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Nicht hier, nicht dort. Essays.

In der angelsächsischen Tradition ist der Essay so etwas wie der sachliche Zwilling der Kurzgeschichte: Knapp, gut und unterhaltend, findet er aufmerksame Leser nicht nur in Zeitschriften, sondern auch später, wenn er in Buchform vorliegt. Dieser Essay verlangt eine weniger strenge Form als die, die in Deutschland oder in Frankreich gepflegt wird. Erstaunlich viele Themen sind tauglich, und Ausflüge in die Biographie des Autors sind nicht nur erlaubt, sondern erwünscht. Notfalls lässt sich auch die eigene Doktorarbeit zum Essay komprimieren. Im Fall der amerikanischen Schriftstellerin Siri Hustvedt war dies eine Abhandlung über die linguistischen Feinheiten von Charles Dickens letztem Roman. Doch argumentiert Hustvedt um einiges eleganter, wenn sie sich frischen Themen zuwendet, etwa jenem altertümlichen, englischen Wort "Yonder", dem sie eine metaphorische Bedeutung abgewinnt, und das zum Titel ihrer Sammlung von Essays wurde. Hustvedt:

Tanya Lieske |
    "Als ich noch sehr klein war, fragte mein Vater mich, ob ich wüsste, was man mit dem Wort "Yonder" meint. Ich antwortete, "Yonder" hieße "dort drüben", und er sagte: "Nein, "Yonder" liegt dazwischen, zwischen 'hier' und 'dort'." Ich fand diese Antwort faszinierend, (...), es war, als hätte das Wort "Yonder" aus sich heraus einen Raum erschaffen, von dem ich nichts geahnt hatte."

    Siri Hustvedts Übersetzer Uli Aumüller hat für "Yonder" die etwas längere Umschreibung "Nicht hier, nicht dort" gefunden. Mit gutem Grund. "Yonder", erklärt Hustvedt, sei das, was die Linguisten ein "unstetes Wort" nennen: Hat man "da drüben" mal erreicht, rückt es in weitere Ferne, es gibt dann ein neues "Yonder". So entsteht ein Raum, ein Zwischenraum, der symbolisch beladen ist. Sowohl die realen Schauplätzen eines Lebens als auch die imaginären der Literatur sind in diesem Zwischenraum angesiedelt. Er wird beim Vorgang des Lesens oder Schreibens aktiviert. Dies geschieht mit Hilfe der Erinnerung, Zitat: "Ich bin überzeugt, dass die Prozesse des Erinnerns und Erfindens im Gehirn miteinander verbunden sind. Homer ruft die Muse der Erinnerung an, bevor er seine Erzählung beginnt."

    Siri Hustvedts persönliches "Yonder" liegt zwischen Norwegen und Amerika. 1955 wurde Hustvedt in Minnesota in einer Familie mit norwegischen Einwanderern geboren. Sie sprach Norwegisch noch vor dem Englischen, und Ihre Familiengeschichte hält Anekdoten bereit wie die des Onkels, der nach seiner Ankunft in New York einen Apfel kaufte, und zum ersten Mal in seinem Leben in eine Tomate biss. "Yonder" existiert in einer glücklichen und in einer tragischen Variante, und für beide gibt es Beispiele. Hustvedt gibt zu verstehen, dass sie selbst die glückliche Variante erlebte. Sie verließ Minneapolis, um in New York unter schwierigen Bedingungen Literatur zu studieren. An der Columbia-University traf sie den späteren Schriftsteller Paul Auster, mit dem sie inzwischen verheiratet ist. 1992 erschien Hustvedts Großstadtroman "Die unsichtbare Frau"", 1996 folgte "Die Verzauberung der Lily Dahl". In beiden Romanen zeichnet sie die entscheidende Station ihres Lebens nach, den Aufbruch nach New York. Und beide Romane enthalten viele Details, die dem Schauplatz eine besondere Atmosphäre geben - aus Erinnerung wurde Fiktion, eben "Yonder". Hufstedt:

    "Wie viele Schriftsteller benutze ich mein Leben, aber ich erzähle es nicht. Das muss man unterscheiden."

    In ihren Essays bringt Hustvedt verschiedene Disziplinen ins Spiel, die Psychologie, die Geschichte von Literatur und Kunst. Und auch die Intuition hat ihren Anteil, so bei der Entstehung des Essays über die "Junge Dame mit Perlenhalsband", ein Gemälde des holländischen Malers Vermeer:

    "Ich verbrachte zwei Stunden vor dem Gemälde, ich saß da und schaute hin, und nach etwa einer Stunde fiel mir ein Wort ein, das war sehr seltsam, es war wirklich kein Gedanke, nur ein Wort: "Verkündigung". Ich fragte einen der Kuratoren, ob man in dem Gemälde je die Verkündigung gesehen hatte und er sah mich an und ich wusste, ich hatte eine Spur."

    Die Spur führt nach Siena, zu einer Madonna des Renaissancemalers Duccio, die Hustvedt vor fast zwanzig Jahren gesehen hatte, und deren Haltung und Gestik sie nun in der "Jungen Dame" von Vermeer wiedererkannte. Hustvedt erfährt, dass Vermeer 1672 zum Experten für italienische Malerei berufen wurde, und nun entschlüsselt sich ihr das Gemälde nach Komposition und Bildsprache als eine weltliche Version des Verkündigungsthemas. Diese Methode eines intuitiven Anfangs, zu dem später die Fakten kommen, ist in dem Essay "Vermeers Annunziata,, besonders gelungen. Doch auch in den folgenden Essays beweist Hustvedt, dass sie das Romanfach erfolgreich und mit Gewinn hinter sich lassen kann.

    "Als ich anfing, Essays zu schreiben, war ich schon in den besten Jahren, und ich empfand diese Form als sehr befreiend. Ich fand es nur legitim, auf alle Quellen zurückzugreifen, die mir zur Verfügung standen, und genau das mache ich in meinen Essays."