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Noch eine Reform?

Die Schule in Frankreich versteht sich als Schule der Republik: Sie soll die Werte Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit garantieren. Allerdings kritisieren inzwischen viele, dass die französischen Ganztagsschulen nicht mehr das gewünschte Mindestmaß an Bildung vermitteln.

Von Suzanne Krause | 22.10.2010
    Mitten in der Französisch-Stunde erhält die Klasse 6/6 unerwarteten Besuch von William Marois. Der Direktor der regionalen Schulbehörde fragt nicht die Fabeln von La Fontaine ab, sondern möchte von den 19 Schülern wissen, wie die neue Unterrichtsverteilung bei ihnen ankommt. Denn nachmittags pauken sie nicht mehr Mathematik oder Chemie, sondern machen Sport. Die 11-Jährigen finden das prima:

    "Wir fangen zwar morgens sehr früh mit dem Lernen an, aber das macht nichts. Denn nachmittags beim Sport können wir dann abschalten."

    "Montags spielen wir Tennis, Dienstags ist der Schwimmkurs, Mittwochs spielen wir Federball, Donnerstags ist Leichtathletik und Freitags Boxen."

    "Seit ich weiß, dass ich nur noch vormittags arbeiten muss, kann ich mich besser konzentrieren. Nachmittags beim Sport amüsieren wir uns dann."

    Wenn sich die 6/6 Nachmittags auf dem Sportplatz austobt, steht bei der 6/5 Archäologie auf dem Stundenplan, bei der 6/4 Musik und Theater, bei der 6/3 Wissenschaft. Eine Art Programm à la carte, das auf die Vorlieben der Schüler eingeht. William Marois hakt nach:

    "Ihr seid alle freiwillig in der Klasse? - Wir mussten alle eine Bewerbung schreiben, um in die Sportklasse zu kommen. Es war gar nicht einfach, die richtigen Sätze zu finden. - Seht ihr, da habt ihr schon was für Euer Leben gelernt. Denn solche Briefe müsst ihr später noch sehr oft schreiben."

    Bakhtar Mohammed Bakir verfolgt die angeregte Unterhaltung in der Klasse: die Schulleiterin wirkt sichtlich zufrieden. Als vor zwei Jahren Staatspräsident Sarkozy anordnete, den Eltern mehr Freiheit bei der Wahl des Schuletablissements zu geben, verlor das Collége Lenain de Tillemont, als sozialer Brennpunkt verschrien, ein Drittel seiner Schüler - vor allem die Guten. Nun lockt die neue Unterrichtsverteilung, die die Mittelschule derzeit als einzige im ganzen Departement anbietet, neue Schüler an.

    "Unser Ziel ist, den Schülern beizubringen, dass sie sich mehr anstrengen. Dass sie ihre eigenen Grenzen überschreiten. Zudem testen wir, wie sich die neue Unterrichtsverteilung auf die schulischen Leistungen auswirkt. Auch die Hausaufgabenbetreuung haben wir nun in den Stundenplan integriert."

    Mit diesem Experiment mühen sich die Verantwortlichen der Mittelschule in Montreuil, dem von ganz oben verordneten Ziel näher zu kommen: von der "Schule für alle" zu einer Einrichtung zu werden, die jedem Schüler einen ordentlichen Abschluss ermöglicht. Sehr kritisch beobachtet Muriel Fitoussi die Umsetzung dieser hehren Vorgabe. 2008 schrieb die Journalistin ein Enthüllungsbuch, das landesweit für Aufsehen sorgte: Sie deckte die schleichende Privatisierung im Bereich Schulwesen auf.

    "Heutzutage entwickelt sich immer mehr ein bestimmtes Konsumverhalten. Da wird in der Schule zunehmend Rücksicht genommen, beispielsweise auf religiöse Eigenheiten der Schüler oder auch auf das Portemonnaie der Eltern. Das aber läuft dem Geist der republikanischen Schule zuwider."

    Schließlich gilt die öffentliche Schule in Frankreich traditionell als der Ort, an dem alle Gesellschaftsschichten ein und das selbe Ziel vermittelt werden soll: die republikanischen Ideale von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit. William Marois, der Leiter der regionalen Schulbehörde hingegen meint, es sei heute notwendig, auf die unterschiedlichen Bedürfnisse der Schüler Rücksicht zu nehmen.

    "Die größte Herausforderung besteht heute darin, keinen Schüler am Wegrand stehen zu lassen. Das Schulwesen neigt dazu, Schüler zu vergessen, vor allem schlechte Schüler. Wir müssen alle Initiativen ausweiten, die verhindern, dass ein Kind oder ein Jugendlicher im Unterricht das Handtuch wirft."