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"Niemand wusste bis zur Premiere, was der andere machen würde"

Eigentlich wollte Merce Cunningham Schauspieler werden, aber nach dem Angebot für Martha Grahams Kompanie überlegte es sich der Mann aus einfachen Verhältnissen anders; und wurde zu einem der bedeutendsten Choreografen unserer Zeit.

Ballettkritikerin Wiebke Hüster im Gespräch mit Rainer Berthold Schossig | 27.07.2009
    Rainer Berthold Schossig: Der wohl bedeutendste Verlust heute aber ist der Tod des Tänzers und Choreografen Merce Cunningham.

    Merce Cunningham: Ich finde Bewegung nicht abstrakt. Was ist daran abstrakt? Es ist etwas, das du tust. So gibt dir die Tatsache, dass Bewegung keinen spezifischen Bezug zu einer Sache hat, die Chance, sie zu vielen Dingen in Beziehung zu setzen.

    Schossig: Die Stimme von Merce Cunningham. Der legendäre amerikanische Choreograf ist heute im Alter von 90 Jahren in New York gestorben. Am Telefon ist Wiebke Hüster, die Ballettkritikerin. Was wir da eben hörten, Frau Hüster, das bezog sich auf Tanz und Leben und Abstraktion und auf die Bedeutung von Bewegung auf der Bühne. War Cunningham eigentlich der Erfinder des abstrakten Tanzes, kann man das so sagen?

    Wiebke Hüster: Ja, das kann man wirklich so sagen. Wenn im neoklassischen Ballett George Balanchine, der neben ihm der bedeutendste Choreograf des vergangenen Jahrhunderts war, das Ganze eben in der Ballettsprache ausdifferenziert hat, so hat Cunningham das Ganze aus dem Modern Dance entwickelt. Im Ergebnis sind die beiden vielleicht gar nicht so unterschiedlich. Das Interessante an Cunningham ist, dass er auch in den Kollaborationen - mit Bühnenbildnern, mit der Musik - eben die größtmögliche Freiheit zugelassen hat. Das heißt: Niemand wusste bis zur Premiere, was der andere machen würde.

    Schossig: Er war ja sehr souverän, was die Sparten, die Sie gerade angesprochen haben, betraf, zum Beispiel war es ja wohl die Vermittlung von John Cage, also von dem Klangkünstler, die Cunningham 1939 dann als Solisten zu der Balletttruppe der US-Choreografin, ja selber auch eine Legende, der Ballettlehrerin Martha Graham brachte. Liegt hier der Schlüssel für sein außergewöhnliches Werk?

    Hüster: Ja, gewiss. Cunningham wollte eigentlich Schauspieler werden als junger Mann, war an einem College und dort begleitete John Cage Tanzklassen, die Cunningham zusätzlich nahm, und Martha Graham kam eben im Sommer und schaute dort zu und lud den jungen Cunningham, einen der schönsten, lyrischen Tänzer seiner Zeit, ein, Mitglied der Martha Graham Dance Company in New York zu werden. Unglaublich eigentlich, denn er kam aus Centralia in Washington, sein Vater war Rechtsanwalt, es war wirklich eine ganz andere Welt. Aber er wurde dann für sechs Jahre, bis 1945, Martha Grahams bedeutendster Tänzer, bis er sich dann in der Tat löste und er fing dann an, mit John Cage einzelne Solokonzerte zu geben und so die Zusammenarbeit zu entwickeln, die eben auf gegenseitiger Freiheit und Unabhängigkeit beruhte. Die haben sich nur verabredet, wann der Anfang eines Stückes und wann das Ende sein würde und dazwischen konnte jeder machen, was er wollte. Und Cage war es auch, der Cunningham über das Zufallsprinzip in der Kunst unterrichtet hat, das Cunningham dann auch für die Choreografie angewendet hat.

    Schossig: Das ging ja dann aber sicher über das "Random System" hinaus, was Cunningham dann machte. Wie war seine Unabhängigkeit? Was ist sozusagen das Eigenständige, was er dann für den Modern Dance aufgebaut hat?

    Hüster: Das Wundervolle an ihm war ja: Nicht nur hat er mit den größten zeitgenössischen Komponisten auch neben John Cage - mit David Tudor etwa - zusammengearbeitet, sondern er hat auch in der bildenden Kunst wirklich die bedeutendsten Künstler seiner Zeit dazu eingeladen, mit ihm zu arbeiten. Sein künstlerischer Direktor war Robert Rauschenberg, Andy Warhol hatte ein wundervolles Bühnenbild für ihn geschaffen, Roy Lichtenstein noch in den späten Jahren, in den frühen 90er-Jahren. Das ging bis zu ganz jungen, unbekannten Künstlern, die er dann in den 90er-Jahren einlud. Er hat ein Stück gemacht, bei dem bekommen alle Zuschauer einen I-Pod in die Hand gedrückt und können im Shuffle System selber sozusagen für die musikalische Untermalung dieses Stücks sorgen. Er hat immer wieder Neues gemacht, er hat immer wieder ästhetische Revolutionen angezettelt. Das Faszinierende daran ist aber, dass seine Technik gleichgeblieben ist, die sehr stark auf dem klassischen Ballett beruht, was die Beinarbeit angeht, aber dann im Oberkörper so bestimmte Torsionen und "Arch" nennt man das, wenn sich also das Dekolletee zum Himmel streckt - wundervolle Bewegungen, die sich eben unendlich vielfältig kombinieren lassen mit den Beinen.

    Schossig: Und da bleibt er auch Vorbild, zum Beispiel auch für den deutschen Tanz. Was wird von ihm, gerade in Europa, bleiben?

    Hüster: Ja, das Verrückte ist eben, dass wir durch diese nach dem Zweiten Weltkrieg dann so vorherrschende Ästhetik des Tanztheaters in Deutschland eigentlich nur sehr sporadisch Cunninghams außergewöhnliche Strahlkraft zu spüren bekommen haben. Und wir haben hier auch nicht wirklich Leute in Europa, vielleicht in Frankreich noch, also, die französische postmoderne Generation der Choreografen ist sehr stark beeinflusst von Cunningham. Aber was nie vergehen wird und was wir auch in den nächsten Jahrzehnten noch nachwirkend spüren werden, ist diese ungeheuerliche Freiheit und diese Kollaboration zwischen den Künsten, denn das ist das Allerwichtigste, dass der Tanz zwar sehr stark ist und sehr eigenständig, aber sich nicht isoliert von den anderen Künsten, sich aber auch nicht zu ihrem Diener macht. Und das ist bei den "Balletts Russes" gelungen und das hat auch Merce Cunningham so großartig gemacht.

    Schossig: Ein kurzes Wort noch zum Schluss, Frau Hüster, zu seinem Nachlass. Den hat er ja auf sehr besondere Weise gesichert. Sie sagen, er wird über Jahrzehnte hier noch wichtig sein, aber sein choreografisches Vermächtnis ist gleichsam geschützt.

    Hüster: Ja, das ist natürlich für Choreografen ein großes Problem. Was geschieht mit ihrem Werk, wenn sie selbst nicht mehr über die Einstudierung wachen können? Balanchine hat das mit einer Stiftung gelöst, eine ähnliche Lösung hat man für Cunningham gefunden, das hat man Anfang Juni noch bekannt gegeben. Es wird so sein, dass die Merce Cunningham Dance Company selbst noch zwei Jahre weltweit touren wird und diese Tournee mit einem großen Gastspiel in New York enden wird. Danach wird die Company aufgelöst, alles wird in eine Stiftung überführt und man versucht, von jedem Werk, das Cunningham - das sind über 200 Werke - je geschaffen hat, eine sogenannte "Capsule" herzustellen, also eine kleine Archivschachtel, in der alles enthalten ist, was es zu einem gewissen Werk gibt, sodass später auch die Tänzer das bei anderen Kompanien einstudieren können.

    Schossig: Wunderbar. Danke an Wiebke Hüster zum Tod einer Legende, zum Tod des Choreografen Merce Cunningham.