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Nicht viel Neues, gefällig präsentiert

Der Historiker Jacob Burckhardt legte die Messlatte an: Ein großer Mann ist ein solcher, ohne den die Welt uns unvollständig schiene. Ob das auf Helmut Kohl zutrifft, haben Hans-Joachim Noack und Wolfram Bickerich in ihrer Kohl-Biografie versucht herauszufinden.

Von Daniel Blum |
    Anfangs als Tollpatsch belächelt strebte der Mann aus der Pfalz beharrlich an die Spitze. Sein ganzes Leben widmete er der Politik, unermüdlich rackerte er sich ab auf der Ochsentour nach oben – von Hinterzimmern über Vorzimmer in Chefzimmer, von Weinfesten über Bierzelte, Rathäuser, Parteitage bis in die höchsten Ämter. Er hatte wenig Flausen im Kopf und keine Utopie einer neuen Gesellschaft. Die Macht war sein Ziel.

    Geradlinig, selbstbewusst – nicht nur Helmut Kohls Lebensweg, auch Haltung und Stil seiner beiden Biografen Hans Joachim Noack und Wolfram Bickerich lassen sich so treffend beschreiben. "Helmut Kohl. Die Biografie" heißt ihr Buch knapp und herausfordernd. Dabei ist es keineswegs der erste Titel zu Kohls Leben und Lebenswerk, eine der vielen Vorgänger hat Bickerich übrigens selbst geschrieben. Strikt chronologisch gehen die beiden Autoren vor, ohne größere Exkurse. "Keine Experimente!" – diese Devise von Kohls großem Vorbild Adenauer haben sich auch die Autoren zu eigen gemacht. Um es vorwegzunehmen: Viel Neues haben die Biografen nicht zu berichten. Was man ihnen aber schlecht vorhalten kann, denn Kohl stand jahrzehntelang im Rampenlicht und ist alles andere als ein unbeschriebenes Blatt. Erwarten darf man aber von den Autoren, dass sie das Bekannte zumindest gefällig präsentieren – und das gelingt ihnen zweifelsohne. Anschaulich erzählen sie, wie Kohl gleich nach dem Krieg schon als Oberschüler in Ludwigshafen eben die Eigenschaften entwickelt, mit denen er später den Politikbetrieb prägt.

    Der hoch aufgeschossene Teenager gilt als eine Art Leitwolf, der an seiner Schule die Strippen zu ziehen beginnt. Nach hitzigen Wortgefechten mit jenen Lehrern, die zum Teil noch in der alten martialischen Paukermanier fortfahren, wird er prompt zum Klassensprecher gewählt. Ein von ihm formulierter "Ehrenkodex", der die leistungsstarken Schüler verpflichtet, ihre schwächeren Kameraden abschreiben zu lassen, steigert enorm seine Beliebtheit. Dass er sie häufig nutzt, um seinen Führungswillen zu untermauern, fällt zunächst nur kritischen Geistern auf.

    Der schon in seiner Jugend bullig wirkende Helmut Kohl gewinnt in seiner Pfälzer Heimat schnell an Bedeutung. Er tritt im Politikbetrieb als Halbstarker auf, greift die etablierte Parteiriege an – weniger aus inhaltlicher Überzeugung, als vielmehr deshalb, weil ihm die Platzhirsche im Weg sind. Die Nacherzählung dieses Aufstiegs verknüpfen Noack und Bickerich recht geschickt mit einer Analyse der politischen Landschaft: Die Biografie wird zum Geschichtsbuch der Bundesrepublik. In deren politischer Elite fehlt nach dem Krieg die mittlere Generation, die an der Front verheizt wurde. Einem entschlossenen Jungpolitiker wie Kohl bietet sich die Chance, sich in der Regierungspartei im Eiltempo nach oben zu boxen. Kohl erobert die Politik zunächst ehrenamtlich, dann aber als einer der ersten echten Berufspolitiker, agiert rotzfrech und draufgängerisch – und wird 1957, mit gerade mal 39 Jahren, pfälzischer Ministerpräsident.

    Um glaubhaft das junge, der Zukunft zugewandte Gemeinwesen zu verkörpern, legt er besonders auf Stilfragen Wert. Er findet nichts dabei, seine Sekretärinnen zum Eis in die Mainzer Fußgängerzone einzuladen. Vom ersten Tage an redet der christdemokratische Überflieger praktisch in alles hinein, was auch nur entfernt seinen Vorstellungen widerspricht. Letztlich entscheidet er nach Gutsherrenart. Kutschiert er durchs Land, versieht er den Job wie ein politischer Absolutist. Es ist eine Mischung aus Provinzfürst und Kumpel.

    Inhaltlich wirkt die dichte Darstellung überzeugend, an seinem Stil indes werden sich die Geister scheiden. Noack und Bickerich sind zwei Journalistenveteranen, die jahrzehntelang beim "Spiegel" gearbeitet haben – und dessen Sprachduktus ist ihnen in Fleisch und Blut übergegangen. Während manche diesen "Spiegel"-Jargon lieben, hassen ihn andere geradezu. Was die einen als plastisch und erfrischend provokativ wahrnehmen, empfinden andere als gespreizt, ja manieriert. Davon abgesehen, das Grundprinzip der Zeitschrift, politische Akteure wie literarische Figuren auftreten zu lassen, zu schildern, was sie – mutmaßlich – innerlich antreibt, dieses Prinzip ist für eine Biografie natürlich bestens geeignet. Anzuerkennen ist auch die faire Beurteilung der Lebensleistung von Kohl. Obwohl Noack und Bickerich dem Altkanzler nicht immer gewogen sind, kommen sie zu einem differenzierten Urteil. So befremdet sie einerseits sein kleinbürgerliches Auftreten und charakterliche Schwächen, kritisieren sie deutlich: die missgünstigen Eifersüchteleien gegen Parteifreunde, der selbstgefällige Umgang mit der Parteispendenaffäre. Doch seinem Beitrag zur deutschen und europäischen Einigung zollen sie Anerkennung. Und vor allem stimmt der Tonfall, den die Autoren anschlagen: Blasierter Spott ist ihnen so fremd wie Lobhudelei.

    War Helmut Kohl ein großer Kanzler? So schwach seine innenpolitischen Leistungen ausfielen – er kümmerte sich nicht um die Reform der Gesellschaft -, so unvergleichlich stark war sein Engagement in der Außenpolitik. Spätere Generationen werden Kohl als den Architekten des vereinten Kontinents würdigen; an diesem Ehrentitel hat er zeitlebens hart gearbeitet. Die europäische Einigung zäh vorangetrieben zu haben, war die fast noch größere Leistung, als nach dem Mauerfall den Zipfel vom Mantel der Geschichte zu erhaschen.

    Höchst unglücklich ist die Entscheidung der Autoren, auf Fußnoten komplett zu verzichten. Ähnlich wie die Artikel im "Spiegel" lebt auch dieses Buch davon, mit einer Fülle wörtlicher Zitate Authentizität zu suggerieren. Wenn keine einzige dieser Bemerkungen nachprüfbar belegt wird, dann mag man das einer Zeitschrift - vielleicht - verzeihen, bei diesem Buch mit seiner wohl vierstelligen Zahl an Zitaten befremdet das hingegen nachhaltig. Was bleibt, ist ein Titel, der flott und intelligent unterhält, der aber wenig Neues präsentiert und seine Quellen verbirgt. So taugt das Buch zum politischen Debattenbeitrag nur unter Vorbehalt – eine anregende Lektüre ist es sicher dennoch.

    Daniel Blum war das über: Helmut Kohl. Die Biografie. Das Buch von Hans-Joachim Noack und Wolfram Bickerich ist bei Rowohlt Berlin erschienen. 300 Seiten kosten 19 Euro 95 (ISBN: 978 - 3871346576).