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Nicht einmal im Tode Gerechtigkeit

Knud Romer, der in Dänemark als PR-Mann und Schauspieler bekannt wurde, hat seine Erfahrungen mit dem sogenannten Deutschenhass aufgeschrieben und einen Roman daraus gemacht. Das Buch "Wer blinzelt, hat Angst vor dem Tod" wurde nach seinem Erscheinen 2006 zu einem der größten Skandale der dänischen Nachkriegsliteratur und hat das Land in zwei Lager geteilt. Die einen halten es für eine längst fällige Aufarbeitung zweifelhafter Seiten der dänischen Geschichte, die andern für Hetze und Marktschreierei.

Von Peter Urban-Halle | 17.12.2007
    Entgegen anderslautenden Gerüchten waren die Deutschen nicht seit Urzeiten der dänische Feind Nummer eins. Das waren über Jahrhunderte die Schweden, dann zu Beginn des 19. Jahrhunderts die Engländer. Und erst dann wurden es die südlichen Nachbarn, Zankapfel war Schleswig-Holstein: 1864 verlor Dänemark den Krieg gegen Preußen und Österreich und damit auch ganz Schleswig. Die Besetzung durch die Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg tat ein Übriges.

    Besatzung und Widerstand waren in der dänischen Literatur schon immer ein Thema gewesen. Aber nie hat jemand die Deutschfeindlichkeit derart gnadenlos thematisiert wie jetzt der 47-jährige Knud Romer. Das hängt natürlich mit Romers persönlicher Geschichte zusammen, seine Mutter hieß Hildegard und war Deutsche und kam in den 50er Jahren nach Dänemark. Der Autor erklärt sich das Phänomen so:

    "Dänemark ist ja ein kleines Land, das irgendwie zwischen Deutschland und Schweden wie zwischen zwei Räubern gekreuzigt war, geschichtlich, das geht ganz lange zurück, und Dänemark ist Norddeutschland, Dänemark ist Südschweden, wenn Schweden und Deutsche heiraten und ein Kind kriegen, ist das ein Däne, und da sich abzugrenzen und eine nationale Identität zu kriegen, das tut man, indem man sich ausgrenzt, die Schweden sind blöd, die Deutschen sind blöd, das ist so, wie man pubertär eine Identität macht."

    Diesen originellen, drastischen, sarkastischen Ton schlägt Romer auch in seinem Buch an. Literatur muss für ihn "expressiv und hoch dramatisch" sein. Tatsächlich gibt es kaum einen Ruhepunkt in seinem Roman, die Erinnerungen kommen Schlag auf Schlag, das Buch wird von einem innigen Furor getragen. Aber Romer hat nicht nur Wut im Bauch, er ist auch ein großes literarisches Talent, pointensicher, trotz Rachegelüst humorvoll und vor allem: Seine Wildheit ist kein Semper idem, kein eintöniges Immergleiches, genau gelesen offenbart der Text erstaunliche Variationen von Stimmen und Stimmungen: vom Furor poeticus bis hin zu Verzweiflung und Trauer und zur todernsten Besinnung. Am Schluss, als die Mutter im Sterben liegt und ihr Zustand im Grunde Ekel hervorruft, wird Romers Prosa fast zum Klagelied.

    "Obwohl ich aus Nykøbing fortzog, kam ich niemals dort weg, nie bin ich aus dem Haus in der Hans Ditlevsensgade entkommen ... Die Gardinen waren zugezogen, und die Fenster gingen nach innen auf und versiegelten unsere Familie, die aus Mutter, Vater und mir bestand - und niemandem sonst."

    So steht es im Buch, aber manchmal zieht Romer die Gardinen dann doch auf. Die Familie besteht eben nicht nur aus Mutter, Vater, Kind, sondern ist groß und weit gestreut. Den Anfang macht Papa Schneider, Knuds Großvater mütterlicherseits mit den "kilometerlangen" Schmissen, der von einem Gemälde herab die kleine Familie unter ihm am Esstisch stumm beherrschte, die Großmutter büßte ihre berühmte Schönheit ein, als sie, so Romer, "in einem Keller voller Waschbenzin explodierte". Tante Ida war Mutters Halbschwester, ein richtiger Besen, deren drei Söhnchen aussehen wie HJ-Jungen, und in Frankfurt gab es noch eine Tante Lise, ein noch schlimmerer Besen, die ihren Mann tyrannisierte. Gemocht hat der kleine Knud nur Onkel Hermann, einen Röntgenarzt, der ihm im Laufe der Jahre die Splitter der Handgranate schenkte, die sich im Krieg in seinen Körper gebohrt hatten und die dieser Körper nach und nach wieder freigab, sie werden am Ende das Material für Knuds großen Befreiungsschlag. Und dann die dänischen Großeltern, ein bisschen spinnert, besonders der Großvater, ein Träumer mit tausend Ideen, von denen nicht eine klappt, es gibt da ein Hotel, das er führen will, aber Gäste wollen natürlich nie kommen, das sind Szenen wie aus Herman Bangs zauberhafter Erzählung "Sommerfreuden".

    Und zwischen all diesen Typen bewegt sich "das kleine Knüdchen" fast schlafwandlerisch oder auch staunend, als wusste es manchmal gar nicht, wie ihm geschieht, als fühlte es sich gar nicht zugehörig. Der Autor hat seinen Roman ein Buch der Abwesenheit genannt,

    "weil es von sozialer Ablehnung handelt und wie man als Außenseiter lebt in einer völligen Isolation [die den Komm. und wie man nicht in eine eintreten kann], die Gesellschaft ist irgendwie eine geschlossene Tür ist, und man tritt nie ins Dasein hinein, man lebt in einem Schwebezustand außerhalb der Gesellschaft. Und dann handelt das Buch auch [ ... ] über den Tod. Viele Leute denken, wir haben totale Selbstgegenwart und totales Selbstbewusstsein: Jetzt bin ich hier, ich weiß, wer ich bin, ich kenne die Bedeutung des Lebens, und eines Tages werde ich sterben, und dann ist Abwesenheit. Aber das ist ja eine Art, den Tod oder die Abwesenheit zu verdrängen, weil die Abwesenheit ist ja hier, und das Buch ist geschrieben wie eine unendliche Suspension, wo man eigentlich auf Gott wartet, der mit der Wahrheit kommt, mit der endgültigen Bedeutung vom Leben."

    Irgendwann sterben diese Leute dann wirklich, auch die Mutter stirbt, diese geliebte Person und tragische Figur, die als Hitlerliebchen beschimpft wurde, obwohl sie die Verlobte eines Widerstandskämpfers war, die im Laufe der Zeit aufgrund der konkreten Anfeindungen einen seelischen Knacks bekam und unter Verfolgungswahn litt. Romers Figuren sind keine Erfindungen, aber sie sind alle ein bisschen überzeichnet, er hat keine Bedenken, ihre Originalität und Skurrilität so zu betonen, dass sie alle gewissermaßen Karikaturen werden. Literatur und Fantasie sind nun doch einfallsreicher als die Wirklichkeit, nur die Literatur schafft es, dass die kleinen Spleens, die wir alle haben, derart komische, slapstickartige, furchtbare oder empörende Dimensionen annehmen können.

    In jedem Satz geht es hier um Erfindung, Übertreibung und Wahrheit. Wahr ist vor allem Romers Wut auf die dänische Germanophobie. Kritiker behaupteten, das Ich des Romans sei ein ängstlicher Mensch. Davon kann deswegen keine Rede sein, weil hier eben nicht nur das Kind, sondern auch der Erwachsene spricht.

    "Also mir war sozusagen der Mund zugewachsen, und (es ging darum,) diesen Mund aufzureißen und endlich zu sagen: Ende der Höflichkeit, der Krieg ist vorbei, und es ist nicht mehr sozial legitim, einfach anzunehmen, man kann auf die Deutschen loshauen, ohne dass man zurückschlägt."

    Romer hat zurückgeschlagen, und die Nyköbinger waren entrüstet. Das ganze Mobbing habe nie und nimmer stattgefunden! Keiner habe der Mutter ranzige Butter verkauft, keiner habe den Jungen "deutsches Schwein" genannt. Eigentlich ging es nicht mehr um das gespannte Verhältnis zweier Nachbarn, sondern um Wahrheit und Lüge in einem Roman. Der Schriftsteller hat das Durcheinander kräftig gefördert, darauf hat der dänische Linguist Poul Behrendt hingewiesen: Nicht nur der Autor, sondern auch der Erzähler und der Held tragen im Buch denselben Namen: Knud Romer. Und dieser Romer behaupte nun, es sei gleichzeitig alles wirklich und alles erfunden. Ist dieses Buch nun eher eine Dokumentation oder eher ein Roman?

    "Ich finde, Fiktion und Wirklichkeit ist ein sehr vulgärer Gegensatz, denn welche Wirklichkeit? Jede Darstellung von Wirklichkeit ist produziert, das sind Weltbilder, wir haben kein Fenster, aus dem wir in die Wirklichkeit schauen können, alles sind Bilder an der Wand. [Ich habe auch versucht rauszukriegen, ... über meine eigene Geschichte, und]ich nehme mir die Freiheit, mit meinem eigenen Namen zu spielen, und mit meinen eigenen Erlebnissen zu spielen. Jeder Mensch geht ja mit einer Geschichte herum, die er immer revidiert, und man lebt ja nicht, wie man die Geschichte eines Lebens erzählt, wenn man darüber schreibt, wird es narrativisiert und fokussiert, die Bedeutung und die Gefühle sind ja hoch dramatisch in einem Roman, so leben wir ja Gott sei Dank nicht. Der Roman ist so geschrieben: alles ist Lüge und alles ist Wahrheit, und der Leser muss selber herausfinden, was hier was ist, [und letzten Endes ist ... anderes als nur über mich. [ ... ]] Die deutschen Romantiker sind bei mir immer noch lebendig, und Novalis hat ja so schön gesagt: Alles Leben ist Allegorie."

    Die deutsche Sprache und Literatur ist bei Romer immer präsent, und dennoch sucht sein Erzähler sein Heil und seine Zuflucht nicht in der imaginären Welt der Bücher, sondern in der Geschichte der verschiedenen Familienmitglieder. Ihre Schicksale, ihre Eigenheiten: daraus knüpft Romer einen persönlichen Mythos, der für ihn und für alle, denen die eigene Familie nicht nur ein Graus, sondern eine lehrreiche und unterhaltsame Erkenntnisquelle ist, das heißt, Stoff für eine Erzählung, der also für alle ebenso wichtig ist wie der griechische Mythos für die Analyse des menschlichen Ichs. Romers Roman ist vieles: große Tragödie, amüsante Familiengeschichte, persönliche Befreiung, kraftvolle Suada. Und nicht zuletzt ein zärtlicher Nachruf auf die Mutter, einen Menschen, dem nicht einmal im Tode Gerechtigkeit widerfuhr.


    Knud Romer: Wer blinzelt, hat Angst vor dem Tod.
    Roman. Aus dem Dänischen von Ulrich Sonnenberg.
    Insel Verlag, Frankfurt/Main 2007
    170 Seiten, 16,80 Euro