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Nikomachische Ethik VI

Wenn sich ein Philosoph im ehrwürdigen Alter von 98 Jahren – genauso alt wie dieses Jahrhundert – daranmacht, ein Buch zu publizieren, das vielleicht sein Erbstück darstellen könnte, dann muß es wichtige Gründe dafür geben. Der Philosoph ist Hans-Georg Gadamer, und das Buch hat mit dem Nachdenken über Ethik zu tun, das sich von Jahr zu Jahr innerhalb und außerhalb der Philosophie verstärkt, denn die klassischen ethischen Fragen Was sollen wir tun, was soll ich tun? sind weniger denn je zu beantworten: Die Probleme, mit denen wir konfrontiert sind, vor allem was den Umgang mit Technik angeht, sind oft völlig neu, die Kriterien für eine richtige Antwort stehen nicht fest, und ohnehin lassen sich moderne Subjekte nur ungern sagen, was sie zu tun haben.

Wilhelm Schmid |
    Bisherige Ethik-Entwürfe haben sich vor allem aus letzterem Grund als unfruchtbar erwiesen. Daher beginnt nun die Suche nach Konzepten, die nicht auf Sollensforderungen setzen, sondern die eigene Klugheit von Individuen ins Spiel bringen. Klugheit hat sich historisch immer dann bewährt, wenn äußere Sollensforderungen ihre Verbindlichkeit und Glaubwürdigkeit verloren, an deren Verfall auch noch so sichere metaphysische oder logische "Letztbegründungen" nichts ändern konnten. Das Konzept der Klugheit findet man bei Aristoteles, und zwar in seinem nahezu zweieinhalbtausend Jahre alten Buch namens "Nikomachische Ethik", das den eigentlichen Grundtext der Ethik überhaupt darstellt. Diesem Buch verdanken wir den Begriff der Ethik, der uns heute so selbstverständlich zu sein scheint, und es behandelt eine Reihe von Themen, die uns heute wieder verstärkt interessieren: Das Gute, das Glück, die Freundschaft, der Umgang mit den Lüsten, die beste Lebensform – und eben auch die Klugheit, mit deren Hilfe der Einzelne ausfindig machen kann, was für ihn das richtige Verhalten ist.

    Das entsprechende Kapitel VI in der "Nikomachischen Ethik", das von der Klugheit handelt, hat Gadamer ausgewählt, um es neu zu übersetzen und zu kommentieren und somit für das heutige Nachdenken über Ethik fruchtbar zu machen. Die Überzeugung, daß dieser Text von großer Bedeutung ist, hat Gadamer sehr früh schon von seinem Lehrer Heidegger übernommen; sie fand auch Niederschlag in seinem eigenen Hauptwerk "Wahrheit und Methode" von 1960. Jahrzehnte danach gewinnt die Klugheit in der Ethik-Diskussion nun tatsächlich immer stärker an Boden, Gadamer hat dies aufmerksam registriert, er weist in seinem Vorwort ausdrücklich darauf hin: Der griechische Begriff der Klugheit, phronesis, sei "so sehr in das Zentrum der philosophischen Interessen gerückt, daß nichts anderes übrig blieb, als das 6. Buch der Nikomachischen Ethik zu wählen". Von "Zentrum" kann zwar noch keine Rede sein, aber Gadamer, sensibler als viele seiner Kollegen, weiß die Zeichen der Zeit wohl richtig zu deuten. Nur leider behält er seine frühere Übersetzung des griechischen Begriffs auch jetzt noch bei, denn er nennt die Phronesis gar nicht Klugheit, sondern "Vernünftigkeit". Er macht sie damit zu einer rein intellektuellen Angelegenheit, die sie nicht ist, denn Phronesis ist weitaus mehr: Sensibilität und Gespür, Reflexivität und Urteilskraft, auf deren Grundlage eine Wahl getroffen werden kann. In die Klugheit finden sowohl das Denkvermögen als auch die Sensibilität Eingang, ihr Ort ist das "Zwischen": Zwischen Verstand und Wahrnehmung, zwischen Erkenntnis und Erfahrung, um in einem sensiblen Denken und einer leiblichen Intelligenz wieder zum Vorschein zu kommen, immer aufs Neue bezogen auf den Einzelfall und die jeweilige Situation.

    Aber auch wenn manche Einzelheiten der Übersetzung, wie könnte es anders sein, umstritten sind, so sollen Gadamers Verdienste dadurch nicht geschmälert werden. Wer übersetzt, muß Festlegungen treffen, und jede Festlegung ist kritisierbar. Daß andere Übersetzer vor Gadamer ihre Sache besser gemacht hätten, ist mitnichten der Fall; dazu ist der ausgewählte Text viel zu schwierig und zu brüchig, selbst Gadamer kapituliert zumindest einmal vor offenkundiger Inkohärenz. Durchdachter als die seine ist keine andere Übersetzung, und in der Einführung und den begleitenden Kommentaren kann er aus dem Vollen seiner philologischen und philosophiehistorischen Kenntnisse schöpfen. In elegantem Stil, den man in der Philosophie nach ihm wohl wird entbehren müssen, präsentiert er, gleichsam beiläufig, die moderne Rezeptionsgeschichte und den heutigen Forschungsstand zu Aristoteles. Den enormen Gewinn hiervon hat der Leser, und die Diskussion über Klugheit kann nun auf neuer, historisch geläuterter Grundlage fortgesetzt werden.