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Nicht immer verblüffend

Insgesamt 13 Erzählungen umfasst der Band "Handy" von Ingo Schulze. Was die sprachlichen Qualitäten betrifft, ist allerdings festzustellen, dass sie über landläufiges Mittelmaß kaum hinausreichen, was bei einem so hochgerühmten Autor wie Ingo Schulze doch ein wenig überrascht. Und auch die Pointen so mancher Geschichten wirken etwas platt.

Von Martin Krumbholz | 28.03.2007
    Marek ist ein junger Mann mit einem sechsstelligen Gehalt, der in einer noblen Berliner Kanzlei am Savignyplatz arbeitet. Er macht Karriere und ist kurz davor, in den Briefkopf seiner Firma aufzusteigen, als 23. Person. Deshalb heißt die Geschichte "Glaube, Liebe, Hoffnung Nr. 23". Am Glauben fehlt es ihm nicht, die Hoffnung stirbt zuletzt, doch was die Liebe betrifft, ist Marek reichlich naiv. Eines Tages lernt er eine Briefbotin kennen und verliebt sich halsüberkopf in sie. Ohne Umstände stürzen die beiden ins Bett, eine Romanze ohnegleichen nimmt ihren Anfang.

    "Es bedrückte Marek, dass er Magda nichts anderes sagen konnte, als dass er sie liebe, und dass sie sein Glück und sein Schatz, sein Ein und Alles und noch dazu die Schönste sei, und dass er gern Kinder mit ihr haben würde, alles Sätze, die er schon oft verwendet hatte. Er hatte diese Worte verschleudert, abgenutzt, missbraucht, und nun konnte er sie Magda gegenüber, für die sie allein galten, nur wiederholen."

    Alles spricht also für eine wirklich große Leidenschaft; sieht man allerdings genauer hin, fällt auf, dass die großen Worte, die Marek verwendet, so abgedroschen sind, dass es dem Liebespaar nur gutgetan hätte, wenn der Held sie nicht wiederholt, sondern sich etwas Neues hätte einfallen lassen. Doch Ingo Schulze will ohnehin auf etwas anderes hinaus: auf eine Desillusionierungsgeschichte "in alter Manier". Magda nämlich ist nicht die pure Unschuld, für die der Tor Marek sie hält, sondern eine Nobelhure, die für Sven Svenja, für Joachim Johanna und für Marek eben Magda heißt und für aller Herren Allerheiligstes den originellen Kosenamen "der neugierige Herr Advokat" bereithält. Diese Pointe ist nun doch ein wenig platt.

    Die beste der 13 Erzählungen des Bandes "Handy" heißt "Die Verwirrungen der Silvesternacht". Sie knüpft inhaltlich am unmittelbarsten an die erfolgreichen "Simplen Storys" an. Der Protagonist hat nach der Wende in einer ostdeutschen Provinzstadt einen Copy-Shop aufgebaut und berichtet zunächst von seiner großen Liebe zu einer Schauspielerin namens Julia. Eine andere Frau hat er geheiratet, aber Julia nie vergessen. In der Silvesternacht 1999/2000 ergibt sich die Chance, Julia nach zehn Jahren wiederzusehen, und der Erzähler verrät seinem Leser, er werde just in dieser Nacht seine Frau verlassen und künftig mit Julia leben. Doch es kommt anders: Nicht von der durchaus noch attraktiven Julia, sondern von der Gastgeberin der Silvesterparty, die mit allen Ingredienzien einer Kupplerin ausgestattet ist, lässt der Protagonist sich verführen - und zwar nicht ruckzuck, sondern methodisch und mit Konsequenzen. Diese Pointe am Schluss einer spannend erzählten Story ist einmal wirklich verblüffend.

    Was die sprachlichen Qualitäten betrifft, ist allerdings festzustellen, dass sie über landläufiges Mittelmaß kaum hinausreichen, was bei einem so hochgerühmten Autor wie Ingo Schulze doch ein wenig überrascht. Einmal schildert der Ich-Erzähler, wie er nachts im Nachbarhaus eine Beischlafszene beobachtet:

    "Zurück an meinem Fenster, saß die Frau bereits auf dem Mann, mit einer Hand strich sie sich das lange Haar aus dem Gesicht, mit der anderen stützte sie sich leicht zurückgelehnt auf seinen Schenkel. Ich verfolgte ihre Bewegungen und wie die beiden ihre Taille hielten. Ihre Brüste wirkten übertrieben groß, wie eine Karikatur im Playboy. Um ihr Gesicht zu sehen, musste ich in die Knie gehen, weil es sonst vom Fensterkreuz verdeckt wurde. Sie mögen es merkwürdig finden, doch erst in dem Moment, da ich begriff, dass ich hier kein Video vor mir hatte, spürte ich den Stich im Herzen. Das war nichts Inszeniertes. Was dort drüben geschah, war Wirklichkeit! Zudem fühlte ich mich gedemütigt, weil ich mich nicht von ihrem Anblick losreißen konnte. Nachdem ich mich selbst befriedigt hatte, wusch ich mich, ging ins Bett ... "

    Und so weiter. Nicht nur die Brüste der fremden Frau, sondern auch die sprachlichen Mittel dieser Szene wirken wie aus dem Playboy kopiert. Im übrigen liebt Ingo Schulze das rhetorische Mittel der Leseradresse à la "Aber glauben Sie mir", die Verschachtelung oder Verpuppung mehrerer kleiner Geschichten in einer größeren sowie die selbstreferentielle und immer etwas eitle Anspielung auf frühere Werke wie die mehrfach zitierten "33 Augenblicke des Glücks", eine Methode, die einigermaßen unreflektiert eine Gleichsetzung von Autor und Erzähler insinuiert. In der Geschichte "Eine Nacht bei Boris" forciert der Ich-Erzähler das besagte Babuschka-Prinzip so weit, dass die Spannung nicht etwa geschürt wird, sondern schließlich erlahmt. Die Story habe ursprünglich den Untertitel "Kleine Novelle" tragen sollen, bemerkt der Erzähler einmal, um sich dann zu korrigieren: "Im Alltag gibt es keine Novellen." Was auch immer das heißen soll (vermutlich ist wieder einmal ein Kurzschluss zwischen Realität und Fiktion signalisiert): Die mögliche Novelle wird nicht durch die Banalität des Faktischen, sondern durch die Weitschweifigkeit und Bräsigkeit der Binnenerzählungen verhindert, die zu deutlich die Funktion haben, die Pointe der Hauptgeschichte hinauszuschieben.

    Die kurze Erzählung "Epiphanie am Sonntagabend" schließlich soll, wie der Titel ankündigt, das mystisch aufgeladene Ereignis eines unvermittelten Aufscheinens von Sinn wiedergeben: Ein Kind entdeckt bei einem Picknick im Wald in einer simplen Orangenschale das ganze Wunder des Lebens. Doch der Erzähler verschwafelt, was er erzählen wollte. Es beginnt mit dem bereits überflüssigen Satz "Vielleicht hatte ich nur zu viel getrunken", führt über die Bemerkung "Alle tranken Bier, bis auf die Kinder natürlich" und den von Frauen notorisch geschätzten Prosecco bis hin zu dem kleinmütigen Satz "Sobald ich es aber ausspreche, wird es Nonsens." Warum denn bloß? Sollte ein Erzähler nicht Vertrauen haben in das, was er zu erzählen hat, statt permanent um die Gunst eines ungeduldigen fiktiven Lesers zu buhlen?

    Ingo Schulze: Handy. Dreizehn Geschichten in alter Manier. Berlin Verlag 2007. 280 S.