Die Einzeluntersuchungen von Heftrich sind in Umfang und Qualität recht unterschiedlich. Dies liegt auch daran, daß der Autor in dem Sammelband Zeitungartikel, Vorträge und wissenschaftliche Aufsätze aus einem Zeitraum von 35 Jahren veröffentlichte. Verblüffend an der 1970 verfaßten Studie über Heideggers Verhältnis zu -Nietzsche ist die Perspektive Heftrichs: Heideggers einige Jahre zuvor publizierte Nietzsche-Vorlesungen, in denen eine nach-metaphysische Philosophie begründet wird, werden gar nicht berücksichtigt. Für den Leser ist nicht gerade einsichtig, warum Heideggers frühe Fundamentalontologie so ausführlich diskutiert wird, um schließlich im letzten Satz einen überraschenden Brückenschlag zu Nietzsche zu konstruieren.
Zu den besten Aufsätzen des Sammelbandes gehört zweifellos die Untersuchung von Thomas Manns Verhältnis zu Nietzsche und Wagner. Jedem Leser des"Doktor Faustus" dürfte aufgcfallen sein, daß durch den Mythos Nietzsches der deutsche Mvthos schimmert. Auch Thomas Mann steht offenbar im Banne des jungen Philosophen, wenn er seinen Freigeist als Erleben und Erleiden herausstellt, das nur in psychologischen und mythischen Begriffen zu beschreiben ist. Heftrich verkennt keineswegs, daß dieses Verhältnis auch ein Leiden an Nietzsche ist. Denn spätestens seit dem 3- Reich geht Thomas Mann "die Nachbarschaft von Ästhetizismus und Barbarei" auf. In diesem Zwiespalt bleibt Nietzsrhc für ihn der "Fragwürdige, Vieldeutige, Gebrochene".
Auch für Nietzsche selbst hat es eine durchaus ambivalente Lichtgestalt gegeben. Nach dem Bruch mit Richard Wagner hatte er Goethe zum wahrhaben und einzigen Erben des Dionysos ausgerufen. So wie sich die griechische Kultur angeblich aus den dionysischen Kulten regenerierte, so sollte durch Goethe eine neue Klassik entstehen. Eine Kultur des Südens, die Wagners Kultur des Nordens ablöst. Heftrich weist zwar darauf hin, daß der Weimarer Dichter von Nietzsche zum "Ausnahme-Deutschen" erkoren wurde, doch die Franzosen verehrten einige Jahrzehnte später ebenfalls ihren "Ausnahme-Deutschen". Dieser war niemand anders als der Weimarer Philosoph - Friedrich Nietzsche.
Die frühe Nietzsche-Verehrung etwa eines André Gide oder Henri Albert war keineswegs zufällig, hatte doch der Philosoph das westliche Nachbarland als "Sitz der geistigsten und raffiniertesten Kultur Europas" gepriesen. Bedauerlich nur, daß Heftrich von der französischen Forschung, die nach dem 2.Weltkrieg ein völlig neues Nietzsche-Bild entworfen hat, offenbar nichts wissen will. Mit Blick auf Michel Foucault und Gilles Deleuze, die seit den sechziger Jahren eine breite Rezeption von Nietzsches Schriften beförderten, heißt es ironisch, man solle sich vor derartigen "Zelebritäten" hüten. Gemeint ist natürlich auch Jacques Derrida, der zu jenen Philosophen gerechnet wird, die - wie Heftrich meint - "neuerdings im Namen Nietzsches ihre eigenen Dionysmen des Zynismus feiern." Heftrich sieht seinen Lieblings-Philosophen von drei Seiten unter Beschuß genommen: Von den Universitäten, die aus ihm "eine An Gemischtwarenladen für sämtliche Moden" machen; von den Feuilletons, die Nietzsche "als Zitatenlieferant für kecke Sprüche" schätzen- und schließlich von den Symposien und Talkshows, für die er immer eine "sichere Nummer" ist. Und was bleibt übrig? Heftrich plädiert, wie er abschließend einklagt, für "ernsthafte Nietzsche-Forschung". Darunter versteht er die rein philologische Suche nach dem "wahren Nietzsche". Daß dies alles äußerst problematische Begriffe sind - dies wird von Heftrich geflissentlich ausgeblendet. Kein Denken mit Nietzsche oder über Nietzsche hinaus ist gefordert, sondern semantische Interpretation als philologische Fleißarbeit. Alles wie gehabt. Auf diese Weise wird der schärfste Aphoristiker deutscher Sprache, der Philosoph mit dem Hammer, endgültig narkotisiert, zum beruhigenden Objekt akademischer Beflissenheit.