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Noam Chomsky: The Attack - Hintergründe und Folgen

Beim Weltsozialforum in Porto Alegre war Noam Chomsky erst kürzlich ein begeistert begrüßter Gast. Dort, wo sich Menschen aus allen Erdteilen darüber Gedanken machten, wie man verhindern kann, dass käuflich und unverkäuflich zum alleinigen Maßstab menschlichen Austausches erhoben wird, war der US-amerikanische Intellektuelle, der wie kein anderer die Kritik am American Way of Life repräsentiert, hochwillkommen. Seine wissenschaftlichen Arbeiten zählen zu den Standardwerken der Linguistik, die Sprach- und Medienkritiken des 73-jährigen Professors sind vielfach publiziert, seine Reden und Bücher, die sich mit der US-amerikanischen Außenpolitik befassen, sind Munition für Kriegsgegner und Verfechter einer konsequenten Friedenspolitik. Während sein Präsident sich als Kreuzritter zur Rettung der Welt aufschwingt und die Achse des Bösen zu zertrümmern trachtet, hielt Chomsky in Brasilien einen Vortrag unter dem Titel: Eine Welt ohne Krieg ist möglich. Er führte seine Zuhörer in die US-amerikanische Kriegsrhetorik ein, ein Unterfangen, dem man auch hierzulande Verbreitung wünschte. Dass Noam Chomsky den Anschlag vom 11. September und seine Folgen für die Politik auch publizistisch nicht ignorieren kann, liegt auf der Hand. Im Europa Verlag erschien gerade ein kleiner Band unter dem Titel "‚The Attac"' Ruth Jung hat Chomskys Buch über Hintergründe und Folgen des Angriffs gelesen.

Ruth Jung | 18.02.2002
    Wir können in einer Welt bequemer Illusionen leben oder aber, wenn wir es wollen, die jüngstvergangene Geschichte mitsamt den unverändert gebliebenen institutionellen Strukturen und Plänen, die verkündet wurden, betrachten - und die Fragen entsprechend beantworten.

    Noam Chomksy versucht mit seinem neuen kleinen Buch Antworten auf diese Fragen zu vermitteln. In der US-amerikanischen Originalausgabe erschien der Band als Zusammenstellung von Radiointerviews und Stellungnahmen zum 11. September, jenem Datum, das angeblich die Welt veränderte. Wie wenig sich in Wahrheit verändert hat, diesen Nachweis zu führen, ist zentrales Thema von Chomskys Beiträgen. Die "neue Qualität" der schrecklichen Ereignisse vom 11. September definiert Chomsky im ersten der insgesamt sechs Kapitel,

    die nicht in ihrem Umfang oder ihrem Charakter besteht, sondern im Ziel der Angriffe. Seit 1812 haben die Vereinigten Staaten keinen Angriff auf ihr Territorium mehr erlebt; es wurde noch nicht einmal bedroht.

    Für eine Nation, deren imperialistische Kriege auf fremden Territorien kaum zu zählen sind, hätten die USA dabei "gehöriges Glück" gehabt, schrieb die indische Schriftstellerin Arundhati Roy, deren Artikel keine einzige US-amerikanische Tageszeitung abdruckte. Als "Crime against Humanity", als ein "Verbrechen gegen die Menschheit", müsse man das Attentat bezeichnen; die ständig wiederholte Behauptung hingegen, es handele sich um eine "Kriegserklärung gegen Amerika", definiert Chomsky als Teil des Vokabulars einer gezielten Kriegspropaganda:

    Von einem ‚Krieg gegen den Terrorismus' zu sprechen, ist einfach nur Propaganda, solange der ‚Krieg' nicht wirklich auf den Terrorismus zielt. Das jedoch kommt nicht in Betracht, weil die westlichen Mächte sich dann ihrer eigenen Definition des Begriffs, wie sie im US-Strafgesetzbuch oder in Armeehandbüchern niedergelegt ist, stellen müssten.

    Chomksy unterscheidet zwischen einem im Staatsinteresse verübten Terrorismus und dem ‚privaten' Terrorismus der Attentäter. Seine Liste an Beispielen für staatlichen Terrorismus ist bedrückend lang: Folgten die USA den eigenen gesetzlichen Definitionen, müssten sie sich selbst des Terrorismus bezichtigen. "Staatsverbrechen" nennt Chomsky kriegerische Aktionen wie die Bombardierung einer pharmazeutischen Fabrik im Sudan 1998, die fälschlich für eine Waffenschmiede gehalten worden war. "Nur eine Fußnote" in der langen Liste von Staatsverbrechen, für Zehntausende von Menschen jedoch ist der Verlust dieser einzigen Fabrik des Landes, die bezahlbare Medikamente herstellte, eine tödliche Katastrophe. Und viele Menschen in Lateinamerika musste der 11. September 2001 unweigerlich an einen anderen tragischen Dienstag der Geschichte erinnern:

    Ich wüsste nicht, warum wir tatenlos zusehen sollten, wie ein Land kommunistisch wird, bloß weil seine Bevölkerung unverantwortlich ist

    hatte der damalige Außenminister Henry Kissinger die eigene Unterstützung für den faschistischen Putsch in Chile kommentiert. Am Dienstag des 11. September 1973 wurde der chilenische Regierungspalast aus der Luft zerstört. Kissinger selbst säße längst auf einer Anklagebank, würde die Macht der USA ihn nicht vor jeder rechtlichen Verfolgung schützen.

    Noam Chomskys politische Stellungnahmen, im Ton trocken bis sarkastisch, zielen einmal mehr auf die Offenlegung jener ideologisch begründeten Mechanismen, die die US-amerikanische Politik mit Bush junior an der Spitze seit September 2001 erneut in Gang setzt, getreu ihres Prinzips, Krieg als eine Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln zu betreiben. Die neoliberale Globalisierung seit Beginn der 90er Jahre als Erklärung des Anschlags anzuführen, verwirft Chomsky als eine "zu einfache Antwort", die den Blick auf die seit Jahrzehnten betriebene Politik der USA gegenüber dem Mittleren Osten verstelle. Die Verbitterung der Menschen im Mittleren Osten sei völlig unabhängig von ihrer sozialen Zugehörigkeit:

    Ein gewichtiger Grund, der weder in den Vereinigten Staaten noch in Europa richtig verstanden wird, ist die Politik der USA gegenüber Israel einerseits und dem Irak andererseits. ... Im Irak habe, so lautet die Kritik, die US-Politik in den letzten zehn Jahren die Zivilgesellschaft zerstört und Saddam Hussein gestärkt. Man weiß natürlich, dass die USA Saddam bei seinen schlimmsten Greueltaten, wie den Gasangriffen auf die Kurden, geholfen haben. Wenn Bin Laden in seinen Ansprachen, die in der Region übertragen werden, darauf hinweist, stimmen ihm selbst diejenigen zu, die ihn verabscheuen.

    Die von unabhängigen Experten vorgelegten Berichte über die Lage der Zivilbevölkerung im Irak nach zehn Jahren Embargo untermauern Chomskys Feststellung nur. Mit seinem Versuch der Entwirrung des Knotens von scheinbar chaotischen Entwicklungen, die in Wahrheit benennbaren Gesetzmäßigkeiten folgen, macht Chomsky deutlich, wie sich der "islamische Terrorismus" mit Hilfe der US-amerikanischen Außenpolitik und dem nach politischem "Bedarf" neu interpretierten Boulevardstück "Über Gut und Böse" überhaupt erst zu dem monströsen Instrument hat entwickeln können.

    Ein Rezensent bemerkte einmal leicht resigniert über Chomskys Arbeiten: "Chomsky hat einfach immer Recht." Und ein anderer kritisierte Chomskys "Theater der Redundanz". Angebrachter wäre wohl eher Zorn über die Redundanz dieses tödlichen politischen Theaters, dem der US-amerikanische Intellektuelle unverdrossen stets aufs Neue die Maske herunterreißt. Die Forderung, Chomsky möge etwas Neues sagen, ist Teil der von ihm demontierten "Bewusstseinsindustrie", die auf "Abwechslung" besteht und vergessen macht, dass die Praxis der Aufklärung auf Wiederholung angewiesen ist.

    Ruth Jung besprach "The Attack, Hintergründe und Folgen" von Noam Chomsky, erschienen im Europa Verlag. Das Buch hat 89 Seiten und kostet 9,90 Euro. Zu diesem Thema möchte ich noch ein weiteres Buch vorstellen, an dem Chomsky ebenfalls einen Anteil hat. Es heißt "Anschläge in den USA und die Neue Weltordnung" . Es versammelt Analysen, Hintergrundgeschichten und Positionen verschiedener politischer Aktivisten wie Tariq Ali, Arundhati Roy und Robert Fisk, der als Korrespondent des britischen Independent mehrere Interviews mit Osama Bin Laden geführt hatte. Dieses Buch wird von Wolfgang Haug herausgegeben, ist in der kleinen Trotzdem Verlagsgenossenschaft erschienen, hat 121 Seiten und kostet 12 Euro.