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Noam Chomsky: War Against People. Menschenrechte und Schurkenstaaten

Das politische Leben Amerikas habe den Scheintod erlitten, schreibt Birnbaum, eine Opposition gäbe es faktisch nicht. Bis zum 11. September hätten demokratische Politiker den Unilateralismus der Bush-Regierung vehement kritisiert, seither legitimierten auch sie die Position der autoritären und chauvinistischen Seite: Kritik am Präsidenten sei subversiv, ja sogar Landesverrat. Noam Chomsky, angesehener Linguistik Professor am Massachusetts Institute of Technology, galt der New York Times einst als bedeutendster Intellektueller der USA, heute hat er praktisch Publikationsverbot in den etablierten Medien. An seiner Auffassung über die fatale Rolle der us-amerikanischen Außen- und Militärpolitik in der Welt hat sich auch nach den Anschlägen in New York und Washington nichts geändert. Sein neuestes Buch über Schurkenstaaten und Menschenrechte hat er noch vor den Terror-Akten geschrieben, doch es liest sich wie eine Antwort auf die Frage, warum die Politik der USA soviel Hass auf das Land zieht. Nach "Profit Over People", einer Kritik des Neoliberalismus und der globalen Weltordnung, hat er sich nun in "War Against People" der Instrumentalisierung der Menschenrechte durch die USA und ihrer Verbündeten angenommen.

Hans Martin Lohmann | 26.11.2001
    Das politische Leben Amerikas habe den Scheintod erlitten, schreibt Birnbaum, eine Opposition gäbe es faktisch nicht. Bis zum 11. September hätten demokratische Politiker den Unilateralismus der Bush-Regierung vehement kritisiert, seither legitimierten auch sie die Position der autoritären und chauvinistischen Seite: Kritik am Präsidenten sei subversiv, ja sogar Landesverrat. Noam Chomsky, angesehener Linguistik Professor am Massachusetts Institute of Technology, galt der New York Times einst als bedeutendster Intellektueller der USA, heute hat er praktisch Publikationsverbot in den etablierten Medien. An seiner Auffassung über die fatale Rolle der us-amerikanischen Außen- und Militärpolitik in der Welt hat sich auch nach den Anschlägen in New York und Washington nichts geändert. Sein neuestes Buch über Schurkenstaaten und Menschenrechte hat er noch vor den Terror-Akten geschrieben, doch es liest sich wie eine Antwort auf die Frage, warum die Politik der USA soviel Hass auf das Land zieht. Nach "Profit Over People", einer Kritik des Neoliberalismus und der globalen Weltordnung, hat er sich nun in "War Against People" der Instrumentalisierung der Menschenrechte durch die USA und ihrer Verbündeten angenommen.

    In einem aufsehenerregenden, in der FAZ veröffentlichten Artikel äußerte die indische Schriftstellerin Arundhati Roy kürzlich die Auffassung, der Terrorist Osama bin Laden sei "der dunkle Doppelgänger des amerikanischen Präsidenten". Als der Tagesthemen-Moderator Ulrich Wickert, vielleicht in einem unbedachten Moment, diese Auffassung öffentlich aufgriff, wurde er auf der Stelle zurückgepfiffen und gerügt. Wickert musste in aller Form widerrufen. In einem informell erzeugten Klima der Duckmäuserei und Kritikzurückhaltung, in dem allein die "uneingeschränkte Solidarität" mit Amerika gelten soll, darf eine derart grundsätzliche Infragestellung us-amerikanischer Positionen und ihrer politischen Repräsentanten offenbar nicht stattfinden. Auch Deutschlands Lehrer bekommen das zu spüren.

    Dabei wären wir gut beraten, Roys bittere Bemerkungen, die ja keinem persönlichen Ressentiment gegen die Vereinigten Staaten entspringen, wirklich ernstzunehmen. Seit Jahren trägt der international renommierte amerikanische Linguist Noam Chomsky umfangreiches Material zusammen, das belegt, in welchem Ausmaß die westliche Führungsmacht eine Außenpolitik betreibt, die allen Menschenrechten und Menschenrechtserklärungen Hohn spricht, sobald es darum geht, den weltweiten Interessen der USA Geltung zu verschaffen. Chomskys bestens dokumentierte Befunde decken sich ziemlich exakt mit jenen Arundhati Roys, wenn sie schreibt:

    "Die Anschläge vom 11. September waren die monströse Visitenkarte einer aus den Fugen geratenen Welt. Die Botschaft könnte, wer weiß, von Osama bin Laden stammen und von seinen Kurieren übermittelt worden sein, aber sie könnte durchaus unterzeichnet sein von den Geistern der Opfer von Amerikas alten Kriegen."

    In seinem neuesten Buch War Against People nimmt sich Chomsky, von der New York Times immerhin als der bedeutendste us-amerikanische Intellektuelle der Gegenwart gerühmt, den bei der US-Administration seit einiger Zeit höchst beliebten Begriff des "Schurkenstaates" vor. Nach der Sprachregelung der US-Politik und ihrer publizistischen Hilfstruppen sollen alle diejenigen Länder als Schurkenstaaten gebrandmarkt und als solche behandelt werden, die us-amerikanischen Interessen zuwiderhandeln, aktuell etwa das Afghanistan der Taliban, aber auch Irak und Libyen, Sudan und Somalia, von Kuba ganz zu schweigen. Gerne instrumentalisiert man dafür die Menschenrechte, die in solchen Ländern tatsächlich oder angeblich mit Füßen getreten werden, während man in Staaten der Verbündeten wie El Salvador und Guatemala, um nur zwei Beispiele zu nennen, über die Verletzung derselben hinwegsieht, schlimmer noch: sich mit militärischer Hilfe und Geheimdienstunterstützung daran beteiligt.

    Korrekt aber wäre es Chomsky zufolge - korrekt im Sinne der UN-Charta, der Entscheidungen des Internationalen Gerichtshofs und anderer supranationaler Einrichtungen -, eher solche Länder als Schurkenstaaten zu bezeichnen, die sich an internationale Regeln, Abmachungen und Gesetze nicht gebunden fühlen.

    Nun haben die Vereinigten Staaten bereits in den frühen sechziger Jahren des zurückliegenden Jahrhunderts, und zwar angesichts der Herausforderung durch die kubanisch-sozialistische Revolution im eigenen ‚Hinterhof', unmissverständlich erklärt, dass die "Angemessenheit" ihrer Reaktion auf eine "Bedrohung ... der Macht, der Position und des Prestiges der Vereinigten Staaten ... kein Gegenstand des Rechts" sei, dass sie es mithin ablehnen, sich dem Rechtsspruch irgendeiner internationalen Institution zu beugen. Bekanntlich ignorieren die USA sowohl den Haager Gerichtshof als auch, je nach Bedarf, die Vorgaben der World Trade Organization, von der Instrumentalisierung oder Missachtung der UNO, je nach augenblicklicher Interessenlage, ganz zu schweigen. Die von den meisten westlichen Staaten als notwendig erachtete Einrichtung eines Internationalen Tribunals lehnen die USA strikt ab. Dass sie daneben auch alle internationalen Bemühungen boykottieren, zu akzeptablen Abmachungen zur Rettung des Weltklimas zu kommen, rundet das Bild us-amerikanischer "Gesetzlosigkeit" bloß ab. Chomsky schreibt:

    "Die Verachtung für die Herrschaft des Gesetzes hat in der politischen Praxis und in der geistigen Kultur der USA tiefe Wurzeln geschlagen."

    Und weiter:

    "Es gilt das Prinzip, dass eine internationale Organisation den Interessen der us-amerikanischen Politik dienen muss, wenn sie auf längere Sicht überleben will."

    Wer, fragt Chomsky, ist also der eigentliche und legitime "Schurkenstaat"? Die Frage ist selbstverständlich rhetorisch, denn nach der Lektüre des Buches dürfte auch dem Begriffsstutzigsten klar sein, wer gemeint ist. An einer Fülle historischer Beispiele - etwa am Fall des indonesischen Diktators Suharto, der mit us-amerikanischer Billigung und Unterstützung Hunderttausende von Menschen abschlachten ließ, die sich gegen Repression und Ausbeutung organisiert hatten und die deshalb als "Kommunisten" galten, demonstriert der us-amerikanische Gelehrte, mit welcher Willkür die USA, ob republikanisch oder demokratisch regiert, in den vergangenen Jahrzehnten jeweils gerade das für rechtens erklärt haben, was im Interesse der eigenen Außen- und Sicherheitspolitik, des weltweiten Zugriffs auf ökonomische und strategische Ressourcen und der Kontrolle von Schlüsselmärkten lag. Auch der inzwischen zum "Schurken" erklärte Massenmörder Saddam Hussein erfreute sich so lange der Zuwendung der Vereinigten Staaten, wie er in deren politisches Konzept passte, etwa im Fall von Saddams Krieg gegen den "Schurkenstaat" Iran.

    Chomskys Buch, gerade in seiner pedantischen Quellen- und Detailnähe, bildet das dringend notwendige Korrektiv zu einem propagandistischen Bild der USA, das uns die westliche Führungsmacht im wesentlichen als eine heile und gerechte Welt, als "God's own country", vorspiegelt. Es ist ebenso töricht wie falsch, eine solche Korrektur als Antiamerikanismus zu verteufeln.

    Vielmehr versuchte Chomsky längst vor dem 11. September, auf die nach den Anschlägen von vielen Amerikanern gestellte Frage eine realistische Antwort zu geben, warum so viele Menschen aus den globalen Armutsregionen, und beileibe nicht nur den islamischen, den USA so unverhohlen mit Ablehnung und Wut begegnen. "Wut ist der Schlüssel", schreibt Arundhati Roy - nicht der Schlüssel zur Erklärung oder gar Rechtfertigung des Terrorismus, wohl aber für den sozialen und politischen Nährboden, dem er entstammt. Chomskys Materialsammlung widerlegt das simple Gut-Böse-Weltbild von George W. Bush.

    Gewiss neigt Chomsky gelegentlich dazu, die Dinge allzu krass, allzu schwarz-weiß zu zeichnen und darüber zu vernachlässigen, dass die USA mehr sind als die Addition von "schurkenstaatlicher" Außenpolitik und kruden Wirtschaftsinteressen. Im Kern jedoch sind seine Befunde weitaus glaubwürdiger als die heuchlerischen Behauptungen von Amerika als dem "Garanten der Zivilisation". Es mag wohl sein, dass die Vereinigten Staaten nach dem Angriff auf ihr Herz ein Recht haben, sich auch militärisch zu verteidigen. Doch wenn man Chomskys Analysen folgt, erscheint das Mittel des Krieges zur Verteidigung zivilisatorischer Werte gegen den jetzt formelhaft beschworenen internationalen Terrorismus in einem weniger günstigen Licht. Die imperiale und gewalttätige Pax americana, die Chomsky anprangert, erscheint als Terror, als ‚war against people'; ihr müssen demnach dringend Fesseln durch Gesetze angelegt werden, die für alle gelten - auch für die USA.

    Hans Martin Lohmann besprach "War Against People. Menschenrechte und Schurkenstaaten" von Noam Chomsky. Es wurde von Michael Haupt übersetzt, ist im Europa Verlag erschienen, hat 160 Seiten und kostet 24,50 DM. Von Noam Chomsky ist im September im Verlag zu Klampen in Lüneburg ein weiteres Buch neu aufgelegt worden. Es heißt "Wirtschaft und Gewalt. Vom Kolonialismus zur neuen Weltordnung", hat 438 Seiten und kostet 48 DM. Auch dieses Buch ist mit einer äußerst informativen Fülle von Anmerkungen und Quellennachweisen ausgestattet.

    Ganz als wollten sie die Materialsammlungen Chomskys noch bereichern, veröffentlichten am 14. November zwei französische Autoren in Paris ein Buch, das seither einiges Aufsehen erregt hat und auf das ich an dieser Stelle hinweisen möchte. Jean-Charles Brisard und Guillaume Dasquié haben in kurzer Zeit mehr als 30.000 Exemplare ihrer Recherche über die us-amerikanische Geheimdiplomatie in Afghanistan vor dem 11. September verkauft. "La Vérité Interdite, Die verbotene Wahrheit" heißt das Buch, in dem es vor dem Hintergrund der Sicherung energiewirtschaftlicher Interessen der USA um die misslungenen Versuche geht, mit den Taliban ins Geschäft zu kommen. Vor dem 11. September waren Mord und Totschlag, die Verbrechen an den afghanischen Frauen, Säuglingssterblichkeit und religiöser Terror der Taliban Untaten, die nun den Krieg legitimieren sollen - offenbar kein Thema, das Politiker um den Schlaf gebracht hätte. "La Vérité Interdite" ist in der Edition Denoël erschienen und kostet 20 Euro.