Ein Schnellimbiss-Restaurant an der Autobahn, irgendwo in Holland. Das kleine Mädchen, das mit seiner Mutter am Tresen steht, möchte noch ein Eis.
Die Mutter, eine gepflegte Frau um die 40 in Trenchcoat und Kleid, wirft einen Blick auf die Uhr. Zeit genug - die Fahrt zur Justizvollzugsanstalt dauert nur knapp zehn Minuten. An diesem Sonntag dürfen die Häftlinge ihre Kinder treffen, zwei Stunden lang, zu einem Spiele-Nachmittag.
Ihren wirklichen Namen möchte die Frau nicht nennen. Wir einigen uns auf Linda.
"Es geht mir um meine Tochter, nicht um mich. Ich will sie schützen. Ich will nicht, dass man ihr das Leben schwer macht. Sie darf nicht bestraft werden für etwas, das sie nicht getan hat. Sie soll trotz allem möglichst unbeschwert aufwachsen."
Lindas Mann sitzt seit mehr als 15 Jahren hinter Gittern, wegen Auftragsmord. Er hat lebenslänglich bekommen und keine Aussicht auf Freilassung. Es besteht zwar die Möglichkeit einer Begnadigung durch den König - aber das ist in den 1980er Jahren-zum letzten Mal geschehen:
"Wir haben keine Hoffnung, das ist das Furchtbare. Keinerlei Perspektive. Wer lebenslang hinter Gittern sitzt – und das vergessen die Leute gerne -, hat eine Mutter, Geschwister, einen Partner, manchmal auch Kinder. Auch die werden gestraft! Auch wir haben keine Perspektive!"
"Die kommen erst im Sarg wieder raus"
Linda kann ihren Mann einmal pro Woche eine Stunde lang besuchen, von einer Scheibe getrennt. Einmal im Monat darf sie ihn ohne Aufsicht treffen, in einer Zelle. Aber das geht auf Kosten eines der wöchentlichen Besuche.
Für Schulungen und andere Resozialisierungsmassnahmen kommt ihr Mann nicht in Frage – wozu auch? Er soll ja für den Rest seines Lebens hinter Gittern bleiben. Arbeiten ist das Einzige, was er tun darf. Derzeit pflückt er im Gefängnisgarten Paprika, für 57 Eurocent pro Stunde.
"Ich kenne Häftlinge, die fordern Sterbehilfe, die würden lieber die Todesstrafe bekommen statt lebenslänglich. Wegen der Aussichtlosigkeit. Manche Jungs waren 20 oder 21, als sie die Straftat verübt haben. Die kommen erst im Sarg wieder raus! Die werden einfach weggesperrt wie ein Tier."
Das sei kein humaner Strafvollzug, sagt Linda. Das muss sie noch loswerden, bevor sie sich auf den Weg zum Gefängnis macht.
Ex-Gefängnisdirektor: "Ich schäme mich dafür"
Das findet auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg. Mit ihrem Strafvollzug verstoßen die Niederlande gegen die Europäische Menschenrechtskonvention. Auch lebenslänglich Verurteilten muss eine Perspektive geboten werden, so hat der Gerichtshof 2013 geurteilt. Sonst handele es sich um eine Form der Folter, erklärt Frans Douw. Der 64-jährige Niederländer hat 30 Jahre lang als Gefängnisdirektor gearbeitet:
"Ich schäme mich dafür, dass das Urteil lebenslänglich in den Niederlanden auch wirklich lebenslänglich bedeutet. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass Menschen manchmal schlechte Dinge tun, grausame, furchtbare Dinge – aber das heisst nicht, dass sie schlechte Menschen sind. Das ist ein wichtiger Unterschied."
Douw ist Mitglied von Forum Levenslang, einer Stiftung, die sich für einen humaneren Strafvollzug bei lebenslänglich Bestraften einsetzt. Außerdem hat er eine eigene Webseite und bringt einen Podcast heraus. Um seine Landsleute aufzuklären und auf solche Misstände in der Justiz hinzuweisen.
"Weil viele denken, dass lebenslänglich Verurteilte auch bei uns nach 20 oder 30 Jahren wieder rauskommen."
Dieser Beitrag gehört zur fünfteiligen Reportagereihe "Leere Gefängnisse, mächtige Staatsanwälte – Justiz in den Niederlanden".
Die niederländische Regierung hat dem Druck aus Straßburg zwar bereits 2016 nachgegeben und eine Kommission ins Leben gerufen, die nach 25 Jahren Haft jeden Fall ein zweites Mal beurteilen soll – mit Aussicht auf Freilassung. Aber dazu ist es bisher nicht gekommen: Die beiden Häftlinge, die bereits in den 1980er-Jahren zu lebenslänglich verurteilt wurden und am längsten festsitzen, befinden sich nach wie vor hinter Gittern. Frans Douw wundert das nicht:
"Unsere Regierung hat sich einfach etwas einfallen lassen, um die Kritik aus Straßburg verstummen zu lassen und zu verhindern, dass unsere Richter sich deswegen nicht mehr trauen, lebenslänglich zu verhängen. Ansonsten wird weitergemacht wie bisher. Der damalige Staatssekretär hat sogar vollmundig zugegeben, dass er nicht beabsichtige, diese Menschen jemals wieder freizulassen. "
Kräftezehrend für Angehörige
In der Tat waren niederländische Richter mit dem Urteil "lebenslänglich" extrem zurückhaltend und verhängten lieber die höchste Haftstrafe von 30 Jahren. Aber seit es die neue Kommission gibt, wird das Urteil "lebenslänglich" häufiger verkündet: Allein im letzten Sommer viermal innerhalb von nur einem Monat.
Linda vergleicht die neue Regelung mit dem Anlegen einer Buslinie: Man freue sich über die neue Haltestelle vor der Tür – müsse dann aber feststellen, dass der Bus nie komme. Auch sie und ihr Mann hatten zunächst Hoffnung geschöpft. Doch die sei inzwischen verflogen, meint sie, als sie nach dem Spiele-Nachmittag zusammen mit ihrer Tochter das Gefängnis verlassen hat.
Manchmal wisse sie nicht, woher sie die Kraft nehmen solle, um weiter durchzuhalten. Alle Freunde hätten sich von ihr abgewendet. Und findet sie doch ein offenes Ohr, dann heiße es: "Du hast Dich doch selbst für dieses Leben entschieden!" Sie seufzt ein wenig, als sie nach den Autoschlüsseln sucht.
Das Wiedersehen sei schön gewesen. Aber andererseits: "Manchmal ist es leichter, einander nicht zu sehen. Weil man dann nicht Abschied nehmen muss."