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Nicht ganz so harmlos

Strahlenmedizin. – Als Frankreich seine letzten Atombombentests 1995 und 1996 in Französisch-Polynesien durchführte, hagelte es internationale Proteste. Die Regierung wiegelte damals ab – auch mit Hinweis auf das geringe Risiko für die Bevölkerung. Ein Bericht des französischen Instituts für medizinische Forschung (Inserm) widerlegt diese Aussagen jetzt. Für die Bevölkerung hätten die Tests durchaus ein zusätzliches Risiko bedeutet, an Krebs zu erkranken.

Von Siegfried Forster | 22.09.2006
    193 ober- und unter-irdische Tests haben auf Mururoa und im Fangataufa-Atoll zwischen 1966 und 1996 stattgefunden - mit einer Sprengkraft, die 700 Mal jener der Hiroshima-Bombe entspricht. Frankreichs Präsident Chirac verteidigte die Atom-Tests mit den Worten, dass die Tests für die nationale Unabhängigkeit unerlässlich seien und die Gesundheit der Anwohner "weder auf kurze noch auf lange Sicht" beeinträchtigen würden. Chirac konnte sich dabei auf Studien der Internationalen Atom-Energie-Behörde IAEA berufen. Eine Aussage, die nun erstmals wissenschaftlich widerlegt worden ist. Von der ersten unabhängigen epidemiologischen Studie, die einen direkten Zusammenhang zwischen den französischen Atombombentests und Schilddrüsenkrebs ermitteln konnte, bemerkt Autor Florent de Vathaire vom französischen Institut für medizinische Forschung und Gesundheit (Inserm):

    "Wir haben mit dieser Studie vor fast zehn Jahren angefangen. Wir hatten extrem große Schwierigkeiten, die dafür notwendigen Gelder zusammen zu bringen.
    Sämtliche unserer Anfragen bei der französischen Regierung oder der Regierung in Französisch-Polynesien wurden abgeschmettert, keine einzige wurde bewilligt.
    Wir mussten schließlich private Hilfs-Vereine bitten, diese Studie zu finanzieren. Anders wäre diese Studie nicht möglich gewesen. Die französische Regierung wollte nicht, dass diese Studie realisiert wird."

    Der Epidemiologe Florent de Vathaire analysierte die Daten von 239 polynesischen Schilddrüsenkrebs-Patienten und einer repräsentativen 363köpfigen Vergleichsgruppe. Anhand des digitalisierten Geburtenregisters konnte dabei für jeden Krebskranken eine Vergleichsperson mit demselben Geburtsdatum gefunden werden. Beide wurden befragt, wo sie aufgewachsen, in die Schule, zur Arbeit gegangen sind, wie sie sich ernährt haben, woher das Trinkwasser kam. Ein internationales Experten-Team errechnete die jeweils erhaltene Strahlendosis. Das Ergebnis ist eindeutig, kommentiert Florent de Vathaire: er entdeckte eine statistisch signifikante Häufung der Schilddrüsenkrebs-Erkrankungen bei den Anwohnern des Atomtestgeländes - und damit einen Zusammenhang zwischen Atomtests und Krebserkrankungen. De Vathaire:

    "In Französisch-Polynesien gibt es nur wenige Einwohner: 250.000. Ich würde sagen: der Zusammenhang ist eindeutig, aber nicht sehr beträchtlich. Wir denken, dass es zehn, 20, 25, 30 Fälle gibt, nicht mehr als einige Dutzend Schilddrüsenkrebskranke, die durch die radioaktive Strahlung erkrankt sind."

    Die Zahl der Opfer sei klein, aber ausreichend groß für eine eindeutige wissenschaftliche Schlussfolgerung, betont de Vathaire. Von den Folgen der Atombombentests am stärksten betroffen seien die Frauen. De Vathaire:

    "90 Prozent aller Schilddrüsenkrebskranken in Französisch-Polynesien sind Frauen. Bei jenen, die einer radioaktiven Strahlung ausgesetzt waren, haben wir festgestellt, dass sich bei jeder Schwangerschaft das Schilddrüsen-Krebs-Risiko um 36 Prozent erhöht, während es sich bei den anderen nur um 8 Prozent erhöht. Das ist ein Resultat, das neu ist."

    Florent de Vathaire beschreibt in seiner Studie, wie viele Faktoren er berücksichtige, die bei der polynesischen Bevölkerung ohnehin existieren und auf "natürliche" Weise das Schilddrüsenkrebsrisiko erhöhen. De Vathaire:

    "Selbst wenn wir alle anderen Faktoren berücksichtigen - denn es gibt in
    Französisch-Polynesien sehr viele andere Risikofaktoren für die Entstehung von
    Schilddrüsenkrebs: wie Fettsucht, große Kinderzahl oder die Ernährung. Aber auch wenn wir diese Risikofaktoren berücksichtigen, stellen wir fest, dass die radioaktive Verstrahlung durch die oberirdischen Atomtests Frankreichs eine Rolle spielt. Vor allem für jene Menschen, die zum Zeitpunkt der Atomtests noch keine 15 Jahre alt waren."

    150.000 Menschen waren schätzungsweise von den französischen Atombomben-Versuchen direkt oder indirekt betroffen. Die Studie erstreckt sich allerdings nur auf in Polynesien Geborene und nicht auf die Tausenden Soldaten, Wissenschaftler, Arbeiter und Inselbesucher, die in irgendeiner Art die französischen Atombomben-Versuche miterlebt haben. Eine umfassendere und genauere Studie ist jedoch nicht möglich, solange das französische Militär darauf beharrt, die Informationen über die damaligen Atombombenversuche als Staats-Geheimnis unter Verschluss zu halten.