Freitag, 29. März 2024

Archiv


"Nicht ich spiele - es spielt"

Edwin Fischer wird zu den großen Pianisten des 20. Jahrhunderts gezählt. Sein Repertoire kreiste vor allem um die Klassiker Bach, Mozart und Beethoven. Dabei war er kein Perfektionist, in seinen Aufnahmen finden sich auch Verspieler.

Von Wolfram Goertz | 06.10.2011
    Wer nicht mehr weiter oder noch nicht alles wusste, der reiste in den Nachkriegsjahren nach Luzern. Dort unterrichtete Edwin Fischer. Legionen von Pianisten pilgerten zu ihm, um ewige Weisheiten zu erbitten und sich an den Leben spendenden Tropf eines Großmeisters zu hängen. Fischer, am 6. Oktober 1886 in Basel geboren, war nicht nur eine Instanz auf dem Klavier, sondern auch ein legendärer Therapeut für Verkrampfte, ein Trainer für Übernervöse. Seine Unterweisungen begannen immer mit einer seltsamen Übung: Er lehrte seine Schüler das Ausatmen. Einatmen, wusste Fischer, könne schließlich jeder. Jeden Morgen solle man sich der Etüde widmen, den Druck aus dem Körper zu leiten; danach funktioniere jedes Klavierspiel besser.

    Alfred Brendel, der Fischer voller Bewunderung zu seinen Lehrern, ja Wegweisern zählte, hat in seinem Buch "Nachdenken über Musik" auf Fischers Atemrituale verwiesen – und dann auf Fischers Aufnahme von Mozarts Klavierkonzert d-Moll KV 466, von der wir den Beginn des Finales hörten. Wer diese – vom Pianisten selbst dirigierte – Einspielung mit dem Londoner Philharmonia Orchestra von 1954 hört, wird diesen Zusammenhang nicht für künstlich, sondern für unabweisbar halten. Jeder Takt kommt einem so selbstverständlich vor, als sei es Mozarts eigene Regie, die in Fischers Händen fortwirkt. Brendel hat das Naturell seines Lehrers in einem Essay wunderbar erklärt:

    "Wir erinnern uns an den kleinen, löwenhaften, elastischen Mann auf dem Podium, bei dem jede Faser mit musikalischer Elementarkraft geladen war. Wildheit und Zartheit wohnten in seinem Klavierspiel nahe beieinander, und dämonischen Ausbrüchen folgte wie durch Zaubermacht innerer Friede. Es machte ihm ebenso wenig Mühe, außer sich wie in sich zu geraten."

    Fischers künstlerischer Radius war nicht besonders groß, weder in seinem Repertoire noch in seiner Reisefreudigkeit. Sie beschränkte sich auf Europa. Er kam aus der Schweiz, lernte und lehrte in Berlin und kehrte während des Zweiten Weltkriegs in die Schweiz zurück; im Jahr 1960 starb er in Zürich. Zu seinen Schülern zählen neben Brendel auch Paul Badura-Skoda und Daniel Barenboim. Fischers Horizont umfasste Bach, Brahms, Beethoven, Mozart, Schubert, nicht viel mehr. Gleichwohl war er alles andere als ein Perfektionist. Wie bei seinem französischen Kollegen Alfred Cortot gibt es auch in seinen Aufnahmen haarsträubende Fehler, Verspieler, um die sich Legenden ranken. Für Fischer war es weitaus wichtiger, den Willen des Komponisten zu rekonstruieren, um als Pianist selbst zum Medium der Kunst zu werden. Wohin das führt, erklärt sein berühmter Ausspruch:

    "Nicht ich spiele – es spielt."

    Um diesen Zustand zu erlangen, war es nötig, sich bei den Komponisten genauestens auszukennen und die richtigen Noten zu besitzen. Als Herausgeber betreute Edwin Fischer eine Neuausgabe der Klavierwerke Johann Sebastian Bachs, und die hörbare Frucht dieser Mühen war seine phänomenale Aufnahme des Wohltemperierten Klaviers aus den 30er-Jahren, an der sich auch heute noch die größten Pianisten messen lassen müssen. Beispielhaft die Klarheit der Fuge G-Dur aus dem ersten Band. Sie leuchtet – und sie atmet.