Donnerstag, 25. April 2024

Archiv


Nichts zu verlieren

Auf mindestens 700.000 schätzen die UN die Zahl der Menschen, die sich seit Ausbruch des Syrienkonflikts auf der Flucht befinden. Erstes Ziel ist meist die Türkei. Von dort aus geht es in Schlauchbooten hinüber zu den griechischen Inseln - wo die Bewohner diejenigen begraben, die es nicht lebendig an Land schaffen.

Von Luise Sammann | 27.02.2013
    Ein Friedhof wie aus dem Bilderbuch. Hoch über Mytilene, der Hauptstadt von Lesbos, glänzen weiße Marmorsteine wie poliert in der Nachmittagssonne. Besucher haben bunte Sträuße und Kerzen auf die Gräber gelegt, kleine Schwarzweißfotografien erinnern an die Verstorbenen.

    Nur ganz am Rand, dort, wo die die Gräberreihen längst zu Ende sind, wo Unkraut und Gras wuchern, stecken ein paar schmucklose Marmorsplitter im Boden. Gräber ohne Fotos und vor allem ohne Namen.

    "Wir haben versucht ihre eigenen Zeremonien zu respektieren."

    Sagt Efi Latsoudi - vielleicht die einzige Griechin, die hier regelmäßig herkommt.

    "Es sind wohl Muslime und Nicht-Muslime unter ihnen, also wurde zwei Mal gebetet. Einige Afghanen haben uns gezeigt, wie sie ihre Toten nach Mekka hin ausrichten. Und dann haben wir Blumen auf die Gräber gelegt - das ist zwar nicht ihre Tradition, aber unsere."

    Efi Latsoudi blickt hinunter auf die kleinen Hügel zu ihren Füßen. 22 Flüchtlinge hat sie hier im Dezember begraben. Sie kannte sie nicht - so wie niemand auf Lesbos die Tausenden meist junge Männer kennt, die seit Jahren mal tot mal lebendig auf der Insel stranden. Und doch hat die 44-Jährige dafür gesorgt, dass die Namenlosen in Würde ruhen dürfen. Solange jedenfalls, bis die nächsten Leichen kommen:

    "Letzten Monat, als wir wieder besonders viele beerdigen mussten, haben sie uns von der Friedhofsverwaltung gesagt: Bitte tut etwas, wir haben einfach keinen Platz mehr! Jetzt müssen einige Gräber wieder ausgehoben werden, wenn neue kommen. Für diese Menschen gibt es keinen Platz, wenn sie am Leben sind, und auch nicht, wenn sie tot sind."

    Erst recht nicht jetzt, da die Folgen des blutigen Kriegs in Syrien auf Lesbos angekommen sind.

    Türkei fühlt sich mit Flüchtlingsproblem allein gelassen

    Auf mindestens 700.000 schätzen die Vereinten Nationen die Zahl der Menschen, die sich seit Ausbruch des Syrienkonflikts vor zwei Jahren auf der Flucht befinden. Mehr Frauen, Männer und Kinder, als in einer Stadt wie Stuttgart leben.

    Die meisten von ihnen haben in den syrischen Nachbarländern im Irak, in Jordanien, dem Libanon und der Türkei Unterschlupf gefunden. Dort sollen sie, nach Meinung der europäischen Regierungen, möglichst bleiben.

    Und so klagt vor allem der türkische Ministerpräsident Erdogan, dass man sein Land mit dem überwältigenden Problem alleine lasse. 300.000 Syrer hat sein Land bereits aufgenommen, so Schätzungen, täglich kommen im Schnitt etwa 1000 dazu. Gleichzeitig aber steigt auch die Zahl derer, die die Türkei wieder verlassen.

    Ein kleiner Raum, irgendwo in einem heruntergekommenen Viertel von Istanbul. Es ist kalt, die drei jungen Männer haben Jacken an, reiben beim Sprechen die Handflächen aneinander. Jetzt, im Winter, dringt die Kälte durch jede Ritze der schlecht isolierten Wohnung. Wenn sie es nicht mehr aushalten, sammeln Amir und sein Mitbewohner Fuad Müll und verbrennen ihn in einem Blecheimer auf dem Boden.

    Amir:
    "Wir teilen uns die zwei Zimmer mit sechs Leuten. Wir heizen so gut wie gar nicht und wir verbrauchen auch keinen Strom, wegen der Rechnung."

    Fuad:
    "Aber es geht auch ohne Heizung, kein Problem. Denken Sie an Syrien, da steht kein Baum mehr, Gas und Elektrizität funktionieren nicht. Was meinen Sie, wie die da heizen?!"

    14 Flüchtlingslager hat die türkische Regierung in den letzten Monaten entlang der syrischen Grenze hochgezogen. Amir weiß Bescheid, in einem davon hat er selbst mehrere Wochen verbracht.

    "Die Türken haben sich gut um uns gekümmert", erinnert sich der 24-Jährige. Auch jetzt könnte er dort in Sicherheit leben und essen, wärmer als hier wäre es allemal.

    Doch Amir und seine Freunde wollen nicht. "Auch wenn wir auf dem Boden schlafen und nicht heizen können - das hier ist besser”, meint Hussein, der vor über einem Jahr nach Istanbul kam.

    "In den Camps ist man eingeschränkt, kann sich nicht frei bewegen, geschweige denn arbeiten. Aber ich bin hierhergekommen, um Geld zu verdienen und es nach Hause zu schicken!"

    Die Flüchtlinge wollen Geld verdienen

    Amir, Fuad und Hussein sind nicht in die Türkei gekommen, um in einem Flüchtlingslager zu sitzen und einfach nur zu warten. In einer der unzähligen Textilfabriken am Rande Istanbuls nähen sie elf Stunden am Tag Kleidung für den europäischen Markt. Illegal! Blusen, Hemden und Röcke "Made in Turkey”.

    Hussein:
    "Mein Vater in Syrien ist alt und krank. Mein jüngerer Bruder kümmert sich jetzt um ihn und meine Familie. Einer von uns musste gehen, um irgendwie Geld zu verdienen."

    Mit jedem Tag, mit dem der Konflikt in Syrien anhält, wird das Leben dort teurer. 15 syrische Pfund - etwa 20 Cent - hatte eine ganze Familie vor dem Konflikt täglich für Brot ausgegeben, erinnert sich Hussein. Inzwischen sind es drei Euro!

    Fuad:
    "Ich übernehme extra Schichten. Wenn ich um 20 Uhr Feierabend habe, arbeite ich bis 23 Uhr weiter. Das Geld spare ich, um damit nach Deutschland oder in ein anderes EU-Land zu kommen. Legal geht es nicht, also gehe ich illegal, übers Meer."

    Keine Aussicht auf Legalität

    Seit zwei Jahren dauert der blutige Konflikt in Syrien an. Mit jedem weiteren Gewaltakt sinkt die Hoffnung auf baldigen Frieden. Selbst wenn einige Tausend Sunniten in ein vom alawitischen Assadclan befreites Syrien zurückkehren sollten. Rachefeldzüge und extremistische Gruppen würden neue Flüchtlingswellen auslösen, so die düstere Prognose von Nichtregierungsorganisationen in der Region.

    Die Grenze zur Türkei wird sich damit in absehbarer Zeit nicht beruhigen. Eine Zukunft aber, Aussichten auf ein legales Leben, haben die Syrer dort nicht: Kein gültiges Asylgesetz empfängt sie im großen Nachbarland!

    Immer und immer wieder erklärt Zaid Hydari in diesen Tagen, was die türkische Gesetzgebung für die etwa 300.000 Syrer im Land bedeutet. Der junge New Yorker Anwalt arbeitet mit der unabhängigen Helsinki Citizens' Assembly in Istanbul, berät hier gestrandete Flüchtlinge in Rechtsfragen. Viel Hoffnung kann er den syrischen "Gästen" - wie die türkische Regierung sie ganz bewusst nennt - nicht machen.

    "Die Syrer fallen unter die sogenannte temporäre Schutzrichtlinie. Diese Richtlinie, die die Regierung in Ankara extra für die Syrer erlassen hat, bedeutet, dass die Grenze für syrische Flüchtlinge geöffnet bleibt, dass sie nicht nach Syrien deportiert werden können und dass ihre Lebensgrundlage hier in der Türkei gesichert wird. Aber sie erhalten damit grundsätzlich keine Möglichkeit auf Asyl!"

    Faktisch bedeutet das: keine Aussicht auf eine langfristige Aufenthaltsgenehmigung, auf Zugang zum Sozialsystem, auf eine Arbeitsgenehmigung. Die Welle an syrischen Asylsuchenden, die die Türkei sonst in nur wenigen Tagen erreichen würde, wäre wohl auch mit dem bestorganisierten Asylsystem der Welt nicht zu bewältigen. Und so wird die temporäre Schutzrichtlinie in Kraft bleiben, solange der Konflikt in Syrien anhält, prophezeit Anwalt Hydari.

    Außerhalb der 14 offiziellen Camps sind damit alle Syrer in der Türkei über kurz oder lang Illegale. Auf 100.000 schätzen die Vereinten Nationen ihre Zahl schon jetzt.

    Zaid:
    "Die Menschen werden sich mit Sicherheit nach Alternativen umsehen. Sie wollen hier nicht in Warteposition verharren und Zeit verlieren. Und viele von ihnen werden einen Weg finden um weiterzuziehen, ob nun legal oder illegal."

    Über Umwege nach Griechenland

    Jahrelang führte die Flüchtlingsroute von Istanbul in die EU über die Landgrenze nach Griechenland im Norden der Türkei. Seit die griechische Regierung jedoch im Dezember 2012 einen zehn Kilometer langen Grenzzaun fertiggestellt und gemeinsam mit der EU das Kontingent an Grenzschutzsoldaten massiv aufgestockt hat, ist hier kein Durchkommen mehr für Schlepper und Flüchtlinge.

    Und so geht die Reise nun von Istanbul aus an die Westküste der Türkei, von dort mit Schlauchbooten hinüber auf die ostägäischen Inseln Lesbos, Chios und Samos. Auch hier kreuzt zwar die griechische Küstenwache Tag und Nacht, versucht die Flüchtlingsboote noch auf See zu sichten und in die Türkei zurückzudrängen, bevor sie überhaupt EU-Gewässer erreicht haben. Doch der Andrang ist zu groß.

    Efi:
    "Manchmal haben wir jeden Tag ein Boot, manchmal ist es alle zwei Tage eins, je nachdem."

    Efi Latsoudi fährt langsam am Strand der griechischen Insel Lesbos entlang. Ein paar Meter von ihr endet die EU - für einige aber beginnt sie hier.

    Die ostägäischen Inseln, zu denen Lesbos gehört, liegen nur weniger Kilometer vor der türkischen Küste. Afghanistan, Irak, Somalia - für die Inselbewohner ist es immer das gleiche Muster: Zuerst hören sie in den Abendnachrichten von Krisen und Konflikten, scheinbar weit weg von ihrer eigenen Welt. Nur wenige Wochen später aber, wenn die ersten Boote voller Geflüchteter ihre Strände erreichen, sehen sie die Folgen mit eigenen Augen.

    Nun also Syrien: Um 90 Prozent, so die Angabe der Küstenwache, ist die Zahl der "illegalen Grenzüberschreitungen" auf Lesbos im vergangenen Jahr gestiegen. Nach Afghanen sind Syrer längst die zweitgrößte Flüchtlingsgruppe.

    Efi:
    "Sie kommen hier mitten in der Nacht an, alle nass und verängstigt von der Überfahrt. Manche von ihnen glauben, sie wären in Athen gelandet oder sie sagen einfach: Jetzt sind wir in Europa. Wir sagen ihnen dann: Ihr seid auf Lesbos - das bedeutet für sie erst mal am Ende der Welt."

    Von dort, wo Efi Latsoudi steht, kann sie bei klarem Wetter die türkische Küste sehen. Keine eineinhalb Stunden dauert die Überfahrt mit der Fähre vom türkischen Ayvalik ins griechische Mytilene. Ein schöner Ausflug für alle die, die einen geeigneten Pass haben. Im Sommer sitzen jeden Tag Hunderte Urlauber mit Sonnenbrillen und kalten Getränken auf Deck.

    Die Schlepper verdienen gut

    Mit einem überladenen Schlauchboot allerdings, nachts, bei Temperaturen um den Gefrierpunkt und rauer See wie heute, wird die Überfahrt zum Horrortrip. Immer wieder endet sie tödlich:

    Efi:
    "Es war am 14. Dezember. Da haben wir hier 22 Tote gefunden. Die leblosen Körper von Flüchtlingen. Der ganze Strand war voller Leichen. Ein trauriger Moment, so tragisch. Wir wissen, dass die Überfahrt gefährlich ist. Aber auch wenn man es weiß - daran gewöhnt man sich nie."

    Das zerfetzte Gummiboot, aus dem Efi Latsoudi jetzt einen durchnässten rosafarbenen Kinderpullover zieht, muss heute im Morgengrauen angekommen sein. Gestern, weiß sie, lag es noch nicht hier. Von den Flüchtlingen ist nichts zu sehen, sie haben ihre Reise schon fortgesetzt. Die Helferin kommt zu spät, um sie mit trockenen Kleidern und Tee zu versorgen.

    "Das hier sind die Schwimmwesten, die sie liegen lassen, wenn sie ankommen. Dünne Dinger, die können kein Leben retten. Und das hier ist das Schlauchboot, da setzen sie 40, 45 Leute rein. Unglaublich! Das Boot kostet den Schlepper höchstens 3000 Euro. Und dann nimmt er 40 bis 45 Flüchtlinge für 1500 Euro pro Person mit. Das ist ein Riesengeschäft!"

    Es ist ein Geschäft, das kein noch so hoher Grenzschutzetat bisher eindämmen konnte. Allein im Jahr 2011 weist der EU-Haushalt mehr als 400 Millionen Euro "für verstärkte Maßnahmen zur Bekämpfung der illegalen Einwanderung" aus. Doch trotz hochmoderner Nachtsichtgeräte, trotz der Grenzzäune und unmenschlicher Zustände in überfüllten Auffanglagern: Syrer, Afghanen oder Somali hält es am Ende nicht in ihren geschundenen Ländern.

    Um der Küstenwache zu entgehen, stechen die überfüllten Schlauchboote auf dem Weg nach Lesbos auch im Dunkeln und bei Sturm in See. Um verschärften Gefängnisstrafen zu entgehen, kommen die ortskundigen Schlepper selbst nicht mehr mit an Bord, überlassen die Fliehenden ihrem eigenen Schicksal. Die meisten von ihnen können nicht schwimmen.

    Drei Monate Reise von Syrien bis in die EU

    "Wir sind mit einem kleinen Boot gekommen, die Wellen schlugen über uns zusammen. Wir waren 40 Passagiere, darunter vier kleine Kinder und eine schwangere Frau im sechsten Monat. Es war wahnsinnig gefährlich. Gott sei Dank sind wir angekommen."

    Hassan sieht, in Jeans und Turnschuhen, von Weitem nicht anders aus, als Jugendliche überall in Europa. Mit ihren Schlafsäcken über der Schulter könnten er und die anderen Syrer im Hafen von Lesbos auch auf dem Weg zum Campingplatz sein. Erst seine Erzählungen, dazu die weit aufgerissenen Augen, die verkrampften Finger, verraten, was der 18-Jährige hinter sich hat.

    Die Reise von Syrien in die EU hat ihn drei Monate gekostet - bisher. Denn hier im Fährhafen von Lesbos ist sie noch lange nicht zu Ende. Genauso wenig wie die Albträume, mit denen Hassan lebt, seit in seiner Heimatstadt Homs täglich Blut fließt. Mindestens 60.000 Menschenleben hat dieser Krieg schon gefordert. Eines von ihnen gehörte Hassans bestem Freund.

    "In Syrien weißt du nicht mehr, ob du morgen tot bist oder lebst. Jede Sekunde kann dein Haus in die Luft fliegen. Jede Sekunde kannst du auf der Straße getroffen werden. Überall ist es gefährlich. Die einzige Chance ist, mit seiner Familie zu fliehen."

    Nächstes Ziel: Deutschland

    Rais aus Aleppo hat genau das getan. Nach Lesbos kam er mit dem gleichen Schlauchboot wie Hassan. Gemeinsam mit seiner Frau und der fünfjährigen Tochter. Die letzten zwei Wochen hat die Familie mit Dutzenden anderen in einer winzigen Zelle auf der Polizeistation von Lesbos zugebracht.

    Der Platzmangel dort war am Ende ihr Glück - die Beamten mussten Raum für Neuankömmlinge schaffen und ließen Rais und seine Familie gehen. Andere sogenannte illegale Einwanderer werden hier monatelang festgehalten.

    Jetzt aber blickt Rais hoffnungsvoll auf die dreistöckige Fähre, die gerade im Hafen festmacht. In der einen Hand hält er ein Papier, das ihn, den Illegalen, verpflichtet, die Europäische Union innerhalb von vier Wochen wieder zu verlassen. In der anderen Hand aber flattert das Ticket nach Athen.

    "Ich möchte es in ein Land schaffen, wo wir in Sicherheit und Frieden leben können. Ich möchte, dass meine Tochter zur Schule gehen kann."

    Syrien, seine Heimat, hat Rais von der Liste der möglichen Länder gestrichen. Auch in einem türkischen Flüchtlingslager zu warten, wäre unvorstellbar für den Ingenieur.

    Nun also Griechenland. Ein krisengeschüttelter Staat, dessen Asylsystem schon vor dem Syrienkonflikt restlos überlastet war. Griechenland, wo die Rechtsradikalen laut Umfragen im Moment etwa zwölf Prozent der Wählerstimmen erhalten würden und im Parlament eine "ethnisch reine" Nation fordern. Rais winkt ab.

    "Wir werden auch nicht in Griechenland bleiben. Natürlich ist das illegal. Aber wir werden einen Weg finden, so, wie wir auch hierhergekommen sind, mit Schleppern eben. Vielleicht schaffen wir es bis nach Deutschland."

    Die Bundesregierung hat wiederholt klargestellt, dass sie syrische Flüchtlinge nicht in großem Stil aufnehmen wird. "Hilfe am Ort" sei die Devise, so Markus Löning, Menschenrechtsbeauftragter der Regierung. Doch je länger der blutige Konflikt in ihrem Heimatland anhält, desto mehr Syrer werden sich auf die Reise nach Europa machen. Ob legal oder illegal. Schon jetzt kommen aus Syrien so viele Asylbewerber nach Deutschland wie aus keinem anderen Staat.