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Nix lesen, nix schreiben

Die Zahlen sind schockierend: Zwei Prozent der Italiener bezeichnen sich selbst als Analphabeten, sie sind nie zur Schule gegangen. Acht Prozent haben die fünfjährige Grundschule nie beendet, und 33 Prozent haben zwar gerade noch die Grundschule, aber dann nicht mehr die Mittelschule geschafft. Das heißt, alles in allem, 43 Prozent der Italiener sind nicht der Schulpflicht nachgekommen, die bei acht Jahren liegt. Und um die Schreckensstatisik etwas zu differenzieren, die eine Studie der Universität Castel Sant’Angelo und des Nationalvereins zur Bekämpfung des Analphabetimus belegt: Zehn Prozent der erwachsenen Italiener sind richtige Analphabeten und 33 Prozent Semi-Analphabeten, das heißt, sie sind nach den Kriterien der UNESCO nicht in der Lage, in Prosatexten und schematischen Darstellungen die Informationen zu verstehen und sachgerecht zu nutzen. Der Medienunternehmer und Ministerpräsident Silvio Berlusconi dagegen rühmt sich, ganze Passagen aus Dantes "Göttlicher Komödie" auswendig rezitieren zu können, was natürlich dem Süden des Landes, dem Mezzogiorno, wo es die meisten Analphabeten und die meisten Berlusconi-Wähler gibt, wenig nützt.

Michael Kahn-Ackermann, Leiter des Goethe-Institutes Rom, im Gespräch |
    Christoph Schmitz: Michael Kahn-Ackermann, Leiter des Goethe-Instituts in Rom, das italienische Fernsehen, gleich ob staatlich oder privat, aber vor allem das private Fernsehen ist bekanntermaßen selten dämlich. Ist es ihm gelungen Italiener zu verdummen?
    Michael Kahn-Ackermann: Die Frage ist natürlich schwierig zu beantworten, weil schwer zu sagen ist, wer das Niveau bestimmt, also ob es das Niveau der Zuschauer ist, das die Qualität des Fernsehens diktiert oder ob das Fernsehen die Zuschauer verdummt. Tatsache ist, dass das Niveau des italienischen Fernsehens, verglichen mit dem vergleichbarer Industriestaaten, sicherlich nicht besonders hoch ist und dass die Sendungen, die sich an die Kreativität, die Intelligenz und das Informationsbedürfnis der Zuschauer richten, überdurchschnittlich gering sind.

    Schmitz: Dennoch ist es doch so, dass Italien nach wie vor stolz ist auf seine klassische kulturelle Tradition, auf seine Dichter wie zum Beispiel Dante. Wie kann sich ein Land dann doch so sehr von der Literatur und von der Schrift abwenden?

    Kahn-Ackermann: Zunächst einmal gibt es auch hier, wie in der Wirklichkeit, immer sehr widersprüchliche Phänomene. Zum Beispiel, dass Tageszeitungen ihre Auflagen dadurch steigern, dass sie zu sehr günstigen Preisen Klassiker der Weltliteratur oder der italienischen Literatur des 20. Jahrhunderts mit Wochenendausgaben zusammen verkaufen und diese Kampagnen einen unglaublichen Erfolg haben. Bücher aus gehobeneren Kategorien erzielen plötzlich auf diese Weise Auflagen von mehreren 100.000 Exemplaren. Ob die Leute sie lesen, weiß ich nicht, aber Tatsache ist, die Leute kaufen sie. Ich kann mir das in kaum einem anderen Land Europas vorstellen. Es gibt einen Stolz auf die eigenen kulturellen Traditionen, auf die eigenen kulturellen Leistungen, und es gibt auf der anderen Seite ein Bildungssystem, das dem 21. Jahrhundert offensichtlich nicht gerecht wird.

    Schmitz: Es heißt in den Zeitungen – um diesen Gedanken aufzugreifen – dass die Italiener die Kulturtechnik des Lesens und Schreibens gar nicht einmal verloren haben, sondern, dass es sich um einen langen historischen Prozess handelt, an dessen Ende die Alphabetisierung steht, wo Italien aber noch lange nicht angekommen ist. Das heißt, das Schulsystem hat es noch nie geleistet, die Italiener zu alphabetisieren, das heißt die Schwächen kommen noch aus dem vorvorigen Jahrhundert?

    Kahn-Ackermann: Das bestehende italienische Schulsystem geht auf Reformen der 20-er Jahre zurück. Ich denke, dass die Defizite des italienischen Bildungssystems weitgehend vererbt sind, dass es erworbene und übernommene Defizite sind, die zum Teil eine sehr lange Geschichte haben – das ist sicher richtig.

    Schmitz: Wie steht es denn mit dem wirtschaftlichen Boom, der immens gewesen ist in den letzten zehn, zwanzig Jahren, in dem aber vor allem Billigjobs entstanden sind, für die das Erlernen der Sprache, die Sprachkompetenz, die Schreibkompetenz wenig wichtig gewesen ist und dreiviertel der Beschäftigten keine Lese- und Schreibfähigkeit benötigen?

    Kahn-Ackermann: Das muss man so sehen, dass dieser Boom, der ja unbestreitbar ist, sich in Italien nicht gleichmäßig über das ganze Land verteilt. Wir haben diese enorm rasche und tiefgreifende wirtschaftliche Entwicklung vor allem in den Regionen des Nordens, wo es nicht ganz richtig ist, dass hier nur Billigarbeitsplätze geschaffen worden sind. Es sind hier auch sehr viele qualifizierte Arbeitsplätze geschaffen worden. Es sind ja vor allem Klein- und Mittelindustrien, die sich in kleinen Marktnischen aufhalten und wir da schnell reagieren, und das sind durchaus hochqualifizierte Arbeitsplätze. Das Problem für Italien ist, dass sich das Land nach wie vor in einen sich weiter entwickelnden und hochentwickelten Norden und einen unterentwickelten Süden teilt. Die alarmierenden Zahlen des Semi-Analphabetismus sind ja eben vor allem die Zahlen des Südens, wo der Semi-Analphabetismus in manchen Regionen fast an die 50 Prozent reicht.

    Schmitz: Was tut die Kultur, die Bildungspolitik, um diese Situation zu verbessern?

    Kahn-Ackermann: Darüber gibt es im Moment große Diskussionen in Italien. Es gibt eine Reform des Bildungswesens, umstritten vor allem deshalb, weil sie die Defizite des staatlichen Bildungssystems, das bisher existiert hat, nicht wirklich behebt, sondern zu einer Zweiklassen-Gesellschaft führt, zu einer Gesellschaft, die sich gute Bildungschancen erkaufen kann, und zu einer Gesellschaft die das nicht kann und im Bildungswettbewerb immer weiter zurückfällt. Eine der starken Tendenzen der Bildungspolitik ist auf der einen Seite die Privatisierung von Bereichen der Bildung und auf der anderen Seite sicherlich auch der Versuch, bestimmte Defizite des Bildungssystems zu beheben. Dadurch zum Beispiel, dass man die Autonomie der Schulen stärkt und dadurch dass man das System der Feudalbesitztümer an Universitäten versucht aufzubrechen.