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Nicolas Offenstadt
"Das verschwundene Land"

Der französische Historiker Nicolas Offenstadt ist über Jahre immer wieder nach Ostdeutschland gereist. Er war überrascht, wie viel noch von der DDR übrig ist und wie die Menschen damit umgehen. Über seine Entdeckungen und Begegnungen hat er ein Buch geschrieben – für das französische Publikum.

Von Michael Kuhlmann | 14.01.2019
    Eine Flagge der ehemaligen DDR hängt in einem Raum mit Fenster.
    Der französische Historiker Nicolas Offenstadt reist immer wieder nach Ostdeutschland und sucht DDR-Relikte. (imago/IPON)
    Es dürfte nicht einmal viele Deutsche geben, die zwischen Ostsee und Erzgebirge so weit herumgekommen sind wie Nicolas Offenstadt. Über zwölf Jahre hinweg hat er Ostdeutschland immer wieder bereist; er hat sich mit Menschen dort unterhalten, hat Gegenstände ihres Alltags zusammengetragen; er hat private Sammlungen und Museen besucht und war an Orten, die von der DDR geblieben sind.
    "Das waren zum Beispiel frühere Kulturhäuser oder Fabriken, Wohnungen oder besonders Plattenbauten sein", erzählt der Historiker. "Warum gibt es so viele DDR-Gebäude, die noch stehen, aber leer sind, total verlassen und verfallen? Wie funktionieren die öffentlichen Räume heute in Deutschland, Ostdeutschland, was ist noch da, was ich nicht mehr da, und warum?"
    Relikte des DDR-Alltags
    Eine Fülle von Beispielen bringt Nicolas Offenstadt in seinen neuen Buch: Im alten Bahnhof in Schwarze Pumpe findet er ein vergessenes Manometer, wie es sie einst in der ganzen DDR gab – produziert in Bulgarien. Für den Autor ein Aufhänger, um vom Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe zu erzählen.
    In einem Trödelladen in Jena tut er die alte Fahne eines Kleingärtnervereins auf, ein Relikt der vielzitierten sozialistischen Nischengesellschaft, in der man neben allem Kollektivismus seine Privatsphäre zu wahren suchte. "Für mich sind die Gegenstände der DDR nicht nur Symbole oder Relikte, sondern auch Gelegenheiten, um mit den Besitzern ins Gespräch zu kommen", so Nicolas Offenstadt. "Deswegen habe ich viel mit Ossis gesprochen, mit Leuten aus Ostdeutschland, um diese Verbindung zwischen der Vergangenheit der DDR und der Gegenwart dieser Leute zu verstehen."
    Das Buch ist eine Art Expeditionsbericht für französische Leser. Von sechs realen historischen Personen erzählt Nicolas Offenstadt in seinem Buch: etwa von der Lohnbuchhalterin Heidrun aus der Oberlausitz, die sich im Demokratischen Frauenbund DFD engagierte und doch ein Viertel weniger verdiente als männliche Kollegen. Oder vom Elektriker Olaf aus Rostock, dessen Ehe zerbrach: auch weil seine Frau die Doppelbelastung durch Beruf und Familie nicht ertragen konnte – von sozialistischen Familienidealen keine Spur.
    Herausgefiltert hat Nicolas Offenstadt diese Schicksale bewusst nicht aus offiziellen Archiven, sondern aus seinen privaten Dokumentenfunden, zum Beispiel in übriggebliebenen Akten von Betrieben, die schon lange nicht mehr existieren.
    Der Kahlschlag der 90er-Jahre rächt sich heute
    Dann geht er zum zweiten Schwerpunkt über: An vielen Beispielen zeigt der Historiker, wie das Erbe der DDR nach 1990 bewusst verdrängt wurde. Bekanntestes Beispiel: Der Ost-Berliner Palast der Republik musste dem Schlossneubau weichen.
    Nicolas Offenstadt erzählt aber auch von ostdeutschen Widerständen gegen solche Umgestaltungen – und von heutigen Versuchen, die DDR gegen ihre Kritiker zu verteidigen. Fündig wird er ausgerechnet im Ruhrgebiet: im "DDR-Kabinett" in Bochum, wo er alljährliche Feiern des Republikgeburtstags am 7. Oktober miterlebt, mit jungen Linken und alten DDR-Veteranen.
    Besonders hier gerät der Autor in jene deutsch-deutschen Verwerfungen, die nach 1990 über viele Jahre hinweg bestanden und die berühmte Mauer in den Köpfen noch dicker und höher werden ließen: "Es gab wirklich insgesamt nach 1990 einen Prozess der Delegitimierung der DDR. Und das war auch eine Delegitimierung der Biografien der ehemaligen DDR-Bürger", sagt Offenstadt.
    "Das war eine totale Veränderung der Werte, das war auch eine totale Veränderung des öffentlichen Lebens, und diese Veränderungen für eine ganze Bevölkerung kombiniert mit der Abwanderung und den wirtschaftlichen Problemen – das ist auch ernst zu nehmen, um zu verstehen, was gerade in Ostdeutschland passiert."
    Stichwort Pegida und Rechtsradikalismus. "Le pays disparu", zu Deutsch etwa "Das verschwundene Land" – dieser Band enthält für ostdeutsche Leser zwar kaum Neues, von einer Fülle Detailbeobachtungen einmal abgesehen. Wer aber von Ostdeutschland immer noch nicht viel mehr kennt als ein paar touristische Magnete, dem kann das Buch die Augen dafür öffnen, wie viele kleine Überreste von der DDR geblieben sind – und wieviel unsensibel plattgewalzt wurde.
    Literatur und Filme
    Offenstadt rundet das ab durch eine knappe tour d‘horizon durch neuere deutsche Filme und Romane über die DDR – die von seiner enormen Belesenheit und einigem Cineastentum zeugt. Dabei streift er leider nur einen DEFA-Film, der auch für deutsche Leser Potenzial hat und mit dessen nähere Untersuchung Nicolas Offenstadt sein Buch noch hätte bereichern können: Peter Kahanes Spielfilm "Die Architekten", gedreht Ende der 80er Jahre.
    Wohl kaum anderswo sind die Befindlichkeiten der damals 30- bis 40-Jährigen in der DDR so genau eingefangen worden: ihr Gestaltungsdrang, ihr Verzweifeln an den Fesseln des SED-Staates, ihre totale Resignation, aber auch ihre Würde. Diese Menschen nach 1989 aktiver in die ostdeutsche Politik einzubinden, ist offensichtlich versäumt worden – aus Ignoranz und wohl auch aus Arroganz. "Le pays disparu" erzählt von Folgen auch dieser gern übersehenen Entwürdigung.
    Nicolas Offenstadt: "Le pays disparu. Sur les traces de la RDA",
    Éditions Stock, 422 Seiten, 22,50 Euro.