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Nicht grotesk genug

Emma Braslavskys Schreibkonzept in "Aus dem Sinn", eine bis heute im ideologischen Tunnelblick feststeckende Vertriebenendebatte durch schwarzen Humor quasi aufzuknacken, ist zweifellos begrüßenswert. Das Ergebnis aber wirkt insgesamt zu unentschlossen

Von Gisa Funck | 19.04.2007
    "Ich fühle mich überhaupt nicht als Sudete. Ich erinnere mich an eine Kindheit in Tuschkau. Die Stadt hat jetzt einen tschechischen Namen. Den kann ich nicht einmal aussprechen! Der Boden ist mir egal. Ich will die Tschechen ja nicht in Schutz nehmen. Aber wir sind hier keine Sudeten, wir sind deutsche Umsiedler. Über uns will niemand reden, auch drüben nicht. Und die Tschechen erst recht nicht. Wohnen will ich dort nicht mehr. Mein Zuhause ist hier, die Leute sind alle hier. Was soll ich dort?"

    Der, der hier spricht, ist ein Heimatvertriebener, aber keiner von der ewiggestrigen Sorte. Denn Eduard, als Kind noch im ehemals deutschen Sudetenland aufgewachsen, ist alles andere als Revanchist. Der 30-jährige Mathematiker und Hobby-Zeitforscher hegt weder politische Ansprüche an seine alte Heimat, noch zieht es Eduard zurück nach Tuschkau, in die ehemals deutsche Kleinstadt seiner Kindheit, schon deshalb nicht, weil seine große Liebe Anna, die wiederum aus einer schlesischen Familie stammt, dorthin nicht mit ihm mitkommen würde. Ja, nicht einmal Eduards Mutter Ella träumt noch von einer Rückkehr ins Sudetenland, das inzwischen tschechisch ist und für sie nur noch "Nimmerland" heißt. "Heimat" meint für die Protagonisten in Braslavskys Debütroman entsprechend weniger eine geografisch umrissene Region als eine, sich aus Erinnerungen speisende Seelenlandschaft:

    "Das war eben auch eine Absicht mit diesem Roman: Es geht ja nicht wirklich um Flucht und Vertreibung in dem Sinne, sondern es geht um die Menschen, um die Vertriebenen, die sich also neu arrangieren. Und vor allem im Osten - und auch ihren Kampf um ihren individuellen Freiräume, um ihre individuelle Identität, ja. Das ist eigentlich ein Kampf mit Identität.

    Und ich plädiere eigentlich dafür, vielleicht einfach mal ein Stück wegzugehen vom Nationalsozialismus, sondern sich einfach mal mit den Menschen danach zu beschäftigen, sich zu fragen: Was bedeutet das eigentlich, wenn man woanders ist? Also, wenn man die Heimat erst richtig spürt, das spürt man ja meistens ja erst, wenn man woanders ist. Dieser Zugang ermöglicht vielleicht auch ein bisschen mehr, die Menschen zu verstehen oder sie auch ein bisschen kulturell mehr auch einzuverleiben."

    In "Aus dem Sinn" unterläuft die 1971 geborene Emma Braslavsky schon allein dadurch gängige Erwartungen, dass sie ihre Geschichte einer Erfurter Sudetengemeinschaft nicht in den 40er Jahren spielen lässt. Hier kommen also gerade nicht jene typischen Motive einer deutschen Flüchtlings-Chronik vor, wie man sie nur allzu gut, vor allem aus dem Fernsehen kennt: keine Flüchtlingstrecks, keine Frauen mit Kopftüchern und keine endlosen Schnee- oder Eiswüsten. Braslavsky, Tochter einer Schlesierin und eines Sudetendeutschen, siedelt ihre Romanhandlung stattdessen im Jahr 1969 an, dazu noch in Erfurt, in der ehemaligen DDR also, in der es offiziell gar keine Heimatvertriebenen gab, sondern nur so genannte Umsiedler. Obwohl 1949 jeder vierte Bürger zugewandert war, galten Flüchtlinge aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten im Arbeiter- und Bauernstaat als Menschen zweiter Klasse. Und sie wurden anders als in der alten Bundesrepublik weder in ihrer kulturellen Identität anerkannt noch durch einen finanziellen Lastenausgleich unterstützt. Wie demütigend, ja manchmal sogar lebensbedrohlich sich diese Situation auswirken konnte, haben auch schon andere ostdeutsche Schriftsteller wie Reinhard Jirgl und Christoph Hein in Romanen eindrucksvoll geschildert. Braslavsky fügt der literarischen Aufarbeitung eines lange totgeschwiegenen Tabus mit "Aus dem Sinn" nun ein weiteres Kapitel hinzu. Doch tut sie das ganz bewusst in einem heiteren Tonfall. Denn nichts fehlt der seit Jahrzehnten verbissen geführten Vertriebenen-Debatte so sehr wie etwas Witz und Leichtigkeit, glaubt Braslavsky:

    "Man muss versuchen, die Perspektive zu verändern, anders zu reden, vielleicht auch mal ein bisschen mehr Humor in die ganze Debatte zu bekommen. Jetzt war gerade wieder so eine Rezension in einer Zeitung, da hat man so eine Frau aus '41 abgebildet aus Mähren. Heute sieht sie wieder sehr exotisch aus. Und da sieht man schon, wie wir sie wahrnehmen: Wir nehmen sie immer nur wahr, steckend irgendwo in den 40er Jahren, so komisch, wie die da aussahen, mit ihren lustigen Liedern. Oder wir nehmen sie als Revanchisten, als Revisionisten wahr, oder wir machen, ja, so einen großen Fluchtfilm, der ja sehr löblich ist, ja, und sehr gut gemacht und sehr professionell und wahrscheinlich sehr viele Menschen gerührt hat, aber wir sind trotzdem noch keinen Schritt weitergekommen. Wir müssen uns einfach daran gewöhnen, auch was die Geschichte anbetrifft, dass wir uns nicht immer so ein einfaches, leichtes Geschichtsbild zurechtlegen müssen, sondern immer auf die Sache selber viel detaillierter gucken, sagen: Von welchem Blickwinkel guckst du jetzt eigentlich aus? Das machen wir viel zu wenig."

    In ihrem Roman nutzt Braslavsky das alte, in der DDR verbreitete Vorurteil, wonach jeder Heimatvertriebene ein mutmaßlicher Revanchist war, um eine politische Groteske zu entwerfen. Ausgerechnet ihr betont anti-revisionistisch eingestellter Held Eduard ist es nämlich, der in Aus dem Sinn durch eine Verkettung unglücklichster Umstände auf eine Sudeten-Demonstration in Prag gerät. Und damit auch ins Visier der Staatssicherheit. Zusammen mit seinem besten Freund Paul wird Eduard als Feind der Republik verhaftet und schließlich sogar mit Elektroschocks behandelt, wodurch er nicht nur alle seine Kindheitserinnerungen an das Sudetenland einbüßt, sondern am Ende noch nicht einmal mehr weiß, wer er eigentlich ist und wie er heißt. Eine bitterböse Pointe für einen Lebenslauf, dem Braslavskys 1999 verstorbener Vater Pate stand:

    "Ja, sagen wir so: Der Ausgangspunkt des Romans war sehr emotional. Mein Vater war gestorben '99, und ich wollte einfach so diese Bilder vertreiben dieses toten Mannes und habe einfach angefangen zu schreiben über ihn. Mein Vater hat ja tatsächlich sein Gedächtnis verloren auch, da war er gerade 30 Jahre alt, das spielte dann auch eine Rolle, und habe dann also mehr und mehr Dinge aufgeschrieben, die wahrscheinlich nie passiert sind. Also ich habe schon angefangen fiktional über ihn zu schreiben, Figuren zu entwickeln. Mein Vater konnte sich an gar nichts erinnern. Und für mich ist dieses Buch auch ein Abschluss dieser ganzen Geschichte. Ich habe mir eine plausible Geschichte, für mich plausibel, einfallen lassen, was ist damals passiert? Und natürlich habe ich den Bogen viel weiter gespannt. Ich wollte nicht ein Buch über meinen Vater schreiben, ich wollte dann aber auch keine Familiengeschichte schreiben, sondern mir ging es dann eigentlich um viel größere Themen plötzlich, und dadurch ist eben dieser Stoff entstanden."

    Braslavskys Schreibkonzept in Aus dem Sinn, eine bis heute im ideologischen Tunnelblick feststeckende Vertriebenendebatte durch schwarzen Humor quasi aufzuknacken, ist zweifellos begrüßenswert. Das Ergebnis aber wirkt insgesamt zu unentschlossen. Für eine Vertriebenen-Groteske ist ihr Roman nicht grotesk genug. Für eine Vertriebenen-Tragikkomödie wiederum fehlt es ihm umgekehrt bisweilen am nötigen Ernst. Fast jede Figur ist hier ein Freak mit einem sympathischen Spleen. Eduard hat einen Uhrentick, seine Mutter Ella eine merkwürdige Vorliebe für Vornamen mit E. Und Anna, Eduards große Liebe, singt als Verkäuferin des lokalen Supermarkts Opern-reife Arien vor sich hin. Das liest sich zwar alles sehr amüsant. Doch inmitten dieser Fülle von harmlos-skurrilen Anekdoten droht die bitterböse Pointe, wonach Eduard das unschuldige Opfer eines skrupellos agierenden Machtapparates wird, unterzugehen.

    Andere, ernsthaftere Episoden wirken da viel anrührender. Etwa jene, in der Eduard noch einmal für einen Kurzbesuch nach Tuschkau zurückkommt, das inzwischen "Mesto Touskov" heißt, und hier seine alte Kinderliebe Miri wieder sieht. Miri, eine Jüdin, erzählt ihm, dass sie das KZ nur überlebt hat, weil jemand sie in einem Sarg versteckt herausgeschmuggelt hat. Als sie Eduard danach fragt, wie es ihm ergangen sei, möchte der Miri nichts erzählen mit der Begründung: "War ja nicht so schlimm wie bei Dir." Treffender kann man das Dilemma einer andauernden Schuld-Diskussion, in der das gegenseitige Aufrechnen der Opfer längst zum Standart-Ritual gehört, wohl kaum auf den Punkt bringen.


    Emma Braslavsky: Aus dem Sinn
    Claassen Verlag, Berlin 2007
    362 Seiten, 19,95 Euro