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Nicht nur die Vorgeschichte der deutschen Katastrophe

Für die Geschichtswissenschaft ist Preußen ein besonderes Kapitel. Der Blick auf die preußische Geschichte war und ist immer auch der Blick auf 1933: Wer Preußen sagt, muss stets das so genannte Dritte Reich mitdenken. Und so ist auch für den britischen Historiker Christopher Clark die Frage, inwieweit Preußen in die Katastrophen des 20. Jahrhunderts verwickelt war, absolut unverzichtbar. Eine Rezension von Tillmann Bendikowski.

    "Wenn man sich eine Persönlichkeit wie Friedrich den Großen oder irgendeine der vielen schillernden historischen Persönlichkeiten der preußischen Geschichte ansieht, dann gibt es so viele Fragen, die interessanter sind als die Frage, ist das nun reaktionär oder progressiv gewesen. Insofern denke ich, indem man sich trennt von dieser moralisierenden volkspädagogischen Geschichte Preußens, werden die Nuancen, die Schattierungen sichtbarer, als sie vorher waren."

    Schluss also mit der Volkspädagogik. So weit, so gut. Aber wie, bitte schön, soll man es anders - und vor allem: besser - machen? Christopher Clark ist zur Tat geschritten und hat seine eigene Darstellung Preußens zwischen 1600 und 1947 vorgelegt. Sie ist im vergangenen Jahr in England erschienen, jetzt liegt sie als deutsche Übersetzung vor - beeindruckende 900 Seiten stark. Clark möchte mit seinem Buch ohne Zweifel Preußen ein wenig Gerechtigkeit widerfahren lassen - und deshalb auch mit liebgewordenen Vorstellungen aufräumen. So will er zunächst einmal zeigen, dass Preußen eine eigene Geschichte hat - und nicht bloß die Vorgeschichte der deutschen Katastrophe bildet:

    Die Wahrheit ist, dass Preußen ein europäischer Staat war, lange bevor es ein deutscher wurde. Deutschland - hier nehme ich eine der zentralen Thesen dieses Buches vorweg - war nicht die Erfüllung Preußens, sondern sein Verderben.

    Und so beschreibt der Autor zunächst einmal ausführlich diesen Aufstieg des ursprünglichen Brandenburgs zu einem europäischen Staat. Dazu bedurfte es gerade zu Beginn umsichtiger Kurfürsten, denn das Territorium war - gemessen an seinen natürlichen Voraussetzungen - ein weithin trostloses Gebilde:

    Ein Engländer, der sich im Hochsommer Berlin von Süden her näherte, berichtete von ganzen Gegenden voller blankem, heißem Sand; dazwischen hier und da ein Dorf und Wälder aus verkümmerten Föhren, die auf ausgebleichten, dicht von Rentiermoos bedeckten Böden stehen.

    Zudem war dieses Brandenburg ein Binnenstaat ohne natürliche Grenzen, die man hätte verteidigen können. Doch gerade die Frage der Verteidigung stellte sich in der Folgezeit immer wieder - und immer dramatischer. Mehrfach stand Preußen am Rande seiner politischen Auslöschung: Während des Dreißigjährigen Krieges, ein Jahrhundert später im Siebenjährigen Krieg, und schließlich 1806, als Napoleon das Land auf einen Rumpfstaat reduzierte. Solchen Niederlagen folgten indes immer wieder auch glanzvolle militärische Siege. Preußens Geschichte - in dieser Hinsicht eine emotionale Achterbahnfahrt:

    "Das ist eines der merkwürdigsten Wesenszüge der preußischen Geschichte, diese Abwechslung von Phasen frühreifer Stärke und Phasen völliger Niederlage und Passivität. Daraus erklärt sich, dass in der preußischen politischen Kultur, bei den preußischen Eliten, aber sicherlich auch bei einem Teil der Bevölkerung immer ein bleibendes Gefühl der Verwundbarkeit bleibt. Dieses Gefühl, dass man eingekreist ist, dass die Streitmacht immer auf dem Quivive gehalten werden muss, falls es zu weiteren Bedrohungen kommt. Das Gefühl, dass immer Gefahren drohen, dass Preußen dann wieder ausgelöscht werden könnte."

    Für Christopher Clark wurde Preußen früh und nachhaltig geprägt von einem Gefühl der Verwundbarkeit - und dem Wunsch nach einer schlagkräftigen Armee. Die war deshalb, verglichen mit anderen Ländern, schon bald völlig überdimensioniert. War Preußen also in erster Linie ein militärisch geprägtes Gemeinwesen? Der Autor mahnt hier zur Vorsicht. Er verneint zwar nicht einen preußischen Militarismus, will ihn aber relativiert wissen:

    "Es ist vor allem ein Phänomen des späten 19. Jahrhunderts. Also diese Idee, die früher landläufig war, dass Preußen schon immer, also seit dem frühen 18. Jahrhundert, eine schwer militarisierte Gesellschaft wäre - das alles stimmt nicht mehr, oder es sieht nicht mehr so aus. Erst um die Mitte des 19. Jahrhunderts kommt es dann zu diesen langen Ausbildungszeiten, zum Kasernendienst über Jahre hinaus, wo dann die Befürchtung auftaucht, Soldaten könnten en masse indoktriniert werden, dass der Militarismus dann zu einem gesamtgesellschaftlichen Phänomen werden könnte. Natürlich ist das auch so gekommen, natürlich ist das ein Faktor gewesen in der preußischen Gesellschaft - aber eben nicht nur in der preußischen."

    Wenn nun Preußens Geschichte nicht zuvorderst die Geschichte des Militarismus war - was war sie dann? Christopher Clark öffnet den Blick für die Sozialgeschichte dieses Landes im steten Umbruch: Er skizziert die geistes- und kulturgeschichtlichen Leistungen, führt souverän durch die Unterschiedlichkeiten der preußischen Territorien, wirft einen Blick in ein kirchliches Waisenhaus oder verweilt bei der Betrachtung des legendären preußischen Junkers. Dieser thematische Überblick gelingt dem Autor gleichermaßen unterhaltsam wie kenntnisreich - und fast möchte man sagen: unparteiisch, ja gerecht in seinen Urteilen. Preußen erscheint als Land mit Licht und Schatten. Aber dennoch klingt Clarks Bedauern darüber heraus, was nach 1871, was mit der Gründung des Deutschen Reiches aus diesem Preußen wurde:

    Es musste nun lernen, den großen und gewichtigen Raum des neuen Deutschlands auszufüllen. Durch die Anforderungen der deutschen nationalen Souveränität wurde das innere Leben des preußischen Staates komplizierter als zuvor, indem die Unstimmigkeiten zugespitzt, das politische Gleichgewicht gestört, manche Bindungen gelockert, andere dafür verstärkt wurden.

    Ohne Frage prägte Preußen nach 1871 die politische Kultur des Reiches, und zweifellos trat es in vielen Belangen dominant gegenüber dem Rest Deutschlands auf. Der Autor legt allerdings den Schwerpunkt auf den nun einsetzenden Auflösungsprozess, auf die Veränderungen, die Preußen durch die nationale Einheit erfuhr. Indes bleibt er die Antwort darauf ein wenig schuldig, ob das nun tatsächlich an dem neuen Deutschland oder an Preußen selbst lag. Gleichwohl: Das Land jedenfalls hörte selbst dann nicht auf zu existieren, als 1918 die Monarchie nach Krieg und Revolution kollabierte:

    Die Welt schien Kopf zu stehen. Der preußische Staat war durch Niederlage und Revolution hindurchgegangen, und jetzt waren die Polaritäten des politischen Systems vertauscht. In dieser verkehrten Welt setzten sozialdemokratische Minister Truppen ein, um die Aufstände linker Arbeiter niederzuschlagen. Es entstand eine neue politische Elite; ehemalige Schlosserlehrlinge, Verwaltungsangestellte und Korbmacher saßen plötzlich auf preußischen Ministersesseln.

    Ein doppeltes Preußen ließ sich bereits jetzt erkennen: Hier die alten Eliten, die der Republik in offener Feindschaft gegenüberstanden, und dort ein neues Preußen, vertreten vor allem von Sozialdemokraten, etwa dem langjährigen preußischen Ministerpräsidenten Otto Braun. Christopher Clark ist fasziniert von dieser Entwicklung, in der sich für ihn die Stärke des preußischen Staatsgedankens ausdrückt. Die Sozialdemokratie habe deshalb dafür gekämpft, dass Preußen bestehen bleibt, weil sie an die hegelianische Sendung des Staates als Sozialanstalt, als einen Träger des politischen und sozialen Fortschritts geglaubt habe. Dieses doppelte Preußen hatte Bestand - auch während und nach der Machtergreifung der Nazis. So gab es die preußischen Steigbügelhalter und die preußischen Demokraten, die allerdings die Gleichschaltung ihres Staates nicht verhindern konnten. Was von Preußen blieb, war die geteilte Erinnerung. Man könnte auch sagen: Geschichtspolitik. Clark zeigt, wie sich einerseits die Nazis nach Lust und Laune als legitime Erben des alten Preußens gerierten, während sich andererseits Widerstandskämpfer des 20. Juli ebenfalls auf Preußen, auf "ihr" Preußen beriefen.

    Natürlich ist uns einer dieser beiden Preußen-Mythen sympathischer als der andere, doch selektiv und beschwörend waren sie beide. Der Mythos vom "Preußentum" war derart verblasst, war so abstrakt geworden, dass er leicht instrumentalisiert werden konnte. Er hatte keine Entsprechung in der Realität mehr, nicht einmal in der Erinnerung. Alles, was von ihm übrig blieb, war ein Katalog blutleerer, mythischer Attribute, deren historische und moralische Bedeutung umstritten war - und daran sollte sich auch so schnell nichts ändern.

    Preußen - das war nach 1945 nicht mehr als ein Mythos. Dieser Mythos und die doppelte Erinnerung an Preußen prägen bis heute unser Bild. Christopher Clark verdanken wir eine zeitgemäße Analyse dieses eigentümlichen historischen Gebildes: Mit wenigen lässlichen Schwächen, klug, unterhaltsam, lesenswert.

    Tillmann Bendikowski war das über Christopher Clark: Preußen. Aufstieg und Niedergang. 1600-1947. Aus dem Englischen von Richard Barth, Norbert Juraschitz und Thomas Pfeiffer. Das Buch ist in der Deutschen Verlags Anstalt erschienen, hat 896 Seiten und kostet 39,95 Euro.