Das entsprechende Kapitel VI in der "Nikomachischen Ethik", das von der Klugheit handelt, hat Gadamer ausgewählt, um es neu zu übersetzen und zu kommentieren und somit für das heutige Nachdenken über Ethik fruchtbar zu machen. Die Überzeugung, daß dieser Text von großer Bedeutung ist, hat Gadamer sehr früh schon von seinem Lehrer Heidegger übernommen; sie fand auch Niederschlag in seinem eigenen Hauptwerk "Wahrheit und Methode" von 1960. Jahrzehnte danach gewinnt die Klugheit in der Ethik-Diskussion nun tatsächlich immer stärker an Boden, Gadamer hat dies aufmerksam registriert, er weist in seinem Vorwort ausdrücklich darauf hin: Der griechische Begriff der Klugheit, phronesis, sei "so sehr in das Zentrum der philosophischen Interessen gerückt, daß nichts anderes übrig blieb, als das 6. Buch der Nikomachischen Ethik zu wählen". Von "Zentrum" kann zwar noch keine Rede sein, aber Gadamer, sensibler als viele seiner Kollegen, weiß die Zeichen der Zeit wohl richtig zu deuten. Nur leider behält er seine frühere Übersetzung des griechischen Begriffs auch jetzt noch bei, denn er nennt die Phronesis gar nicht Klugheit, sondern "Vernünftigkeit". Er macht sie damit zu einer rein intellektuellen Angelegenheit, die sie nicht ist, denn Phronesis ist weitaus mehr: Sensibilität und Gespür, Reflexivität und Urteilskraft, auf deren Grundlage eine Wahl getroffen werden kann. In die Klugheit finden sowohl das Denkvermögen als auch die Sensibilität Eingang, ihr Ort ist das "Zwischen": Zwischen Verstand und Wahrnehmung, zwischen Erkenntnis und Erfahrung, um in einem sensiblen Denken und einer leiblichen Intelligenz wieder zum Vorschein zu kommen, immer aufs Neue bezogen auf den Einzelfall und die jeweilige Situation.
Aber auch wenn manche Einzelheiten der Übersetzung, wie könnte es anders sein, umstritten sind, so sollen Gadamers Verdienste dadurch nicht geschmälert werden. Wer übersetzt, muß Festlegungen treffen, und jede Festlegung ist kritisierbar. Daß andere Übersetzer vor Gadamer ihre Sache besser gemacht hätten, ist mitnichten der Fall; dazu ist der ausgewählte Text viel zu schwierig und zu brüchig, selbst Gadamer kapituliert zumindest einmal vor offenkundiger Inkohärenz. Durchdachter als die seine ist keine andere Übersetzung, und in der Einführung und den begleitenden Kommentaren kann er aus dem Vollen seiner philologischen und philosophiehistorischen Kenntnisse schöpfen. In elegantem Stil, den man in der Philosophie nach ihm wohl wird entbehren müssen, präsentiert er, gleichsam beiläufig, die moderne Rezeptionsgeschichte und den heutigen Forschungsstand zu Aristoteles. Den enormen Gewinn hiervon hat der Leser, und die Diskussion über Klugheit kann nun auf neuer, historisch geläuterter Grundlage fortgesetzt werden.