Archiv


Nicolas Berg: Der Holocaust und die westdeutschen Historiker. Erforschung und Erinnerung

Biographien, Monographien und Abhandlungen über und von den Opfern und Überlebenden von Holocaust und Nationalsozialismus füllen heute ganze Bibliotheken. Da mag es nützlich sein, wenn ein junger Historiker daran erinnert, dass dem nicht immer so war, dass auch in der Geschichtswissenschaft und in der Publizistik die fünfziger Jahre vor allem eins waren: eine Zeit der Verdrängung und der Restauration. Doch Nicolas Berg weitet den Vorwurf aus. In seinem umfänglichen Werk "Der Holocaust und die westdeutschen Historiker" setzt er auch Martin Broszat und das Münchener Institut für Zeitgeschichte, die gesamte Schule der funktionalistischen Holocaustdeuter sowie die sogenannten antifaschistischen Faschismusforscher der späten sechziger Jahre auf die Anklagebank.

Tillmann Bendikowski |
    Der Leipziger Historiker Nicolas Berg, geboren 1967, hat eine wütende Anklageschrift vorgelegt: nicht um Aufklärung sei es der ersten Generation seines Faches nach 1945 gegangen, so sein Vorwurf, sondern schlicht um Entlastung. Dies lasse sich etwa bei den großen drei Historikern jener Zeit beobachten: bei Friedrich Meinecke, bei Gerhard Ritter und Hans Rothfels:

    Auschwitz ist bei keinem der gewählten Wortführer der Nachkriegshistoriographie Thema, so dass die Frage an alle drei nicht lauten kann, wie sie mit der 'Judenvernichtung’ als Zeitgenossen und in ihrem Beruf umgingen – denn sie vermieden es, hierüber zusammenhängend zu sprechen oder zu arbeiten.

    Die Strategien dieser Vermeidung waren unterschiedlich. Friedrich Meinecke, wohl der bekannteste deutsche Historiker des 20. Jahrhunderts, flüchtete sich in die Kultur als Fixpunkt des historischen Bemühens. Eine solche "echte Kultur" gelte es freizulegen in der deutschen Geschichte, trotz oder gerade wegen der jüngsten Tragödie. Dies hatte zuweilen bizarre Folgen. Das zeigt Nicolas Berg mit Blick auf Meineckes berühmtes, 1946 vorgelegtes Buch mit dem Titel "Die deutsche Katastrophe":

    Vor dem Hintergrund solch einer 'Kultur-Religion’ erscheint es nachgerade als folgerichtig, dass die einzige Erwähnung von Konzentrationslagern in Meineckes "Die deutsche Katastrophe" folgendermaßen erfolgt: Unter der Überschrift "Hitlerismus und Christentum" erscheint zwar das Wort "Gaskammer", aber im semantischen Kontext des eigenen Verlustes: In den Gaskammern der Konzentrationslager, so Meinecke, "erstarb schließlich auch der letzte Hauch christlich-abendländischer Gesittung und Menschlichkeit". Der Gedanke, der sich hierin implizit ausspricht, ist irritierend, aber konsequent: Es dominiert die auf das eigene nationale Kollektiv gerichtete Vorstellung, nicht die Juden, sondern die Kultur der Deutschen sei Opfer dieses Geschehens geworden.

    Friedrich Meinecke hat damit die historischen Realitäten verwischt, so urteilt der Autor, verwischt zu einem tragisch-dramatischen Geschehen eines fehlgegangenen Helden. Erzählt worden sei so die Geschichte des armen deutschen Volkes, das in die Fänge eines – so wörtlich – "Verbrecherclubs" geraten sei. Nicolas Berg hat noch andere Versuche einer Geschichtsschreibung herausgearbeitet, die das deutsche Volk entlasten sollten. Dazu zählte etwa jene kollektive Entschuldungsstrategie, wonach das NS-Regime als Abweichung von der "eigentlichen" deutschen Geschichte zu begreifen sei und damit – so der Sprachgebrauch – als "undeutsch" disqualifiziert werden müsse, wie es der Historiker Heinrich Heffter 1952 tat:

    So viel auch sonst an deutschem, allzu deutschem Geisteserbe in den Nationalsozialismus eingeströmt ist, so muss doch, gerade wenn man eine rein nationale Linie wahren und alle ausländischen Einflüsse verfemen möchte, eben das strenge Führerprinzip undeutsch und ungermanisch genannt werden.

    Mit welchen Strategien auch immer, das Ergebnis dieser Auseinandersetzung mit der NS-Zeit ist entscheidend: Eine Thematisierung des Massenmords an den europäischen Juden fand in der Frühzeit der Bundesrepublik nicht statt. Wenn man so will, bewiesen sich die Historiker eben auch als gute Deutsche jener Zeit – der Autor spricht eingangs von einer "überforderten Erinnerung". Golo Mann verglich dieses Nichtwissen-Wollen mit Blick auf die Verbrechen der Einsatzkommandos hinter der Ostfront mit dem Verhalten des Heeres, das davon später nicht gewusst haben wollte:

    Wie das Heer von diesen Dingen wegsah, sie nicht wissen wollte, so redet auch der Historiker ungern von ihnen. Es sind Taten und Zahlen, die die Phantasie sich nicht vorstellen kann, der Geist sich zu glauben weigert, wie klar auch dem Verstand bewiesen werden kann, dass sie wahr sind. Sie sind wahr.

    Doch die Taten und Zahlen, wie sie Golo Mann hier einfordert, sie wurden doch zunehmend Gegenstand der Forschung. Spätestens mit den 60er Jahren wich diese Ignoranz gegenüber dem Holocaust. Eine jüngere Generation von Historikern bemühte sich nun, vor allem über verstärkte Quellenforschung, dem System der NS-Verbrechen verstehend beizukommen. Doch dass die daraus resultierenden Quellensammlungen tatsächlich einen Fortschritt brachten, glaubt der Autor nicht. Sie belegten seiner Meinung nach doch nur das, was ihre Herausgeber ohnehin sagen oder wissen wollten:

    Diese von den Quellen ausgehende Antizipation dessen, was man zu sagen wünschte, kann für die 50er Jahre in Bezug auf 'saubere’ Wehrmacht, Ostkrieg und für die Judenvernichtung in vielen Beispielen belegt werden. Man kann die Argumentation aber auch umdrehen und zeigen, wie die Dokumente, welche die 'Endlösung’, die massenhafte Beteiligung an ihr, ihren Vorstufen und ihren Folgen, dokumentieren, abgewertet und relativiert wurden.

    Nicolas Berg geht noch einen Schritt weiter. Die vermeintliche "Objektivität" der deutschen Historiker, so sein Vorwurf, diente vor allem als willkommenes Instrument zur Ausgrenzung jüdischer Wissenschaftler. Ihnen sollte so die Fähigkeit abgesprochen werden, den Holocaust adäquat zu verstehen – eine Unterstellung, für die der Autor einen wirklichen Beleg allerdings schuldig bleibt.

    Ein Verdienst der vorliegenden Studie ist es allerdings ohne Frage, dass Nicolas Berg an die damals wie heute wenig wahrgenommenen Werke jüdischer Autoren erinnert, allen voran an die von Josef Wulf, der gemeinsam mit Léon Poliakov mehrbändige Dokumentationen über den Holocaust vorgelegt hat. Josef Wulf selbst hatte damals die Spannung zwischen vermeintlicher Objektivität und notwendiger Erinnerung thematisiert:

    Wir können nicht neutrale und unbeteiligte Forscher der Wahrheit sein, wenn wir über Geschehnisse schreiben, die Leben und Tod von Menschen und Völkern bestimmen. Es ist meine Pflicht, Partei für die Opfer zu ergreifen, im Namen der Menschlichkeit und für eine menschlichere Zukunft. Wir müssen Wege und Methoden finden – und ich meine exakte wissenschaftliche Wege und Methoden –, die uns helfen sollen zu verstehen, was die Menschen in den Konzentrations- und Vernichtungslagern erlitten haben. Wir können nicht gleichgültig bleiben, wenn wir fragen nach den Ursachen und Gründen, warum sie ermordet wurden.

    Hier wird der eigentliche Kern der vorliegenden Studie sichtbar: Der Autor glaubt – so der Untertitel – einer eigentümlichen Spannung zwischen Erforschung und Erinnerung auf die Spur gekommen zu sein, die der gesamten Holocaustforschung zugrunde lag. Und im Sinne einer umkämpften Vergangenheit wirft er den deutschen Historikern vor, die Erinnerung – allen voran die der Opfer – gezielt ausgeblendet zu haben. Diesen Vorwurf richtet er vor allem an die Mitarbeiter des Münchener Instituts für Zeitgeschichte, der Kaderschmiede der deutschen Zeitgeschichtsforschung seit den 50er Jahren. Hier habe die Ausblendung von Erinnerung und damit in Konsequenz die Ausgrenzung jüdischer Sichtweisen auf den Holocaust einen festen Ort gehabt:

    Weder wurden die disparaten Teile des eigenen Gedächtnisses zu forschungsleitenden Fragen noch wurden Erinnerungen von akademischen Außenseitern, von Ausländern oder von Juden eingezogen, die im Holocaust eine zentrale Fragestellung für die NS-Forschung sahen.

    Hier offenbart sich der eigentliche Schwachpunkt des Buches. Der Autor wollte eine so genannte "Gedächtnisgeschichte" schreiben und sich damit dem derzeitigen kulturwissenschaftlichen Trend verpflichten, der mit Vorliebe nach Erinnerung und Gedächtnis fragt. Das ist ihm leider gründlich misslungen. Nicolas Berg reduziert die gesamte Erforschung des Holocaust durch westdeutsche Historiker nach einer ersten Phase der Ignoranz schließlich auf ein Zuviel der Erforschung, die sich einer vermeintlichen Objektivität verschrieb, und auf ein Zuwenig der Rücksichtnahme auf Erinnerung – auf die eigene, vor allem aber auf die jüdische Erinnerung. In der Konsequenz fordert er eine Neubestimmung des Verhältnisses von Erinnerung und Forschung. Damit rüttelt er – und das anscheinend mit Genuss – an den Grundfesten jeder Geschichtsforschung. Aber er unterlässt es zugleich, nach Alternativen zu fragen, unternimmt nicht den leisesten Versuch, Ideen auch nur grob zu skizzieren, wie dieses Verhältnis zwischen Forschung und Erinnerung aussehen könnte. Diese Infragestellung könnte Programm sein, Provokation – ist sie aber nicht. Vielmehr zeigt sich hier – pardon – wieder einmal, wie ein kulturwissenschaftlich ambitionierter Historiker an den Klippen einer Gedächtnisgeschichte scheitert. Die eigentliche Leistung des Buches, nämlich die schwierige Annäherung der westdeutschen Historiker an den Holocaust über weite Strecken sorgfältig beschrieben zu haben, verblasst angesichts dieses gescheiterten Versuchs. Das ist schade.

    Tillmann Bendikowski über Nicolas Berg: "Der Holocaust und die westdeutschen Historiker. Erforschung und Erinnerung”. Die Studie ist erschienen im Göttinger Wallstein Verlag, umfasst 768 Seiten und kostet 46 Euro.