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Nietzsche-Nachlass.

Im Nietzsche-Jahr 2000 steht noch eine kleine Sensation bevor: Gegen Ende des Jahres beginnt der Verlag De Gruyter in Berlin mit einer Neuedition des Nachlasses von Nietzsche. Es handelt sich zwar nicht um den gesamten Nachlass, sondern lediglich um die Jahre 1885-1888, die aber haben es in sich, denn es geht dabei um das Konvolut, das unter dem angeblichen Titel "Wille zur Macht" zu zweifelhaftem Ruhm gekommen ist: Die Schwester Nietzsches hatte unter diesem Titel Anfang des 20. Jahrhunderts eine willkürliche Auswahl von Sätzen und Fragmenten herausgegeben, Fälschungen inbegriffen. Den Nationalsozialisten wurde damit auf ihrem Weg zur Macht eine Nähe zu Nietzsche suggeriert, für die das Werk des Denkers, der sich frühzeitig über die geistige Beschränktheit von Antisemiten entrüstete, ansonsten kaum geeignet gewesen wäre.

Wilhelm Schmid |
    Nach dem Zweiten Weltkrieg waren es die italienischen Philologen Giorgio Colli und Mazzino Montinari, die die Manipulationen der Schwester mit einer Edition des gesamten Nachlasses offenlegen konnten. In ihrer Kritischen Gesamtausgabe der Werke Nietzsches, die von 1967 an erschien, umfasste der Nachlass die Abteilungen VII und VIII. Die Veröffentlichung erfolge "nach streng chronologischen Grundsätzen" und "unter Verzicht auf jede systematische Anordnung durch die Herausgeber", so schrieb Montinari; "nicht zu vermeidende Eingriffe" würden im Apparat der Ausgabe nachgewiesen. Diese Bemerkungen legten den Schluss nahe, dass hier nun der definitive Text vorliege, der unumstößlich feststehe, immerhin ein Konvolut von größerem Umfang als alle von Nietzsche selbst publizierten Werke zusammengenommen.

    Diese Kritische Gesamtausgabe wird nun jedoch eine Abteilung IX bekommen, unauffällig "Manuskript-Edition" genannt; dahinter verbirgt sich die grundlegende Korrektur und Neu-Edition der gesamten Abteilung VIII und eines kleinen Teils der Abteilung VII, ein Novum und Kuriosum der Editionsgeschichte. Die ersten drei Bände mit je 200 Seiten inklusive eines Kommentars erscheinen bereits Ende 2000; insgesamt sind 15 Bände und ein Kommentarband bis zum Jahr 2006 vorgesehen, Gesamtumfang 3000 Seiten, herausgegeben von der Berliner Philologin Marie-Luise Haase, einer ehemaligen Mitarbeiterin Montinaris, und Michael Kohlenbach, einem Basler Literaturwissenschaftler, deren Idee zur Neu-Edition aus den Schwierigkeiten im Umgang mit der bisherigen Ausgabe erwuchs. Für den Kommentar mit quellenkundlichen Erläuterungen zeichnet der Berliner Wissenschaftler Wolfert von Rahden verantwortlich, neben ihm sind drei weitere Mitarbeiter mit dem am Nietzsche-Archiv in Weimar angesiedelten Projekt beschäftigt.

    Die Neu-Edition hat zum Ziel, das komplexe Textgebilde des fraglichen Nachlasses von 1885-1888 – Wolfert von Rahden nennt es deutlicher ein "Wortgestrüpp", das kaum zu entziffern ist – möglichst im Verhältnis 1 : 1 abzubilden, mit verschiedenen Schriftarten, Schriftgraden, Farben entsprechend den Tinten und Bleistiften Nietzsches, mit allen Streichungen und Überschreibungen, in genau derselben Anordnung, wie es sich in den Arbeitsheften und Notizbüchern findet, um den Schreib- und Korrekturprozess, den Text im Werden deutlich zu machen; eine "topographische und typographische Umsetzung des Manuskripts", ohne "heilende" Eingriffe in den Textkörper und zwangsläufig ohne definitives Resultat. Denn den festen, beinahe in Erz gegossenen Text, wie er auch noch aus der Colli-Montinari-Ausgabe hervorleuchtet, gibt es in Wahrheit gar nicht.

    Was verschwindet, ist die nicht von Nietzsche stammende Einteilung des Konvolutes in übersichtliche Fragmente – eine gravierende Veränderung. Erhalten bleibt die eigentümliche Anordnung der Texte bei Nietzsche, der des öfteren die Hefte von hinten nach vorne vollschrieb, manchmal aber auch nicht, ohne dass dies im Einzelfall zweifelsfrei zu erkennen wäre. Erhalten bleiben auch die Vorstufen zu Nietzsches Werkpublikationen, die sich in den Notizheften finden und von Colli/Montinari lediglich im Apparat verzeichnet wurden, ferner die zahllosen Textvarianten, von deren Existenz der Leser der bisherigen Ausgabe nicht immer erfährt, weil die Herausgeber, wie Wolfert von Rahden vermutet, aufgrund der Unübersichtlichkeit zuweilen "einfach aufgegeben haben". Auch Briefentwürfe und Gelegenheitsnotizen, etwa Einkaufszettel, bleiben stehen, denn sie vermitteln einen Eindruck davon, wie hehres Denken und banaler Alltag ineinandergreifen.

    Erst auf äusseren Druck nach einer Nietzsche-Tagung in Weimar im März 2000 entschied sich der Verlag dafür, neben der Buchpublikation sämtliche Seiten der Handschrift auch faksimiliert auf CD-ROM mitzuliefern, ideal für alle Nietzsche-Forscher, die somit strittige Textpassagen, wenn nötig, mikroskopisch genau ansehen und selbst beurteilen können. Einfache Zitate jedoch, erst recht Übersetzungen, werden bei dieser Verflüssigung des festen Textes wohl kaum mehr möglich sein. Die künftige Erfahrung muss zeigen, wie man mit einem solchen Text überhaupt arbeiten kann.