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Noam Chomsky zum 80. Geburtstag

Noam Chomsky, der am 7. Dezember seinen 80. Geburtstag feiert, ist Linguistik-Professor am Massachusetts Institute of Technology. Auch wenn seine Untersuchungen über Grammatiken wegweisend waren, redet heute kaum noch jemand von Noam Chomsky, dem Sprachforscher. Der amerikanische Wissenschaftler wird vielmehr fast ausschließlich als politischer Autor und Redner wahrgenommen.

Von Klaus Englert | 03.12.2008
    "Wer verstehen will, wie eine Gesellschaft funktioniert - unsere oder jede andere -, der muss herausfinden, wer die grundlegenden gesellschaftsbezogenen Entscheidungen trifft. Gesellschaftssysteme funktionieren unterschiedlich. Aber in Amerika liegen die wichtigen Entscheidungen - z. B. über Investition, Produktion, Verteilung - in der Hand eines relativ konzentrierten Netzwerks von Konzernen, Wirtschaftsverbänden und Investmentfirmen. Sie besetzen auch die hohen Regierungsposten. Sie besitzen auch die Medien. Und sie treffen zwangsläufig auch die Entscheidungen."

    Der Linguist Noam Chomsky, der am kommenden Sonntag seinen 80. Geburtstag feiert, ist heute vornehmlich als Ikone der amerikanischen Linken bekannt. Während der letzten Jahrzehnte galt er den einen als "Gewissen der Nation", den anderen als Staatsfeind. Hierzulande kennt man ihn als unermüdlichen Verfasser politischer Essays, mit denen er sich immer wieder in die nationalen und internationalen Konfliktlagen eingemischt hat. Auch sein letztes Buch "Die Verantwortlichkeit der Intellektuellen" wirkt wie ein bekenntnishaftes Manifest, das unmissverständlich Stellung bezieht zur langen Reihe amerikanischer Invasionen, zum Unilateralismus der Bush-Regierung, zur Palästinafrage, zu Formen des Widerstands und den Auswirkungen des 11. September. Der Kunstmann-Verlag, der jetzt Chomskys Sammelband veröffentlichte, würdigt im Anhang das Lebenswerk des Autors und verweist dabei auf eine Auswahlbibliographie seiner Schriften. Allein diese Bibliographie füllt mehrere Seiten, wobei die frühen sprachwissenschaftlichen Studien, mit denen der junge Linguist international reüssierte, nur einen verschwindend kleinen Raum einnehmen. "Syntactic Structures" heißt das Werk, mit dem der 29-jährige Noam Chomsky Ende der fünfziger Jahre die Linguistik revolutionierte, die sich damals noch am herrschenden Behaviourismus orientierte. Während die amerikanischen Verhaltensforscher zuvor noch davon ausgingen, dass menschliche Sprache durch Konditionierung, durch Nachahmung erworben wird, ebnete der junge Wissenschaftler am Massachusetts Institute of Technology - dem berühmten MIT - den Weg in die Kognitionswissenschaft: Chomsky untersuchte nicht die Äußerungen einzelner Sprecher, sondern die Tiefenstruktur der Sprache, sozusagen die Bausteine, mit denen wir sinnvolle Sätze konstruieren. Chomsky befand, dass die zugrunde liegenden sprachlichen Gesetze unverrückbar sind, obgleich er gleichzeitig einräumen musste: Die konkrete Sprechpraxis jedes einzelnen ist niemals vorhersehbar. Aus dieser Erkenntnis folgerte der MIT-Forscher eine offenbar universell geltende Gesetzmäßigkeit: Der Sprecher kann mit einem begrenzten Instrumentarium grammatischer Regeln und einem endlichen Wortschatz eine unbegrenzte Menge von Sätzen bilden. Ja sogar Sätze, die noch niemals ausgesprochen wurden.

    Es gehört zu den ungelösten Widersprüchen von Noam Chomskys "Die Verantwortlichkeiten der Intellektuellen", dass sein theoretisches Interesse an regelgeleitetem Sprechen in keinerlei Verhältnis zu seinem immer wieder propagierten Anarchismus steht. Dieser Widerspruch fällt sofort ins Auge. So steht Chomskys Einleitung zu Daniel Guérins "Anarchismus"-Studie neben einem Vortrag, der sich mit der formalen Struktur der Grammatik auseinandersetzt. Der amerikanische Sprachforscher erläutert dazu:

    "Wenn wir wirklich unbeschriebene Blätter wären und nur von unseren Erfahrungen abhängig, wären wir armselige Kreaturen. Die nahe liegende Hypothese ist also, dass unsere Sprache das Ergebnis eines sich entfaltenden, genetisch bestimmten Programms ist. Zweifellos gibt es unterschiedliche Sprachen, aber die Unterschiede sind rein oberflächlich. Sicher ist, dass Menschen nicht genetisch programmiert sind, die eine oder andere Sprache zu lernen. Wenn ein japanisches Baby in Boston aufwächst, spricht es Boston-Englisch. Und wenn mein Kind in Japan aufwächst, spricht es japanisch. Daraus folgt ganz einfach, dass die Grundstruktur aller Sprachen die gleiche ist. Unsere Aufgabe als Wissenschaftler ist es, genau festzustellen, welche die Grundbedingungen und die Begleitumstände der Sprachentwicklung sind."

    Chomskys Annahme, die Grundstruktur aller Sprachen sei überall gleich, wird heute von den meisten Linguisten bestritten. Während beispielsweise seine französischen Kollegen das Denken in Strukturen seit den späten sechziger Jahren verabschiedeten, unterteilt der Amerikaner die Sprache noch heute in abstrakte, klassifikatorische Elemente.

    Doch heute redet kaum noch jemand ernsthaft von Noam Chomskys generativer Transformationsgrammatik. Nein, der amerikanische Wissenschaftler wird fast ausschließlich als politischer Autor und Redner wahrgenommen. Im aufgewühlten Jahr 1967, als die französischen Linguisten allmählich bemerkten, dass Sprache keineswegs auf ein Ordnungssystem zurückführbar ist, hatte auch Chomsky sein Initialerlebnis. Damals marschierten in Washington Hunderttausende zum Pentagon, um ihre Missbilligung des Vietnamkriegs kundzutun. Unter dem Eindruck der Massendemonstration schrieb Chomsky damals den Essay "Über den Widerstand". In dieser Zeit wandelte sich der MIT-Wissenschaftler zum politischen Aktivisten:

    "I am Norman Chomsky and I am a faculty of the MIT and I am getting more and more heavily involved in the war activities for the last few years"

    Während der Demonstration wurde Noam Chomsky verhaftet und landete, zusammen mit dem Schriftsteller Norman Mailer, in einer Gefängniszelle. Noch heute verkörpert Chomsky das moralische Gewissen des demokratischen Amerika. Und so schreibt er am Ende seines Buches "Die Verantwortlichkeit des Intellektuellen", sozusagen als Testament für die nachfolgende Generation:

    "Wie in der Vergangenheit ist auch heute tagtägliches Engagement nötig, um die Basis für eine funktionierende demokratische Kultur zu schaffen, (...), in der die Öffentlichkeit mitreden kann, nicht nur in der Politik, von der sie weitgehend ausgeschlossen wird, sondern auch - noch entscheidender - in der Wirtschaft, von der sie prinzipiell ausgeschlossen wird. Es gibt viele Wege, die Demokratie im eigenen Land zu fördern und ihre Dimensionen zu eröffnen. Die Gelegenheiten sind zahlreich, und sie nicht zu ergreifen, bedeutet, negative Folgen in Kauf zu nehmen - für das Land, für die Welt und für künftige Generationen". "

    Noam Chomsky, Kind orthodoxer Juden, die aus Osteuropa geflohen waren, wuchs in einem Milieu gesellschaftlicher Spannungen auf. Geprägt wurde er durch die Arbeiterviertel Philadelphias, wo irische und deutsche Katholiken für eine stark antisemitische Atmosphäre verantwortlich waren. Den Geist des Widerspruchs, den der junge Noam früh lernte, hat der fast 80-Jährige lebendig gehalten. So sprach Chomsky noch vor wenigen Jahren auf dem Sozialforum der Globalisierungsgegner in Porto Alegre. Regelmäßig nimmt er an Kundgebungen der internationalen Friedensbewegung teil. Kürzlich gestand er ein, er hoffe, diese Veranstaltungen würden eine ähnliche Initialwirkung haben wie einst die Massendemonstration vor dem Pentagon. Und er hoffe, dem Aufkeimen einer neuen, wirklichen Internationalen beigewohnt zu haben. Heute sieht sich der unverbesserliche Romantiker Noam Chomsky nicht mehr als Vordenker der Globalisierungsgegner. Aber einen Rat hält er für sie dennoch bereit:

    " "Was ich von ihnen erwarte, ist genau das, was sie repräsentieren: Dass sie versuchen sollten, die Welt zu verstehen und in Überseinstimmung mit ihren guten Impulsen handeln und dass sie versuchen sollten, eine bessere Welt zu schaffen. Und viele bemühen sich auch. Ich verhelfe den Leuten einfach zu einem Weg der intellektuellen Selbstverteidigung."

    Noam Chomsky, Die Verantwortlichkeit der Intellektuellen. Zentrale Schriften zur Politik, Antje Kunstmann Verlag, München 2008, 462 S., 24,90 Euro.