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"Nichts ist ungeheurer als der Mensch"

"Ungeheuer ist viel, doch nichts ist ungeheurer als der Mensch": Es ist wohl kein Zufall, daß just zu diesen wahren Worten, die Sophokles seinem Chor in den Mund gelegt hat, in der Münchner "Antigone"-Inszenierung von Lars Ole Walburg eine Video-Projektion abläuft, die nacheinander die Köpfe der Figuren des mythischen Dramas zeigt, die langsam einer in den anderen übergehen. Diese Figuren sind alle eins, auch wenn sie hier als Bote auftreten, als Herrschersohn, Seher, oder Chor, als sich in Recht und Urteil verrennender Politiker oder als todessehnsüchtig auftrumpfende Überzeugungstäterin. Sie sind alle eins und damit auch alle alles, was hier an Menschenmöglichkeit aufgefächert wird

Von Sven Ricklefs |
    Regisseur Lars Ole Walburg hat damit die antike Tragödie bei ihrer Funktion genommen und dies noch einmal ästhetisch verdeutlicht. Das Drama war immer auch und gerade Spielfeld für akute politische und damit gesellschaftsbewegende Fragen.Wo etwa endet die Verfügungsgewalt eines Staates und seines eingesetzten Herrschers? Gibt es höhere Gebote, göttliche oder auch einfach moralische, die über sie hinausgehen. Das ist eine der Grundfragen, die Sophokles mit seinem Antigonedrama stellt. Als Sproß des Fluchgebeutelten Labdakidengeschlecht hat sie schon Vater Ödipus durch grausames Schicksal verloren, nun auch zwei Brüder, die sich im Machtkampf gegenseitig erschlugen. Einer für einer gegen Theben. Und jetzt soll derjenige, der gegen die Stadt kämpfte, auf Weisung des neuen Königs Kreon zur Strafe nicht begraben werden. Im mutigen aber auch mehr und mehr auftrumpfenden Gestus lehnt sich Antigone gegen dieses Gebot und gegen den Onkel auf,


    Antigone: Ich werde dafür sterben und wenn ich dafür sterbe, sterb ich gern, fromm ist mein Frevel

    Ismene: Heiß für die Kalten schlägt Dein Herz

    Antigone: Ich weiß, wem ich gefallen muß, denn länger bin ich unten da als bei den Menschen hier.
    Tu was du für richtig hältst, verachte was die Götter ehren

    Ismene: Verachten nein, doch hab ich der Gewalt zu trotzen nicht die Kraft

    Antigone: Das ist Dein Vorwand. Ich gehe, den Bruder zu begraben.


    Dafür wird sie lebendig eingemauert. Als Kreon schließlich sein hartes Herrscherdiktum wideruft, ist es zu spät. Antigone und Kreon: Für keinen der beiden ergreift Lars Ole Walburg in München Partei: sein Kreon ist zwar aalglatter Politiker, dessen: wer nicht mit mir ist, ist gegen mich, gerade auch in der aktuellen Weltpolitik seine Beispiele findet, dem aber trotzdem die menschliche Geste des Mitleids nicht fern liegt, und seine tapfere Antigone ist zugleich so stolz geschwellt von ihrer Tat, daß sie sie schon zugibt, fast bevor man sie danach fragt.

    Eine helle Schräge, ein Türblock im Hintergrund, es ist ein fast abstrakter Raum, in dem die Schauspieler - alle in ebenfalls abstraktes Weiß gekleidet - ihr menschliches Anliegen dennoch durchaus behaupten. Unterstützt werden sie dabei von einem Percussionisten, der mit Rhythmus und Bogenstrich Erzählungen und die wenigen Gefühlsausbrüche kommentiert.

    Das Münchner Publikum belohnte diese strenge, präzise und in ihrer Eindringlichkeit ebenso zeitlose wie aktuelle Inszenierung mit einem Beifallssturm, der fast etwas befreiendes hatte. Denn in einem merkwürdig einstimmigen Zweifel scheinen sich Münchner Lokal und auch überregionale Presse in den letzten Monaten darauf verständigt zu haben, immer wieder danach zu fragen, ob derjenige, der doch mal als der erfolgreichste Intendant der 90er Jahre galt, ob dieser Frank Baumbauer nun nach seinem Erfolg in Hamburg auch wirklich in München und als Intendant der Münchner Kammerspiele angekommen sei, sprich hier auch hingehöre.

    Zugleich hat man sich auf ein ebenso einhelliges Loblied auf Dieter Dorn an seinem bayerischen Staatsschauspiel eingesungen, der mit der Fama seines Ensembles und einem Theater, das keinem wehtut, so publikumserfolgreich sicherlich nur noch in München ein Haus füllen kann. Es sind wohl schon die besonderen Vorzeichen dieser Stadt, die zugleich ebenso kunstsinnig und beflissen wie auch provinziell daherkommt, es sind diese Vorzeichen, die bisher eine fruchtbare Auseinandersetzung mit den Kammerspielen unter Frank Baumbauer verhindert haben, der als nicht regieführender Intendant versucht, diese Stadt mit ebenso verschiedenen wie außergewöhnlichen Regiehandschriften zu konfrontieren, das Risiko zu scheitern mit eingeschlossen.

    Eine dieser Handschriften gehört sicherlich Lars Ole Walburg, der sich hier schon mit einem fulminanten Büchnerschen Danton ins Gedächtnis geschrieben hatte. Sein neuer Erfolg mit Antigone wird Frank Baumbauer die in diesen Wochen anstehende Entscheidung für eine Vertragsverlängerung sicherlich erleichtern. Gegen alle Widerstände.