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Nie mehr schlafen

Nie mehr zu schlafen - das war das Hauptmotiv in Robert Schneiders Erfolgsroman Schlafes Bruder. In Willem Frederik Hermans Roman Nie mehr schlafen ist es das nicht, hier bedeutet nie mehr zu schlafen schlichtweg: Bereits tot zu sein. So findet der junge Alfred seinen Mitstreiter Arne plötzlich während ihrer gemeinsamen Expedition durch Lappland vor - Arne ist von einem Felsen gestürzt. Es ist Mittsommernacht, die Sonne geht nicht unter, Alfred ist übermüdet und kommt doch nicht zur Ruhe. Die fremde Umgebung verlangt von ihm äußerste Aufmerksamkeit.

Volkmar Mühleis | 20.01.2003
    Nie mehr schlafen ist der nachhaltigste Roman von Willem Frederik Hermans: Die existenzielle Absurdität, die der Einzelne an sich erfährt, schildert er hier nicht in den Wirren des Zweiten Weltkriegs - wie bei Die Dunkelkammer des Damokles - und auch nicht im existenzialistischen Gewand der fünfziger Jahre. 1966 beschrieb er diese Absurdität mit einer abenteuerlichen Geschichte voller poetischer Momente. Der junge Geologiestudent Alfred reist von Amsterdam nach Oslo, um in Norwegen die Hypothese seines Doktorvaters zu beweisen: Dass ein Gebiet des Landes durch Meteroiteneinschläge entstanden sei. Seine norwegischen Kollegen halten das für baren Unsinn - und so zieht der ehrgeizige Alfred aus, ihnen ihr Land zu erklären. Ein zum Scheitern verurteiltes Unterfangen, und der Beginn einer grandiosen Satire über die - so Hermans - allzumenschliche Objektivität in der Wissenschaft. Er war selbst an der Universität in Groningen Physiker und sagte 1995 über eine Passage seines Romans:

    Abends im Zelt spricht Alfred mit Arne darüber, dass seine Mutter Literaturkritikerin ist, aber nichts wirklich liest und sich auf das Urteil ausländischer Zeitschriften verlässt. Arne gibt ihm dann einige Beispiele, dass es in der ‚harten' Wissenschaft nicht seltener um mehr Schein als Sein geht: Der ‚große Sauerbruch' etwa operierte noch als alter Mann, obwohl er längst ein Schatten seiner selbst war. Doch niemand hätte sagen dürfen: Der Kaiser hat keine Kleider an.

    Das Buch ist eine Parabel in blanker Gegenwart: Die nicht untergehende Sonne begleitet die jungen Geologen auf ihrem Zug durch die karge Landschaft. Es ist als ein persönlicher Bericht von Alfred gehalten, der Leser erhält so wie ein Forscher Einblick in das Innenleben seines Versuchsobjekts. Für die Studenten ist ihre Lage ein Ausnahmezustand, dem Leser präsentiert sie sich jedoch als Sinnbild der menschlichen Situation: Worauf ist Verlass? Was kann man wissen? Was hilft es einem? Max Frisch hat eine vergleichbare Erzählung geschrieben, Der Mensch erscheint im Holozän: Jemand ist von der Zivilisation abgeschnitten und versucht sich zu vergewissern. Alfreds Vertrauen in Vernunft und Wissenschaft ist nicht zuletzt eines in seinen Vater, der ebenfalls Geologe war. Hermans in einem Gespräch von 1978:

    Als literarische Theorie finde ich die Psychoanalyse ungemein interessant. Nie mehr schlafen basiert zum großen Teil auf ihr, denn es wird nahegelegt: Die zahlreichen Fehler, die Alfred macht, rühren daher, dass er sein Bestes gibt, um der Erinnerung an seinen verstorbenen Vater willen. Er nennt sich selbst auch einen Aeneas, der mit dem Vater auf dem Rücken aus der brennenden Stadt flieht - so läuft er durch das kalte Lappland.

    Hermans Erzählweise ist: Über äußerste Exaktheit und Rationalität in der Sprache dem Leser genau diesen Boden von Sicherheit zu entziehen, so dass Ungereimtheiten und Widersprüche umso stärker hervortreten. Er betreibt damit literarisch eine umgekehrte Wissenschaft: Über das Exakte gerade nicht zum Gesicherten, Beweisbaren zu gelangen, sondern das Unsichere, Unlösbare umso schärfer aufzuzeigen. Im Ergebnis steht er so nicht weit von Erzählern, die ebenfalls auf das Unbegreifliche abzielen. Doch im Gegensatz zu Thomas Mann etwa, der darin immer einen Rest Geheimnis sieht, erblickt Hermans nur Leere: Seine Darstellung läuft auf kein Fasziniertsein hinaus, sondern eine untrügliche Haltlosigkeit. Kein Teufel oder Zauberer hat noch die Fäden in der Hand: Alfred steht plötzlich allein in der Wildnis - durchnässt, ohne Kompass, nur mit schwarzem Humor noch bei Sinnen. Wilbert Smulders, Literaturwissenschaftler in Utrecht und Mitherausgeber der Gesammelten Werke Hermans' - deren Veröffentlichung derzeit in Holland vorbereitet wird - hat den Autor in seinen späteren Wohnsitzen Paris und Brüssel mehrmals besucht. Dessen Witz und Pointiertheit ist für ihn geradezu ein Markenzeichen Hermans':

    In den beiden Romanen Die Dunkelkammer des Damokles undNie mehr schlafen kommt ein zwar verstelltes, aber dennoch erkennbares Portrait von Hermans selbst durch: Nämlich, dass jemand einen unglaublichen Drang danach hat, anerkannt zu werden und etwas Besonderes zu sein, jedoch gleichzeitig denkt: Da wird eh nichts draus - und darüber außer sich gerät vor Wut. Hermans hat derart zielsicher seinen Spott damit getrieben, dass ihm dieses Gefühl offenkundig vertraut gewesen ist. Sein Humor ist dann einfach umwerfend.

    Die Geschichte in Norwegen spielen zu lassen, gab dem Autor auch Gelegenheit, Ludwig Wittgenstein in einige Betrachtungen seiner Hauptfiguren einzuführen - Wittgenstein hat sich selbst eine Zeit lang in Norwegen aufgehalten. Der Philosoph ist sozusagen der geistige Pate Hermans', sein letztes Buch hat er sogar Wittgenstein allein gewidmet und enthält die wohl unterhaltsamsten Essays über den strengen Logiker. Smulders:

    Hermans hat Wittgenstein in den Niederlanden bekannt gemacht (Schnitt). Er hatte jedoch eine sehr spezielle Sichtweise von dessen Philosophie (Schnitt), nämlich, dass über Sprache kaum etwas tatsächlich ausgedrückt werden kann, es also im Grunde besser ist, den Mund zu halten. Bei Wittgenstein kommt allerdings hinzu: Auch wenn man nichts sagen kann, man kann dennoch etwas tun! Ethik ist zwar nicht auf den Begriff zu bringen, dennoch lässt sich ethisch handeln. Und darum ist Wittgenstein ja auch Dorfschullehrer geworden, nachdem er glaubte, alles gesagt zu haben. Taten statt Worte - daran glaubte Hermans nun garnicht: Dass man noch ‚das Gute' tun sollte!

    Mit
    Nie mehr schlafen liegt dem deutschen Publikum nun das zweite Hauptwerk von Willem Frederik Hermans vor, nach Die Dunkelkammer des Damokles. Eine Diskussion um auch die Schwächen seiner Literatur wird sich hierzulande wohl erst entfachen, wenn - wie geplant - auch seine weiteren Romane erscheinen, als nächstes sein Debut Die Tränen der Akazien sowie sein letzter Roman Au pair, die beide zusammen fünfzig Jahre Autorschaft in Klammern fassen. Hermans ist surrealistisch begonnen, hat parallel dazu einen nüchternen Realismus entwickelt, um beide Stile zwar nicht zu vermengen, doch im Gehalt einander anzugleichen: So ist die Szenerie Lapplands in Nie mehr schlafen für den hiesigen Leser unwirklich, bizarr, doch durch den Autor nahezu dokumentarisch, tatsachengetreu beschrieben. Dieses gezielte Verbinden von Gegensätzen hat Hermans über Die Dunkelkammer des Damokles von 1958 bis hin zu Nie mehr schlafen Mitte der sechziger Jahre perfektioniert: Eine spannende Geschichte philosophisch aufzuladen, psychologisch zu durchdringen und in literarischer Millimeterarbeit ans Laufen zu bringen. Nicht umsonst war sein liebster Ort das technische Museum in Paris - le Conservatoire des Arts et Métiers - um sich in die Feinmechanik der großen Maschinen zu vertiefen. ‚Eigentlich sollte jeder junge Autor ein solches Räderwerk studieren', meinte er dort einmal zu Fernsehjournalisten. Nie mehr schlafen ist selbst ein Räderwerk, in das er den jungen Alfred schickt. Der kommt zwar nicht mehr zum Studium, aber dafür zu sich - und das gilt es zu beweisen!