa mit der heimlichen Entwicklung von Atomwaffen. Der Politkwissenschaftler Hyeong Jung Park vom südkoreanischen Vereinigungsinstitut meint:

    Kim Dae Jung hat den Südkoreanern ein zu rosiges Bild von den Möglichkeiten der Sonnenscheinpolitik gemalt. Er hat es so dargestellt, als ob es zwischen den beiden Koreas kaum Probleme gibt und dass man diese leicht lösen kann. Deshalb sind viele Südkoreaner weniger von Nordkorea als von ihrem Präsidenten enttäuscht. Als schließlich noch behauptet wurde, Kim Dae Jung habe Nordkorea für das historische innerkoreanische Gipfeltreffen vierhundert Millionen Dollar bezahlt, war seine politische Glaubwürdigkeit endgültig dahin – obwohl für diesen Vorwurf bisher stichhaltige Beweise fehlen. Dennoch ist aus dem moralischen Helden Kim Dae Jung am Ende seiner Amtszeit eine tragische Figur geworden, auch wenn man in zehn Jahren möglicherweise anders über ihn urteilen wird. Aus einer solchen Distanz wäre die Sonnenscheinpolitik des Präsidenten, das Herzstück seiner Amtszeit, auch besser zu bewerten.

    "Sonnenscheinpolitik für Frieden und Zusammenarbeit" heißt sie offiziell, das große Vorbild ist die Entspannungspolitik des deutschen Bundeskanzlers Willy Brandt in den 70er Jahren gegenüber der damaligen DDR. Mit kleinen Schritten auf einander zu wollte Kim Dae Jung die militärische Konfrontation auf der koreanischen Halbinsel abbauen. Insgesamt 5.300 im Krieg zerrissene Familien wurden in den vergangenen Monaten bei insgesamt fünf Treffen zusammengeführt. Zwölftausend Menschen haben die Adressen von verloren gegangenen Familienmitgliedern bekommen, fast siebenhundert Koreaner diesseits und jenseits der Grenze durften sich Briefe schreiben. Der Süden hat den Hunger im Norden gelindert, mit Hilfsgütern im Wert von siebenhundert Millionen Euro. Der innerkoreanische Handel hat sich gegenüber vor zehn Jahren verdreißigfacht.

    Fünfhunderttausend Südkoreaner durften als Touristen den Berg Kumgang besuchen, der an der Ostküste auf nordkoreanischem Gebiet liegt. Das Problem von Kim Dae Jung: Nordkorea hat sich bisher nicht als verlässlicher Partner erwiesen. Das zeigte sich zum Beispiel, als das Regime in Pyöngyang im Oktober zugeben musste, heimlich Atomwaffen zu entwickeln, entgegen mehrerer Abmachungen mit Südkorea.

    Die ganzen Schwierigkeiten der innerkoreanischen Verständigung zeigen sich beim Bau der grenzüberschreitenden Verkehrsverbindungen. Zum ersten Mal seit dem Korea-Krieg wurden Schneisen durch die vier Kilometer breite Grenzzone am 38. Breitengrad geschlagen, jeweils für eine Straße und einen Schienenstrang im Osten und im Westen. Diese Verkehrsverbindungen sind im wahren Sinne des Wortes ein Durchbruch, zugleich sind sie eine Warnung gegen überzogene Erwartungen.

    Der Dieselmotor der Lokomotive dreht sich bereits im Leerlauf, aber aufs Einsteigen müssen die einhundert südkoreanischen Touristen lange warten. Der Zug vom Bahnhof Dorasan fährt nur drei Mal täglich ab – und das nur Richtung Süden, denn es ist der letzte Stopp vor der Grenze. Die Hoffnung der Menschen auf ein Ende der Trennung aber ruht auf dem Schienenstrang, der den Bahnhof Richtung Norden verlässt. An diesem Tag glitzert er in der Sonne, in der Ferne stehen Bagger und Kipplaster. Fünfzig Jahre lang war hier kein Durchkommen, jetzt werden hier seit September die alte Eisenbahntrasse erneuert und daneben eine Autobahn gebaut. Hauptmann Yin Hoo Kim von der südkoreanischen Armee fügt hinzu :

    Südkorea hat alle Minen auf einem Streifen von einhundertfünfzig Meter Breite und fast zwei Kilometer Länge beseitigt. Die letzten einhundert Meter bis an die Demarkationslinie haben wir bisher nicht geräumt, das wollen wir gemeinsam mit den Nordkoreanern machen. Da geht es im Moment nicht voran.

    Man muss sagen: Wieder einmal geht es nicht voran. Denn der Traum von einer neuen, eisernen Seidenstraße bewegt schon seit dem innerkoreanischen Gipfeltreffen die Gemüter. Südkorea könnte seine Waren auf der Landroute mit dem Zug nach Europa schaffen, das wäre billiger und schneller als bisher auf dem See-Weg. China und Russland werben bereits offensiv darum, die Waren durch ihre Länder zu leiten. Zugleich wären die Verkehrsverbindungen der Einstieg in einen kleinen Grenzverkehr wie einst im geteilten Deutschland. Aber so konkret diese Hoffnungen auch klingen, so wirklichkeitsfern sind sie zugleich. Denn Nordkorea hat den Bau der Eisenbahnstrecken immer wieder aus politischen Gründen unterbrochen. Im südkoreanischen Verkehrsministerium ist man deshalb skeptisch geworden. Der Beamte Yo-Hae Kim:

    So große Hoffnungen haben wir nicht. Immerhin erreichen wir militärische Entspannung an der Grenze, außerdem können wir ohne die Verkehrsverbindung nicht die südkoreanische Industriezone hinter der Grenze errichten.

    Damit spricht die Regierung inzwischen offen aus, was ausländische Beobachter seit vielen Monaten vorhergesagt haben. Die Gleise und die Straßen werden zwar die Grenze überschreiten, aber sie werden nicht die Menschen in Süd und Nord verbinden, sondern lediglich zwei südkoreanische Enklaven in Nordkorea versorgen: Im Osten ein Touristengebiet, wo Südkoreaner für rund zweihundert Euro am Tag eine der schönsten Landschaften der koreanischen Halbinsel, den sogenannten Diamantenberg Kumgang, besuchen dürfen. Nordkoreaner treffen sie dabei nicht, außer Soldaten. Im Westen das Gleiche: Dort führen Gleis und Straße zu einem von Südkorea gepachteten Industriegebiet, in dem nordkoreanische Arbeiter zu Niedriglöhnen für südkoreanische Firmen produzieren sollen, eine Fabrik mit Gleisanschluss. Die Touristen am Grenzbahnhof Dorasan werden auch künftig nicht in Züge Richtung Norden einsteigen, statt Menschen werden Frachtwaggons die Grenze überqueren.

    Der Norden ist für viele zu unberechenbar und zu wenig kompromissbereit geblieben. Der konservative Kandidat Lee will als Präsident mehr Gegenleistungen von Nordkorea verlangen: Wenn Pyöngyang nicht zu menschlichen Erleichterungen bereit sei, werde er die Wirtschaftshilfe zurückfahren. Im Gegensatz dazu will sein Mitbewerber Roh Moo-hyun den Versöhnungskurs von Kim Dae Jung fortsetzen, weder wirtschaftliche Sanktionen noch militärischer Druck seien das richtige Mittel, um Nordkorea dazu zu bringen, sein Atomprogramm aufzugeben. Wenn das schieflaufe, könne das sehr gefährlich sein. Man müsse im Gespräch bleiben. Ein klarer Seitenhieb auf die Bush-Administration, die erst dann wieder mit Nordkorea verhandeln will, wenn es sein Atomprogramm aufgegeben hat. In einem Punkt jedoch scheinen sich die beiden Spitzenkandidaten einig zu sein: Die Wiedervereinigung ist derzeit von der politischen Tagesordnung gestrichen. Das Wort selbst tauchte im Wahlkampf gar nicht erst auf. Vor allem das deutsche Beispiel wirkt auf Südkorea - abschreckend. Präsidentschaftskandidat Roh Moo-hyun gibt freimütig zu:

    Nicht die Wiedervereinigung ist für Korea wichtig, sondern Frieden und Freiheit. Wir haben am Beispiel Deutschland gesehen, dass eine schnelle Wiedervereinigung nur eine Überbelastung in allen Bereichen bringt.

    Viele Südkoreaner sehen das genauso. Für sie ist Nordkorea zu einem lästigen Problem geworden, das in seinem bankrotten Zustand eine ganz andere Gefahr darstellt als früher, nämlich nicht mehr eine militärische Bedrohung, sondern eine Gefahr für den eigenen, hart erarbeiteten Wohlstand. In einem politischen Witz heißt es folgerichtig: Was soll Südkorea machen, wenn Nordkorea zusammenbricht? – An der Grenze zum Norden Schilder aufstellen, mit der Aufschrift: Wegen Renovierung geschlossen.