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Nicht mehr als eine Kopfgeburt

Ein großes Wochenende war das für alle Liebhaber des Cuvilliés-Theaters: Das barocke Kleinod ist nach vier Jahren Umbau- und Renovierungszeit glanzvoll wiedereröffnet worden. Aus diesem Anlass schrieb Roland Schimmelpfennig das Stück "Idomeneus" für den Regisseur Dieter Dorn und das neue Haus. Dabei erzählt Schimmelpfennig mehr, als dass er in den Dialoge auflöst.

Von Sven Ricklefs | 16.06.2008
    Wenn der eiserne Vorhang hochgeht wird der Blick frei auf den leeren Zuschauerraum des Münchner Cuvilliés-Theaters, dessen überbordende Pracht in Rot und Gold, mit Lüstern und Schnörkeln, mit Karyatiden und Putten, mit Logen und ihren Verkleidungen, nun, nach der Renovierung noch mehr zwischen Schönheit und unerträglichem Rokokokitsch changiert. Regisseur Dieter Dorn hat das Publikum auf die Bühne gesetzt und schickt das chorische Personal von Roland Schimmelpfennigs "Idomeneus" dagegen in den Zuschauerraum. Das dreht zum einen den Blick um, lässt den Zuschauer in den Schauspielern Spiegelbilder seiner selbst zwischen den Stuhlreihen sehen, während sich die Schauspieler das von ihnen erzählte hinauf auf die Bühne imaginieren können. Zum anderen betritt Dorns Ensemble wohl auch das Cuvilliés-Theater vor einer Vorstellung von Mozarts Idomeneo, die Oper hat Dieter Dorn ebenfalls gerade zur Wiedereröffnung des Hauses in Szene gesetzt. Die Partituren liegen schon da, noch ist der Orchestergraben verlassen, und hier beginnt man sich nun darüber Gedanken zu machen, wie die Geschichte von dem nach 10 Jahren aus dem trojanischen Krieg durch tosenden Sturm heimkehrenden Kreterkönig Idomeneus noch hätte verlaufen können.
    Idomeneus: "Wenn unser Schiff verschont bleibt, wenn wir den Strand von Kreta lebend erreichen, werde ich das erste Lebewesen opfern, das uns dort begegnet. Was es auch sei. Wer es auch sei. "
    Chor: "Ein Opfer. Was für ein Tausch. Ein Leben opfern und dafür das eigene Leben behalten. Ein Tausch.
    Was für ein Vorschlag: Was es auch sei. Wer es auch sei. "

    Wie bekannt, ist es im Mythos der eigene Sohn, den Vater Idomeneus dem Meeresgott opfern soll, doch während sich Mozart in seiner Oper gleichsam mit der "Happy-End-Lösung beschäftigen durfte, fragt Roland Schimmelpfennigs Stück nach weiteren Varianten. Was etwa wäre, wenn der Vater den Sohn gleich ratz-fatz gemetzelt hätte, was, wenn man ihn, den Vater, ob seiner Grausamkeit dann ebenfalls gehängt, gehäutet, ausgeweidet hätte, was wenn die Mutter - die alte Frage - nicht die 10 Jahre über treu im verlassenen Ehebett gewartet hätte, was wäre wenn ... Verlustangst, Altersangst, Todesangst, Roland Schimmelpfennig schickt sein als Chor konzipiertes Personal auf die Suche nach denjenigen Emotionen, die gleichsam als Urgrauen auch heute noch funktionieren. Dabei lässt er diesen Chor mal im Ganzen sprechen, mal in kleineren Gruppen, in Paaren, mal sprechen durchaus identifizierbare Individuen.
    Idomeneus: "Ich weiß, was ich bin. Ich bin Idomeneus. Siegreich und schiffbrüchig. Ich hänge am Leben, aber ich weiß, wohin die Reise geht, in das Grauen, in den Schmerz."
    Roland Schimmelpfennigs Stück Idomeneus ist eine Art szenischer Kommentar zum Mythos, der Varianten der gewohnten Geschichte durchprobiert und sich dabei immer mal wieder selbst über die Schulter guckt, indem er sie verwirft oder negiert, hinterfragt oder bevorzugt. Dabei erzählt Schimmelpfennig mehr, als dass er in den Dialoge auflöst. Und Dieter Dorn hat sich bei seiner Münchner Uraufführungsinszenierung dafür entschieden, diese Erzählungen nicht zu bebildern. Deswegen der Kunstgriff, das Publikum auf die Bühne zu setzen, deswegen aber schnell auch die Schwierigkeit, wie soll hier die Aufmerksamkeit dieses Publikums theatral gefesselt werden. Dass er der Sprache vertraut, weiß man von Dorn, doch ganz hat er sich in diesem Fall dann doch nicht auf sie verlassen und so kommt es da unten im Zuschauerraum, getaktet im Rhythmus der Blackouts zwischen den einzelnen Szenen zu einer Art gruppendynamischem Aktionismus: mal sind die auf den gemeinsamen Atem getrimmten Schauspieler wie zufällig und dann doch wieder sehr gefällig im Raum verteilt, mal sitzen sie wie ein spitz zulaufendes Dreieck in der roten Bestuhlung, mal hat man sie bis hinauf in die Logen geschickt. Das wirkt alles mehr dekorativ als sinnfällig und hilft auch dem Stück nicht wirklich auf die Füße, das zumindest in dieser Inszenierung dann doch so wirkt, als sei dem sonst so poetisch-theatral versierte Roland Schimmelpfennig bei dieser Auftragsarbeit nicht mehr gelungen, als eine Kopfgeburt, an der sich aber vielleicht doch noch einmal eine allerdings konterkarierende szenische Phantasie versuchen sollte.