Donnerstag, 25. April 2024

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Niedersachsen
Werben um pensionierte Lehrer für Flüchtlingsunterricht

In Niedersachsen hat Kultusministerin Heiligenstadt mehr als 17.000 pensionierte Lehrer angeschrieben, um sie für die Flüchtlingsarbeit an Schulen zu gewinnen. Die Resonanz ist mager: Bislang haben sich rund 350 Lehrer gemeldet, die stundenweise zurückkehren wollen. Die Ruheständler arbeiten oft lieber ehrenamtlich.

Von Torben Hildebrandt | 12.12.2015
    Helga Hülsemann ist zurück. Zurück aus dem Ruhestand, um Flüchtlingskindern Deutsch beizubringen: "Mir sind die Kinder wichtig, dass die mit Anschluss kriegen. Ich selber kann mich erinnern: Flüchtlingskinder, die standen immer außen vor. Da gab es immer diese Hackordnung. Deswegen: Das hat mich immer beschäftigt, mein Leben lang, deswegen habe ich mich immer um Randkinder gekümmert."
    An der Grundschule Benthe kümmert sich die pensionierte Lehrerin um Naila und Ibrahim, ein Geschwisterpaar aus dem Nordirak. Heute lernen die beiden Vokabeln rund ums Einkaufen. "Ich fange an: Ich kaufe zuerst ein. Ich kaufe Apfel-Saft. Ich kaufe... und wo? Ich kaufe Wasser."
    Naila ist elf, ihr Bruder Ibrahim neun – und Helga Hülsemann nennen sie ihre "deutsche Oma". Seit einem Jahr sind die beiden Kinder in Benthe. Ohne die Deutschkurse der pensionierten Lehrerin würden die Kleinen wahrscheinlich kein Wort verstehen – denn im normalen Unterricht haben die Lehrer keine Zeit für die Sprachförderung, sagt Schulleiterin Ute Braß: "Nein, die haben keine Luft. Die Kinder sind in den Stunden mit dabei... Förderschullehrerin ist nur sechs Stunden da – sie wären den ganzen Morgen in der Klasse, aber sie würden einfach mitlaufen."
    Ruheständler bereichern den Schulalltag
    Weil viele Schulen in Niedersachsen dieses Problem haben, setzt Kultusministerin Heiligenstadt auf die pensionierten Lehrer – sie können stundenweise arbeiten und werden dafür bezahlt. Dass sich nach dem Aufruf bislang nur wenige Ruheständler gemeldet haben, stört Heiligenstadt nicht: "Mir kommt es nicht auf Zahlen an, mir kommt es nicht auf Quantität an – mir kommt es darauf an, dass wir den Bedarf an den Schulen decken können."
    Hilferufe gebe es nicht, sagt Heiligenstadt – auch weil sie zusätzliche feste Stellen geschaffen habe. Die Pensionäre sieht die Ministerin als Ergänzung. Und ganz nebenbei, findet sie, bereichern Ruheständler den Schulalltag: "Es ist gut fürs Schulklima, fürs Kollegium, für die Schüler – und die pensionierten Lehrer sind ja nicht jeden Tag da, sodass insgesamt, denke ich, eine gute Mischung an den Schulen hergestellt werden kann."
    Doch viele Pensionäre wollen sich nicht mehr fremdbestimmen lassen, sie schätzen die Flexibilität im Ruhestand und verzichten deswegen auf einen Vertrag mit festen Stunden. Ein weiteres Problem: Arbeitet jemand zu viele Stunden, wird das Einkommen mit der Pension verrechnet. Auch Helga Hülsemann in Benthe hält wenig von dem Angebot des Landes – sie arbeitet ehrenamtlich: "Dieser Papierkrieg dafür, diese Zeit kann ich gleich besser hier investieren. Nein, das ist für mich nicht maßgebend – das ist weiß Gott zu aufwendig und zu bürokratisch, was wir hier veranstalten, dann mach ich das so weiter."
    "Nicht wollen, sondern machen."
    Helga Hülsemann sitzt an einem Tisch in einem kleinen Kopierraum, an den Wänden hängen keine Bilder, in Regalen stapelt sich Arbeitsmaterial – ein anderer Raum war nicht frei für ihre Deutschkurse mit Naila und Ibrahim: "Was essen wir zum Abendbrot..."
    Pensionäre und Ehrenamtliche, zusätzliche Stellen für Deutschlehrer, Sprachlernklassen und Förderstunden – Niedersachsens Kultusministerin sieht sich mit ihrem Baukastensystem auf einem guten Weg in der Flüchtlingshilfe. Und künftig will Frauke Heiligenstadt auch Sprachlern-Apps nutzen und Deutsch-Kurse per Videokonferenz übertragen – das ist für die Kinder fast wie echter Unterricht, sagt die SPD-Politikerin: "Die können sich durch entsprechende technische Möglichkeiten, melden, sich zu Wort melden. Den Unterricht mitgestalten und ganz lebhaft am Unterricht mitwirken."
    Heiligenstadt muss kreativ werden: Bis zum Jahresende werden rund 20.000 Flüchtlingskinder in Niedersachsens Schulen angekommen sein. Der Benther Lehrerin Helga Hülsemann sind die Bemühungen der Politik oft zu theoretisch: "Handeln! Zufassen! Nicht wollen, sondern machen! Von oben nach unten durch, dann wäre allen geholfen – wir ziehen den Gaul immer von hinten auf!"
    Helga Hülsemann ist längst nicht mehr nur Deutschlehrerin für die Flüchtlingskinder Naila und Ibrahim. Sie fährt sie zum Arzt, kauft mit ihnen Schuhe oder begleitet sie in den Zoo. Und hat die Familie Probleme im deutschen Alltag, kommt die 68-Jährige auch abends oder am Wochenende. Mit Ruhestand hat das nur noch wenig zu tun.