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"Niemand kann seine Heimat vergessen"

Die Palästinenser begehen in diesen Tagen – parallel zu den israelischen Feiern der Staatsgründung - den 60. Jahrestag der Naqba. Sie erinnern der Vertreibung durch Israel aus dem britischen Mandatsgebiet Palästina. Für die Palästinenser ist es ein nationales Trauma, das von den weltweit mehr als 4,5 Millionen Flüchtlingen immer wieder diskutiert wird. Rund 400.000 von ihnen leben im Libanon, darunter die Familie Shabati in Bouj el-Barajneh.

Von Birgit Kaspar |
    Ein Gewirr enger, ausbetonierter Gassen führt tief ins palästinensische Flüchtlingslager Bourj el-Barajneh. Zwei-bis dreistöckige Häuser stehen dicht beieinander, als wollten sie sich gegenseitig abstützen. Alia Shabati steht in einem blaugeblümten, knöchellangen Kleid und mit weißem Kopftuch in der Tür ihres bescheidenen Hauses. Die 72-Jährige blickt ernst in die dunkle Gasse. Sie vermisst das Sonnenlicht, Blumen und den Geruch nach frischer Erde. Alia war zwölf, als sie das Dorf Kabri bei Akko, im heutigen Norden Israels verlassen musste. Dort besaßen die Shabatis Häuser und Land.

    Alia: "Wir hatten Oliven, Trauben, Datteln, alles mögliche. Wir hatten Felder mit Spinat, Okra, wir hatten einfach alles. Und jetzt schau dir an, was wir heute haben: Nichts. Nur hohe Lebenshaltungskosten, die die Leute hier umbringen."

    Von Kabri mit seinen damals rund 6000 Einwohnern ist nichts mehr übrig, die jüdische Haganah-Miliz hat das Dorf 1948 dem Erdboden gleich gemacht.

    Alia serviert süßen arabischen Kaffee. Die rundliche Großmutter sitzt in einem alten Sessel. Das kleine, düstere Wohnzimmer ist mit Plastikblumen, roten Rosen und weißen Lilien, geschmückt. Vor 1948 habe man friedlich mit den Juden aus dem Nachbarort Nahariya zusammengelebt.

    Alia: "Es war wie ein arabisches Dorf, wir gingen dorthin und sie kamen zu uns. Es gab Arbeit dort. Es war überhaupt kein Problem."

    Aber dann, noch vor der Ausrufung des Staates Israel, hätten die Feindseligkeiten begonnen.

    Alia: "Jede Nacht legten die Juden Minen im Dorf. Eine explodierte im benachbarten Badehaus, zwei Menschen wurden getötet. Danach flohen wir, wir hatten Angst. Wir hatten keine Waffen, nicht mal eine Pistole. Wir flohen ins Dorf Tarshiha."

    Zu Fuß sei ihre Familie von einem Dorf ins nächste geflüchtet, bis sie schließlich nach Syrien und ein paar Jahre später in den Libanon kam. Militäroperationen wie die im Dorf Kabri sieht der israelische Historiker Ilan Pappe als Teil einer Kampagne zur Vertreibung der Palästinenser aus jenen Gebieten, die die Zionisten für ihren Staat auserkoren hatten. Sie folgten dem so genannten Plan D, beschlossen im März 1948.

    Sechs Monate später waren 800.000 Palästinenser vertrieben und 531 Dörfer zerstört, so Pappe. Die offizielle israelische Version lautet indessen, die Araber hätten den Krieg 1948 begonnen, ein Krieg der tragischer Weise zur Vertreibung von Teilen der palästinensischen Bevölkerung geführt habe. Rami Khoury, Leiter des Instituts für Öffentliche Politik der Amerikanischen Universität Beirut, weist das zurück:

    Khoury: "Natürlich gab es einen Krieg, Araber griffen Juden an und umgekehrt. Aber die systematischen ethnischen Säuberungen, die die Zionisten mit Terrortaktiken und Bomben betrieben, sind gut dokumentiert, sie können nicht geleugnet werden. Das war kein unglücklicher Unfall, es war eine geplante, systematische Kampagne, für die es viele Beweise gibt."

    Alias 35-jähriger Sohn Idriss zeigt seine kleine Wohnung im ersten Stock. Darüber lebt ein weiterer Bruder mit seiner Familie. Obwohl er in diesem Haus mit seinen zehn Geschwistern aufgewachsen sei, sei dies trotzdem nicht seine Heimat, sagt Idriss.

    Idriss: "Vom ersten Tag an war mir bewusst, dass ich hier ein Fremder bin. Es ist wie wenn man ein Haus mietet, man wohnt dort, aber es ist nicht dein Haus."

    Weltweit werden die palästinensischen Flüchtlinge heute auf 4,5 Millionen geschätzt, rund 3 - 400.000 von ihnen leben im Libanon, überwiegend in Lagern. Anders als in Syrien und Jordanien haben die Palästinenser im Zedernstaat nicht einmal bürgerliche Rechte. Rund 70 Berufe sind verboten, sie dürfen kein Eigentum erwerben. Idriss erzählt, er sei Schweißer, habe aber in einem Fischgeschäft gearbeitet. Als er den Job verlor, wurde er Fahrer. Im Augenblick ist er arbeitslos und sorgt sich vor allem um die berufliche Zukunft seiner Söhne.

    Idriss: "Du hast immer das Gefühl, vor eine Wand zu laufen, es gibt keinen Ausweg."

    Weil die Lage im Libanon so schwierig ist, bestehen viele Flüchtlinge auf einem Rückkehrrecht. Die Erlaubnis zur Rückkehr wird in der UN-Resolution 194 empfohlen, auch das internationale Völkerrecht erkennt ein solches Recht grundsätzlich an. Wie viele andere träumt die 72-jährige Alia von der Heimkehr:

    "Natürlich will ich zurück, ich würde von hier aus zu Fuß gehen, ohne etwas mitzunehmen. Ich würde sofort losgehen, wenn ich in meine Heimat dürfte."

    Israel lehnt das Rückkehrrecht für Palästinenser strikt ab. Es sei unmöglich, denn es beeinträchtige das Überleben Israels als jüdischen Staat, lautet die Begründung. Dahinter steckt die Furcht, die Juden könnten in absehbarer Zeit eine Minderheit im eigenen Staat sein, wenn man eine Einwanderung von möglicherweise hunderttausenden Palästinensern mit einer traditionell sehr viel höheren Geburtenquote zuließe.

    Das Misstrauen zwischen beiden Seiten ist groß. Auch Idriss hält ein friedliches Zusammenleben zwischen Israelis und Palästinensern für schwierig, vor allem solange Israel die Rechte der Palästinenser nicht respektiere.

    "Es geht nicht darum, die Israelis ins Meer zu treiben. Aber wir sind die Bewohner Palästinas, sie kamen und haben es besetzt."

    Alia wischt sich Tränen aus den Augen.

    Alia: "Niemand vergisst seine Heimat"

    Niemand vergesse seine Heimat, sagt die 72-Jährige. Sie weiß, dass sie das geliebte Land nicht wieder sehen wird. Aber ihren Traum aufgeben will sie auch nicht, denn hier in den Libanon gehöre sie nicht hin.