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"Nichtstun ist viel gefährlicher als Solidarität üben und Risiken eingehen"

Das große Problem sei nicht der Euro, er sei eine stabile Währung, meint EU-Parlamentspräsident Martin Schulz. Die Regierungschefs hätten jedoch primär ihre nationalen Überlegungen und nicht die der Europäischen Gemeinschaft im Kopf. Und ohne Gemeinschaftsgeist werde die Krise nicht schnell beendet sein, kritisiert Schulz.

Martin Schulz im Gespräch mit Doris Simon | 08.07.2012
    Doris Simon: Herr Schulz, Sie sind jetzt sechs Monate Präsident des Europäischen Parlaments. Sie haben in dieser Zeit mit vielen Leuten geredet, mit Entscheidungsträgern, aber auch mit Bürgern quer durch die Europäische Union. Haben Sie jetzt nach Ihrem ersten halben Jahr im Amt mehr Zuversicht als vorher, ob und wie diese Krise bewältigt werden kann - oder mehr Sorge?

    Martin Schulz: Ich habe mehr Sorge. Die Krise ist eine Krise, die nur ganz schwer zu steuern ist, weil die europäischen Regierungschefs nach meinem Eindruck keine gemeinschaftliche Linie entwickeln können, teilweise auch nicht wollen. Das große Problem ist nicht der Euro. Der Euro ist eine stabile Währung mit einem stabilen Außenwert. Die Eurozone hat ein größeres Wachstum als die Vereinigten Staaten von Amerika und geringere Schulden. Trotzdem gehen Anleger in die USA. Und die Begründung dafür ist, die USA hat eine Regierung, sie spricht mit einer Stimme, sie hat ein Parlament, das trifft klare Entscheidungen, und sie hat eine Zentralbank, die handlungsbevollmächtigt ist. In Europa ist das nicht so. Europa hat 17 Regierungen in der Eurozone, die in 17 verschiedene Richtungen davon laufen, und ich sehe nicht, wie wir das ändern können. Da sitzen Regierungschefs zusammen, die haben primär ihre nationalen Überlegungen im Kopf und nicht die der Europäischen Gemeinschaft. Wenn wir das nicht ändern, wenn da nicht der Gemeinschaftsgeist endlich entsteht, dann wird die Krise auch nicht so schnell beendet sein.

    Simon: Zumal wir ja erleben, dass die Krise sich zuletzt verschärft hat. Wir haben die Krise der Banken, wir haben die hohen Zinsaufschläge für Länder wie Spanien, wie Italien. Griechenland liegt weit zurück in dem, was es in Sachen Sparen und Reformen machen muss. Und wir haben vor allem auch – und das ist viel stärker geworden in den letzten Jahren –diesen Protest in der Bevölkerung, einmal in manchen Ländern gegen Sparauflagen, und in anderen wie zum Beispiel Niederlande, Finnland, aber auch in Deutschland ein sich Wehren gegen das, was als unangemessene Zumutung empfunden wird, nämlich noch mehr Hilfe für die, die es brauchen in Europa. Wenn Sie so skeptisch sind und ich diesen Zustand so beschreibe, ist die Eurozone denn dann in ihrer jetzigen Form noch zu retten?

    Schulz: Ja, natürlich ist sie zu retten. Sie muss auch gerettet werden, weil ein Auseinanderbrechen der Eurozone eine dramatische wirtschaftliche Entwicklung nach sich ziehen würde. Und das ist der Vorwurf, den ich auch der Regierung der Bundesrepublik Deutschland mache, nicht nur ihr, sondern auch den Regierungen in anderen Ländern. In den Niederlanden, das ist wirklich skandalös. Die niederländische Wirtschaft hängt vom deutschen Markt extrem ab. Deshalb wären gerade diese beiden Regierungen verpflichtet, ihren Völkern zu sagen, dass die Risiken, die wir da eingehen, enorme Risiken sind. Aber wenn wir sie nicht eingehen würden, wären die Risiken noch unverhältnismäßig höher. Ich weiß, dass das nicht attraktiv für eine Regierung ist, aber man kann nicht vom Volk, auch nicht von den Volksvertretern, Zustimmung erwarten, wenn man nicht die Karten auf den Tisch legt. Fakt ist eins, wir Deutschen gehen ungeheure Risiken ein. Aber wenn der Euro auseinanderbricht, das heißt, wenn wir sie nicht eingehen, diese Risiken, und der Euro bricht auseinander, wir führen wieder die D-Mark ein, die Escudos, die Peseten, die Gulden, den Franc in drei Ländern, dann ist der Aufwertungsdruck auf die Deutsche Mark so groß, im Verhältnis gerade zu diesen Schwachwährungen in Europa, die dann entstehen, dass unsere Produkte im Ausland so verteuert werden, dass die deutsche Exportwirtschaft einbricht. Und gleichzeitig müsste sich die D-Mark in der Welt behaupten gegen den Yen, gegen den Yuan, gegen den Dollar, dann tritt das ein, was ein anderer als ich einmal richtigerweise beschrieben hat, nämlich der Zustand, dass Deutschland dann für Europa zu groß, aber für die Welt zu klein ist. Und kein Land ist dann mehr bedroht als wir. Ich fände es gut, wenn die Regierung so dem Volk die Risiken erklären würde: Nichtstun ist viel gefährlicher als Solidarität üben und Risiken eingehen.

    Simon: Sie kritisieren die Regierung, aber wenn wir zum Beispiel jetzt einmal nach Deutschland schauen, da haben in dieser Woche 160 deutsche Wirtschaftsprofessoren die Bevölkerung mehr oder weniger aufgefordert zu protestieren gegen das, was auf dem letzten Gipfel beschlossen wurde, nämlich der Einstieg in eine Bankenunion, der anfängt mit einer endlich europäischen Aufsicht für alle Banken. Das als Voraussetzung, dass dann irgendwann auch direkt Geld aus dem Rettungsschirm an Banken gezahlt werden kann. Es ist nicht nur eine Regierung, die ihrer Bevölkerung nichts erklärt, da sind auch große Teile in der Bevölkerung, die das auch für falsch halten, und Leute, die viele Menschen als Experten ansehen.

    Schulz: Dazu will ich mich nicht äußern. Ich kenne den Kompetenzgrad der Damen und Herren, die diesen Aufruf unterschreiben, nicht. Ich vermag auch nicht deren Einblick in die Realitäten der Politik zu bewerten. Ich kann nur aus meiner Sicht eins sagen: Die Bundesrepublik braucht eine offene Debatte über Chancen und Risiken des Euros. Kein Land hat mehr am Euro verdient als die Bundesrepublik. Es ist ja schon erstaunlich, dass die gleichen Leute ignorieren, dass die Bundesrepublik ihre Staatsanleihen zu null Prozent platziert, während andere Staaten ihre Staatsanleihen für sieben Prozent platzieren. Diese Leute müssten auch mal, wenn sie ehrlich sind, eine Antwort auf folgende Frage geben: Warum ist es eigentlich so, dass in Italien ein Regierungschef, der das Geld wirklich für seine konsumptiven Programme, die er für die Wahl aufgelegt hat, mit Schaufelbaggern aus dem Fenster geschmissen hat ...

    Simon: ... Sie meinen Silvio Berlusconi ...

    Schulz: ... und sein Land in die höchste Staatsverschuldung getrieben hat, die das Land je hatte, an den Finanzmärkten Geld bekam – ohne Probleme – und dass das exakte Gegenteil von ihm, Ministerpräsident Monti, die Inkarnation der Seriosität, der seinem Land ein drastisches, drakonisches Sparprogramm verordnet, zugleich von den gleichen Banken, die Berlusconi Geld geliehen haben, gesagt bekommt: Zu dir haben wir aber kein Vertrauen. Das ist eine interessante Frage, die wir mal beantworten müssen. Es gibt ja Kräfte in dieser Welt, die wollen, dass Italien in die Knie geht. Fast acht Prozent des deutschen Stahlexportes gehen nach Italien. Wir Deutschen müssten dringendes Interesse daran haben, wenn wir weiterhin am Euro verdienen wollen, was wir jeden Tag tun, dass der Euro stabil bleibt. Dazu gehört, dass wir die Absatzmärkte Deutschlands in der Eurozone stabilisieren. Ich glaube, darüber haben die Professoren noch nicht ausreichend nachgedacht.

    Simon: Wir haben ja bei dem letzten Gipfel vor einer Woche erlebt, wie stark die Fronten schon verhärtet sind. Wie hart werden die Verteilungskämpfe noch innerhalb der Europäischen Union, innerhalb der Eurozone- und wie viel hält die Eurozone aus?

    Schulz: Zunächst muss man ja auch mal die Wahrheit sagen. Es ist ja erst ganz wenig Geld geflossen. Von diesen Hunderten Milliarden gehen wir zunächst mal von Bürgschaften aus.

    Simon: Sie meinen jetzt die Rettungsschirme?

    Schulz: Die Rettungsschirme. Das sind Bürgschaften, die – das muss man ja auch mal sagen – nicht nur von der Bundesrepublik Deutschland gestellt werden, die werden auch von Frankreich gestellt. Also, die Bundesrepublik verbürgt mit 22 Prozent, Frankreich mit 18. Da wird ja nie drüber geredet. Da wird immer so getan, als wären es nur die Deutschen alleine. Und selbst die Staaten, die aus dem Rettungsschirm Geld bekommen, zahlen zunächst einmal in diesen Rettungsschirm ein. Deshalb ist dieses verzerrte Bild, dass nur wir Deutschen den anderen, diesen nutzlosen Südländern, helfen würden, das ist ja ideologisch aufgeladen. Und zum Gipfel selbst – ich habe ja an dem Gipfel teilweise teilgenommen. Da herrschte nicht diese Atmosphäre, wie sie berichtet worden ist. Da ist am Ende ein schwieriger, aber ein Kompromiss herausgekommen. Das Problem war, dass beide Seiten vor dem Gipfel verbal aufgerüstet haben. Hinzugehen und zu sagen: "Das ist mit mir nie zu machen" ist eine Verhandlungsposition, die nur zu einer Niederlage führen kann, weil: am Ende muss ein Regierungschef oder eine Regierungschefin einen Kompromiss schließen. In einem Staatenverbund wie Europa ist das so. Und deshalb hätte ich es besser gefunden, beide Seiten, sowohl die spanische oder italienische Seite als auch die deutsche, hätten sich vorher nicht so verbal aufgemotzt, wie das geschehen ist.

    Simon: Tatsächlich aber klafft es auseinander, und das zunehmend, zwischen Norden und Süden in der Eurozone. Wie ist das auszuhalten? Die Interessen sind doch unterschiedlich, wenn die einen Eurobonds fordern und die anderen sagen, mit uns keine gemeinschaftliche Haftung?

    Schulz: Nein, das stimmt ja nicht. Ich fordere zum Beispiel auch Eurobonds und bin kein Italiener, ich bin Deutscher. Und ich stelle immer die gleiche rhetorische Frage: Was ist das – Sie können sich dort Geld leihen, weil Sie an den Märkten kein Geld mehr bekommen, zu vertretbaren Zinsen und alle anderen verbürgen es – was ist das? Das ist ein Eurobond. Nein, das ist ein europäischer Stabilitätsmechanismus. Wir sind ja längst beim Bond. Warum sagen wir nicht die Wahrheit! Und zweitens, Irland ist kein südeuropäisches Land. Irland hat mit die höchste Staatsverschuldung in Europa. Die Niederlande, dieser Musterschüler, geführt von Herrn Rütte, dem Premierminister, haben 8,8 Prozent Staatsdefizit. Und jetzt spricht man davon, nachdem die drakonischen Maßnahmen, die die niederländische Regierung gegen Spanien und Griechenland wie kaum eine andere radikal verlangt haben, gegen sie selbst angewendet wird, spricht diese Regierung vom Diktat aus Brüssel. Also, ich meine, man muss schon mal die Kirche im Dorf lassen. Es gibt keine Nord-Süd-Spaltung, sondern es gibt eine ideologische Spaltung in der Europäischen Union. Aber für Ideologie kann man sich nichts kaufen. Was wir brauchen, sind pragmatische Lösungen. Ich sage das noch mal: Zu den pragmatischen Lösungen gehört, dass wir endlich in Deutschland – und das ist eine Aufgabe der Bundeskanzlerin und des Finanzministers – den Leuten sagen, wir tun das nicht aus heiterem Himmel und nicht ohne Sorgen, aber wir wollen die Bankenunion, wir wollen die nachhaltige Aufsicht, wir haben den Fiskalpakt durchgesetzt, wir machen eine Wachstumsstrategie, wir wollen den Rettungsschirm, weil der Euro und die Eurozone die Basis der deutschen Wirtschaft sind.

    Simon: Aber wie viel muss man reden, um eine Bevölkerung, zum Beispiel in Deutschland, zu überzeugen, die massiv gegen jede Form gemeinschaftlicher Haftung ist? Die massiv ist gegen Eurobonds, die Sie fordern. Hat da nicht auch das Europaparlament manchmal so ein bisschen eine rosarote Brille auf nach dem Motto, Deutschland wird das schon stemmen können und sollte mehr tun?

    Schulz: Also, ich will es noch einmal wiederholen, das ist nicht Deutschland alleine. Und wir beide sind Deutsche. Aber man kann Europa nicht durch die deutsche Brille alleine betrachten. Das stimmt ja einfach nicht, wir Deutsche. Ich wiederhole die Zahl noch mal: Wir verbürgen 22 Prozent, die Franzosen 18. Aber wenn ich jeden Tag ein Trommelfeuer zulasse als Regierung in der Boulevardpresse, selbst in seriösen Medien, wo der Eindruck erweckt wird, es sei ja nur Deutschland, und ich nicht mal hinschaue in unsere Nachbarländer, die sagen, warum sind die Deutschen eigentlich nicht bereit, zuzugeben, dass sie in ihrer Wirtschaftskrise in den Jahren 2008 bis 2010, die Abwrackprämie zugelassen haben, dass sie das Kurzarbeitergeld zugelassen haben, mit dem sie ihre Staatsverschuldung in die Höhe getrieben haben, aber ihre Wirtschaft stabilisiert. Warum haben wir eigentlich eine deutsche Regierung, die sagt, das gilt nur für uns, für euch gilt nur sparen, sparen, sparen? Das ist auch eine Sichtweise, über die wir mal nachdenken müssen. Und natürlich müssen Sie viel reden, um eine Bevölkerung zu überzeugen. Aber wenn Sie zulassen, dass einer Bevölkerung ständig erzählt wird, ja eigentlich ist das so, wir sind so gut, weil wir so fleißig sind, weil wir so gut arbeiten, deshalb verdienen wir auch so viel. Die anderen, die sind nutzlos, die bringen nichts, die sind in der Pleite, weil sie nicht arbeiten können, weil sie nicht so nachhaltig sind wie wir, weil sie nicht so fleißig sind. Wenn eine Regierung ständig hochkomplexe wirtschaftliche Sachverhalte diskutieren lässt im Rahmen von plumpen Vorurteilen, dann haben Sie das, was wir heute haben. Noch einmal, wann wird in Deutschland eigentlich ausreichend darüber diskutiert, dass die Bundesrepublik der größte Profiteur des Euros war? Die Bundesrepublik Deutschland hat jetzt noch in diesen Minuten einen Kapitalzufluss, der dazu führt, dass wir null Prozent Zinsen zahlen. Nebenbei bemerkt, für deutsche Sparer ist das keine gute Botschaft, weil deutsche Spareinlagen eben auch nicht verzinst werden. Darüber könnte man auch mal diskutieren. Das trifft sicher nicht die Großanleger, sondern eher die kleinen Leute.

    Simon: Sie hören das Interview der Woche im Deutschlandfunk mit Martin Schulz, dem Präsidenten des Europäischen Parlaments. Herr Schulz, Deutschland ist ja derzeit in Europa der Stabilitätsanker. Das kann man wirtschaftlich, aber auch politisch sagen. Wie groß ist denn aus Ihrer Sicht die Gefahr, dass dieser Stabilitätsanker überfordert wird? Sie sprachen gerade von den ganzen Nachbarn, die sagen, Deutschland muss mehr machen. Wie groß ist diese Gefahr, dass man Deutschland zu viele Lasten aufbürdet und es dann eben nicht mehr diese Funktion in Europa haben kann?

    Schulz: Ich glaube nicht, dass Deutschland der Stabilitätsanker politisch ist. Wirtschaftlich ja, noch. Aber wenn wir nicht dafür sorgen, dass die Eurozone und die EU insgesamt stabilisiert werden, wird die Krise ganz schnell in Deutschland ankommen. Ich werde das noch mal sagen, wir haben 35 Prozent unseres Bruttosozialproduktes aus dem Export. 60 Prozent davon gehen in die EU. Wir sind in einem Land, das ganz stark vom europäischen Exportmarkt abhängt. Und politisch hat die Bundesregierung jetzt zum dritten Mal überlebt ohne eine eigene Mehrheit, weil die Opposition in diesem Land eine europäische Verantwortung hat. Da bin ich auch stolz drauf auf meine Partei und auf meinen Beitrag, den ich dazu leisten kann, dass die SPD im Gegensatz zu Oppositionsparteien anderer Länder die Eurokrise nicht zum innenpolitischen Projekt macht, zum Wahlkampfprojekt, weil wir wissen als Sozialdemokraten in Deutschland sehr genau, dass das deutsche wirtschaftliche Stabilitätsmodell in Deutschland eben von der EU abhängt. Deshalb machen wir diese Schritte. Wir könnten es uns da auch leicht machen. Aber politisch ist die Bundesregierung nicht stabil. Frau Merkel führt eine Regierung, die keine Mehrheit im Volk hat und auch keine Mehrheit im Parlament. In diesem Fall war das sicher gefährlich.

    Simon: Was die Überforderung angeht auf wirtschaftlichem Gebiet, sehen Sie die nicht?

    Schulz: Nein, ich sehe keine Überforderung der Bundesrepublik Deutschland. Ich sehe eine Ausdehnung einer Debatte, der die Regierung nicht früh genug begegnet ist und die teilweise eben auch von unserem Verfassungsgericht zusätzlich befeuert wird. Man muss ja sehen, dass wir ein Verfassungsgericht haben, das von sich aus behauptet, die Grenzen des Grundgesetzrahmens seien erschöpft. Ich bin so ein bisschen erstaunt, das wird als gottgegeben hingenommen. Ich teile diese Auffassung überhaupt nicht. Der Artikel 23 und auch die Präambel des Grundgesetzes verpflichten Deutschland geradezu zur Vertiefung der europäischen Integration. Wie man dann hingehen kann und die jetzigen Beschlüsse als sozusagen Verfassungsersatz bezeichnen kann, das erschließt sich mir nicht. Ich finde im Übrigen auch interessant, dass ein Gericht dem Gesetzgeber sagt, was er tun darf und was nicht, und zwar schon vorher. Das ist nachher akzeptabel, wenn der Bundesrat einen Beschluss gefasst hat und das Verfassungsgericht sagt, das überprüfen wir auf seine Verfassungskonformität. Okay. Aber dass ein Gericht vorab sagt, das dürft ihr und das dürft ihr nicht – das muss man so zur Kenntnis nehmen. Ich finde es zumindest diskutierenswert. Die Bundesrepublik, das muss man noch einmal sagen, hat am Euro enorm verdient, verdient jeden Tag am Euro. Wir haben eine Regierung, die das nicht sagt.

    Simon: Die Bundeskanzlerin hat ja zuletzt eine Sache ganz klar gesagt, dass sie nämlich eine politische Union will, ein stärkeres Zusammenwachsen. Wie realistisch ist denn das nach all dem, was Sie geschildert haben, die Menschen, die nicht mehr Europa unbedingt wollen, sondern die an ihrem Nationalstaat hängen. Wie realistisch ist eine Forderung nach einer politischen Union, wenn die meisten Deutschen am allerliebsten eine verkleinerte, ganz stabile Eurozone bestenfalls hätten?

    Schulz: Die Frage muss man ja umgekehrt stellen. Ich glaube nicht, dass die Leute gegen eine politische Union sind, weil die überwältigende Mehrheit der Menschen in unserem Land, wenn sie jetzt mit uns hier zusammensäße, unter dem Begriff politische Union sich wahrscheinlich jeder etwas anderes vorstellen würde. Deshalb, was ist eigentlich die politische Union in Europa? Ich sage Ihnen in zwei Sätzen versuchsweise, womit ich in einer Auseinandersetzung um diese Union ziehen würde. Ich würde den Deutschen sagen, der Nationalstaat wird gebraucht. Es ist eine identitätsstiftende Größe. Und unsere Sprache und unsere Kultur, das, wo wir zuhause sind, ist ein wichtiges und sicherheitsgebendes Rahmenwerk. Aber die großen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts, der Umweltschutz, Klimakatastrophe, die weltweite Spekulation, die Wanderungsbewegungen auf dieser Erde und der weltweite Handel, an dem übrigens Deutschland einen bedeutenden Anteil hat, das ist nicht mehr im Rahmen eines Nationalstaats machbar. Da stößt der Nationalstaat an seine Grenze, auch die Bundesrepublik. Entweder wir schließen uns in den Bereichen Handel, Währung, Umwelt, Wanderungsbewegung, also Sicherheit, zu einem politischen Block souveräner Staaten zusammen, die sich Gemeinschaftsinstitutionen geben, die ihre Interessen in diesem Rahmen wahrnehmen und dafür eine europäische Regierung kriegen für diese Kompetenzen und können auch Kompetenzen auf den Nationalstaat zurückübertragen. Also die Verkehrspolitik in Köln macht besser der Rat der Stadt Köln als die EU-Kommission. Wenn wir diese Abgrenzung vornehmen und die EU konzentriert sich aufs Wesentliche, dann haben wir die politische Union, die wir anstreben. Denn für nationale Identität können Sie sich im 21. Jahrhundert keinen Arbeitsplatz beschaffen.

    Simon: Da würden wahrscheinlich viele sagen, das ist eine gute Idee. Aber was sie erleben, nicht nur bei jedem Gipfel, sondern täglich, ist das Gegenteil, nämlich dass man sich selbst bei konkreten, auf der Hand liegenden Problemen nicht einigen kann in Europa. Wie soll man dann das andere schaffen?

    Schulz: Das stimmt nicht, da muss ich Ihnen widersprechen. Kehren wir zurück zum Anfang unseres Interviews. Nicht in Europa kann man sich nicht einigen. Im Europaparlament entscheiden wir mit Mehrheit, wie zum Beispiel jetzt bei ACTA – mit Mehrheit klar entschieden. In der Kommission wird entschieden. Nicht in Europa kann man sich nicht einigen, die Regierungschefs der Europäischen Union fahren mit ihrer Uneinigkeit und ihrem permanenten Vorrang für die nationale Politik, diesem Schielen mit einem Auge, was sagt man bei mir zuhause ...

    Simon: Sie haben da recht, aber für die Bürger ist es dasselbe, es ist Europa.

    Schulz: Ja gut, aber da muss man sich dagegen wehren. Genau, und ich bin Ihnen ja dankbar, dass Sie das ansprechen. Mit dieser Art von Politik wird eben die europäische Idee kaputt gemacht. Das ist der Grund, warum ich so hart mit den Regierungschefs ins Gericht gehe. Da muss ich vielleicht sogar Frau Merkel noch in Schutz nehmen. Sie ist noch am ehesten eine, die ja manchmal auf Veranstaltungen sagt, scheitert der Euro, dann scheitert Europa. Das heißt, dann scheitert die europäische Idee. Aber da gibt es ja viel zynischere Politiker. Ich habe eben ja zum Beispiel die niederländische Regierung genannt, wie die da vorgeht. Solange wir es so haben, dass alles, was nicht funktioniert, der EU in die Schuhe geschoben wird, und zwar generell, und das, was funktioniert, von den Regierungschefs, als ihr Erfolg reklamiert wird, kommen wir aus diesem Dilemma nicht raus. Und das genau ist zerstörerisch für die EU-Idee.

    Simon: Das ist seit vielen Jahren zerstörerisch. Wie soll sich das jetzt mitten in der Krise ändern?

    Schulz: Der Handlungsdruck ist so groß, dass es sich ändern muss, denn entweder wir schaffen es, zur Einigkeit zu kommen und zu belastbaren, nachhaltigen Entscheidungen. Ich sage noch mal: Die USA, die treffen nicht immer die richtigen Entscheidungen, aber sie treffen sie. Und Unternehmer, Investoren, die Geld investieren wollen, die interessieren sich am Ende nicht für politische Mehrheiten, die wollen ihren Erfolg haben, die wollen Geld verdienen. Und Geld verdienen die dann, wenn der Rahmen, in dem sie handeln können, belastbar ist. Und das ist der in Europa nicht. Der Druck ist jetzt zwischenzeitlich so groß, dass das, was wir eben gesagt haben von Frau Merkel auch gesagt wird. Wir brauchen diese politische Union. Es ist hoch an der Zeit, dass wir mit der Bevölkerung noch mal diskutieren, was das genau bedeutet. Machen wir es vom Ende her. Sie haben gesagt, die Mehrheit der Bürger wünscht sich eine kleine, stabile Eurozone. Eine Eurozone besteht aus welchen Ländern? Den Niederlanden, der Bundesrepublik Deutschland, Österreich und Finnland. Belgien hat schon 106 Prozent Staatsverschuldung, und Luxemburg muss man noch dazu nehmen. Frankreich gehört nicht mehr dazu, ist kein stabiles Land. Italien gehört nicht mehr dazu. Also, wir hätten dann eine Europäische Union, die besteht aus Deutschland, Österreich, Finnland, eventuell noch Niederlande, eventuell Estland – ach, hören wir doch damit auf. Und mit den anderen führen wir dann wieder Zollgrenzen ein und Passkontrollen, in Frankreich wieder? Der deutsch-französische Motor ist die Basis dafür, wenn er funktioniert und Italien stabil bleibt, dass Europa dauerhaft eine ökonomische Weltmacht bleibt. Wenn das nicht gelingt, wenn das auseinanderbricht, dann wären wir irrelevant. Wir werden zum Spielball der ökonomischen und politischen Interessen von anderen Weltregionen, von China, von Indien, von Lateinamerika, der USA. Deshalb, wir brauchen eine offene Debatte darüber, dass die Europäische Union, so schwerfällig sie ist, so kompliziert sie ist, so schwer durchschaubar sie ist, sie ist allemal ein größeres Pfund als die renationalisierte Volkswirtschaft und die renationalisierte Politik.

    Simon: Eine offene Debatte, die braucht Zeit. Zugleich kriegen wir immer wieder zu hören, es sind jetzt die Wochen, es sind jetzt die entscheidenden Monate der Entscheidung. Wir haben nicht mehr viel Zeit. Wie viel Zeit haben wir denn noch?

    Schulz: Ja, das hören wir jetzt seit zwei Jahren, wir haben nicht mehr viel Zeit. Da hat angefangen im Frühjahr 2010. April 2010 kein Geld für die Griechen. Drei Monate später doch Geld für die Griechen, aber nur zeitlich begrenzt. Drei Monate später: aber jetzt permanent, aber ohne Vertragsänderung. Drei Monate später: aber jetzt mit Vertragsänderung. Dann kam die Vertragsänderung: Das reicht nicht. Jetzt Fiskalpakt. Dann war Fiskalpakt, jetzt aber Masterplan. Also, wir haben tatsächlich nicht mehr viel Zeit, weil viel Zeit verschleudert worden ist. Ich bin ziemlich sicher, dass wir im Oktober und im Dezember zu weitreichenden Entscheidungen über die Neustrukturierung der Eurozone und der EU insgesamt kommen. Und ich glaube, dass es im Rahmen der EU 27 läuft, denn selbst Großbritannien und sein Premierminister haben zwischenzeitlich erkannt, dass eine stabile Eurozone eine Grundvoraussetzung für eine stabile Wirtschaft in ganz Europa ist.

    Simon: Und das hieße, dass das Parlament dann auch dabei bleibt, wenn es auf der Basis der 27 und nicht auf der Basis der 17 geschieht?

    Schulz: Ja, das ist ja sowieso – schön, dass Sie das ansprechen – ich meine, das ist ja sowieso ein bisschen neben der Spur. Diese Nummer 17 und 27. Der Euro ist das Geld der Europäischen Union. Der Unionsvertrag fängt an, Artikel 3, Absatz 4, "Die Wirtschafts- und Währungsunion wird gebildet und hat eine gemeinsame Währung, den Euro". Das ist Vertragsbestandteil des Vertrages der Union, nicht intergouvernementales Rechts zwischen Regierungen. Der Euro ist das Geld der EU. Und mit Ausnahme von Dänemark und Großbritannien sind alle 25 anderen Staaten verpflichtet, den Euro einzuführen. Also, kurz gesagt, das Euro-Parlament ist das Europa-Parlament. Und alle anderen Versuche würden übrigens auch im EuGH scheitern.

    Simon: Das war das Interview der Woche mit Martin Schulz, dem Präsidenten des Europaparlaments. Vielen Dank.

    Schulz: Ich danke Ihnen.

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