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Nimm dich in acht

Mary Higgins Clark ist eine elegante Lady mit unübersehbarer Neigung zum Zweit-Schmuckstück und eisernen Nerven. Beiläufig erzählt sie, daß kürzlich auf einer ihrer Flugreisen ein Triebwerk ausfiel. Neben der Landebahn des Zielflughafens warteten schon die Notarztwagen. Aber sonderliche Empfindlichkeit konnte sich die zarte Siebzigjährige mit der Vorliebe für nervenzerfetzende Thriller noch nie leisten: "Mein Vater starb, als ich noch ein Kind war", so Mary Higgins Clark. "Ich war nur kurz rausgegangangen und als ich wieder reinkam, war er tot. Herzinfarkt. Danach weiß man, wie schnell das Leben kaputt gehen kann und regt sich nicht mehr über Kleinigkeiten auf."

Jutta Rosbach |
    Mary Higgins Clark war knapp elf, als ihr Vater starb. Mit 21 Jahren heiratete sie und beschloß, Schriftstellerin zu werden. Als ihr Mann starb, hatte sie fünf Kinder und war Mitte Dreißig. Ihren jetzigen Ehemann, einen verwitweten Banker im Ruhestand, lernte sie vor zwei Jahren bei einer Party ihrer Tochter kennen. "Meine Tochter rief mich an", so Higgins Clark, "und sagte: ‘Ich hab’ einen Kerl für dich."

    Ein spätes Glück. Ihr literarischer Durchbruch kam viel früher, da war sie gerade 46 Jahre. Mittlerweile ist die Buchproduktion für Mary Higgins Clark ein Millionengeschäft. Pro Roman bekommt sie ein Honorar von 12 Millionen Dollar. Ihr langjähriger Verleger erhält jedes neue Buch häppchenweise in Paketen von etwa 30 Seiten: "Wenn das letzte Kapitel eintrifft, ist das Buch fertig zur Herausgabe. Aber diesen Luxus hatte ich bei den ersten 15 Büchern nicht."

    Schreiben betrachtet die gelernte Sekretärin und Stewardess ganz nüchtern als Handwerk. Jahrelang hat sie Schreibkurse besucht, sich in kleinen Arbeitsgruppen das nötige Feedback geholt. Thriller wie "Psycho" und "Rebecca" hat die Autorin in einzelne Absätze zerlegt, um den Spannungsaufbau zu begreifen. In ihrem neuen Roman spielt ein englisches Volkslied eine unheilvolle Rolle. "You belong to me" heißt es, "Du gehörst mir". "Es wäre doch nett, dachte ich, wenn jemand mit diesem Gedicht seine Mordopfer auswählt. Das hat was, fand ich."

    Auf einer Reihe von Kreuzfahrten verschwinden einsame, gutaussehende Frauen. auf Nimmerwiedersehen. "Nimm dich in acht" heißt der Roman und seine Heldin ist eine propere Identifikationsfigur aus gutem Hause. Susan Chandler, eine ebenso kluge wie attraktive Psychologin und Radiomoderatorin beginnt sich für die Fälle der Verschwundenen zu interessieren. Kurz darauf gibt es die ersten Toten und mindestens drei mögliche Mörder. Oft, sagt Mary Higgins Clark, sind es gerade bezaubernde Vorzeigemännner, die das Zeug zum Serientäter haben.

    Thriller, meint die praktizierende Katholikin sind gut fürs Gerechtigkeitsempfinden. Das Gute siegt, und die Welt ist hinterher wieder in Ordnung. Manchmal werden bei der virtuosen Spannungsspezialistin, die ihre Figuren ersäufen und erstechen ließ, schon mal die Todesarten knapp. Noch schwieriger ist es, Namen für Helden und Schurken zu finden. Im Englischen könnte eine Heldin zum Beispiel auf keinen Fall "Gertrud" heißen. Undenkbar. Pro Jahr ein Buch, das ist der Output der produktiven Siebzigerin. Aber darunter darf auf keinen Fall die Qualität leiden. "Kein Buch wird heruntergehudelt," sagt sie streng. "Leser merken sich so etwas nämlich". Die Stoffe für ihre Geschichten bezieht Mary Higgins Clark aus dem, was sie erlebt, oder was man ihr erzählt. Am liebsten beginnt sie den Tag morgens um acht Uhr mit einem Kaffee: "Ich schalte dann den Computer ein und lese die letzten 8 Seiten, um warm zu werden und sage: o.k. Kinder, dann laßt uns die Kacke zum Dampfen bringen."