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Noch nicht ganz fern, nicht mehr ganz nah

Stig Dagermans Roman lässt sich vieldeutig lesen: als Endzeitroman einer agrarisch-patriarchalen Gesellschaft, als Nachkriegsbild ohne Krieg oder als beinahe versöhnliche Idylle. Als was auch immer steht er seltsam zeitlos als ein erratischer Block in der literarischen Landschaft Europas.

Von Alain Claude Sulzer | 27.07.2010
    Stig Dagerman gehört zu jenen Autoren, die trotz ihres schmalen Oeuvres in die Literaturgeschichte eingegangen sind, nicht zuletzt deshalb, weil hier mehr als eine Hoffnung zu früh begraben werden musste. Dagerman tötete sich 1954 im Alter von nur 31 Jahren in seiner Garage. Er erstickte sich mit Autoabgasen. Vorangegangen war diesem bösen Ende eine erstaunlich schnelle und steile Karriere als viel beachteter Autor und gefragter Journalist, der offenbar zunehmend fürchtete, den in ihn gesetzten Erwartungen nicht genügen zu können. Kurze Phasen geradezu manisch anmutender Schaffenskraft wechselten mit immer längeren Perioden, in denen er unter Schreibblockaden litt; finanzielle Nöte und die von Schuldgefühlen dominierte Erinnerung an seine elternlose Kindheit, in der sein geliebter Großvater von einem Geistesgestörten erstochen worden war, taten ein übriges, ihn in jene aussichtslose Situation zu manövrieren, aus der er dann – nach mehreren erfolglosen Selbstmordversuchen zuvor – nur noch den tragischen Ausweg fand.

    Es dauerte aber noch etwa zehn Jahre, bis Dagerman auch außerhalb seines Heimatlands Schweden einem größeren, auch deutschsprachigen Publikum bekannt wurde. Ab 1965 erschienen seine Romane, vor allem sein letzter, die "Schwedische Hochzeitsnacht" von 1949, in schöner Regelmäßigkeit in verschiedenen Verlagen sowohl in der Bundesrepublik als auch in der DDR, allerdings immer in derselben Übersetzung von Herbert G. Hegedo; neuerdings auch in der "Anderen Bibliothek". Inwiefern diese "heutigen" Ansprüchen genügt, vermag ich nicht zu beurteilen; sie ist und bleibt, soviel läßt sich mit Überzeugung sagen, jedenfalls gut lesbar und – was nicht von Nachteil sein muss – stilistisch jener Zeit verpflichtet, in der das Original entstand.

    Dagerman schrieb seine Romane "Die Schlange", "Die Insel der Verdammten", "Gebranntes Kind" und "Schwedische Hochzeitsnacht" zwischen 1945 und 1949, das heißt innerhalb von nur gerade vier Jahren. In "drei Jahren und elf Monaten", um genau zu sein, wie Per Olof Enquist in seinem empathischen, eigens für die deutsche Ausgabe geschriebenen Vorwort bemerkt. Danach - bis zu seinem Tod 1954 -"nichts, fünf Jahre lang. Unaufhörlich neue Projekte, die nach drei Seiten abgebrochen werden." – "Irgendwie ist mein Leben", schrieb Dagerman an eine Freundin, "in eine Sackgasse geraten, und ich weiß nicht, wie ich da herauskommen soll. Ich kann nichts mehr, nicht schreiben, nicht lachen, nicht reden, nicht lesen. Ich fühle mich außerhalb des ganzen Spiels. (..) Hätten wir doch ein Licht, uns darin zu verstecken." Er fand es in der Lichtlosigkeit der Selbstauslöschung.

    Wenig ist davon in dem formal überlegen vorgetragenen Weltentwurf "Schwedische Hochzeitsnacht" zu erkennen. Außer man läse die vielfältig sich mischenden Stimmen der zahlreichen Personen, die in diesem großen kleinen Kosmos auf die eine oder andere Weise (direkt oder indirekt) zu Wort kommen, als das untergründige Raunen einer einzigen inneren Stimme. Das wäre dann die Stimme eines Verzweifelten, der - nach allen Richtungen ausgreifend - nach jenem aussichtslosen Halt suchte, den auch eine der Figuren am Ende nicht findet: Martin, der verschmähte Bräutigam.

    Wir befinden uns auf dem Land. Dort also, wo man Ursprünglichkeit vermuten darf, Naivität, unverstelltes Leben, Gewalt etc. Tatsächlich aber ist der Weg von der Stadt hierher viel kürzer als man denkt. Im übrigen ist die von Dagerman beschriebene Welt keine realistisch ab-, eher eine konkret nachgebildete. Es kommt einem zwar alles bekannt vor, wirkt aber zugleich in hohem Masse überhöhte.

    Verlorene Seelen – nach einem Weltkrieg, der hier mit keinem Wort erwähnt wird - sind auch hier alle, die Hochzeiter, die Hochzeitsgesellschaft und die Daheimgebliebenen, lautstark Handelnde wie schweigsame Betrachter, aber irgendwie gelingt es allen außer diesem einen, sich ihren Anteil am Glück zu ergattern, egal wie armselig dieser Anteil sei; bescheiden ist er in jedem Fall. Martin, der im Roman den kürzesten – und konsequenterweise den dramatischsten - Auftritt hat, erhängt sich nach der letzten, kurzen Begegnung mit der aussichtslos Geliebten, in einer Scheune. Er sucht die Einsamkeit, die alle anderen bei Dagerman zu fliehen scheinen. Der Tod – bis dahin nur verbal heraufbeschworen und herbeigeredet - hält hiermit endlich Einzug. Ein sinnloser Tod, der hätte vermieden werden können. Aber von wem außer dem Verursacher selbst?

    Das Vorurteil, nur Frauen würden in Romanen Tränen vergießen - und vorzugsweise solche, die von weiblichen Autorinnen erfunden wurden -, wird hier gründlich widerlegt. Tatsächlich kenne ich kein zweites Buch, in dem so ausgiebig geweint wird wie in dieser "Schwedischen Hochzeitsnacht". Der Kelch der Tränen geht auch an den Männern nicht vorüber; nicht einmal an Hildurs ältlichem Bräutigam, dem trinkfesten Witwer Westlund, den die junge Braut bei Anbruch des Tages nicht liebte, am Abend aber beinahe mit Freuden in ihre Arme schließt. "Man nimmt, was man hat." Sie wiederholt diese pragmatischen Worte so oft und so lange, bis sie einem fast rätselhaft erscheinen, und um so rätselhafter, als sie am Ende auf alle möglichen Beziehungen angewendet werden können.

    Polyphon, von vielen Warten aus, wird hier für einmal eine Geschichte erzählt, die für die meisten versöhnlicher endet als sie begonnen hat. Den armen Martin ausgenommen, der sich nicht mit seiner hoffnungslosen Situation zufriedengeben geben wollte, sondern nach der verlangte, die ihm nicht zugestanden werden kann. Er hätte es eigentlich wissen müssen.

    Es gibt viele Personen in diesem Roman (und man wünschte sich ein Personenverzeichnis, mit dem sie sich leichter auseinander halten ließen), aber es spielt keine Rolle, wenn man die eine mal mit einer anderen verwechselt. Das Beziehungsgeflecht mag einem hin und wieder entgleiten, den roten Faden verliert man nicht: Tag und Nacht, 24 Stunden im Leben der Bewohner von Fuxe, ziehen an uns vorüber, im Zentrum die Hochzeit des ungleichen Paars. Für einige von ihnen wird dieser Tag (wie sie wissen, fürchten oder hoffen) Veränderungen mit sich bringen, mit denen fertig zu werden nicht immer einfach ist. Doch es gelingt allen – außer Martin. Das ist gewissermaßen der Trost, den Dagerman schicksalsergeben spendet. Während einer untergehen muss, überleben die anderen, so wie sie ihn überlebten, Sven Dagerman.

    Es scheint also, als sei der junge Autor seinen Personen gegenüber weitaus versöhnlicher gestimmt gewesen als sich selbst. Stig Dagermans Roman läßt sich vieldeutig lesen: als Endzeitroman einer agrarisch-patriarchalen Gesellschaft, als Nachkriegsbild ohne Krieg oder als beinahe versöhnliche Idylle. Als was auch immer steht er seltsam zeitlos als ein erratischer Block in der literarischen Landschaft Europas. Noch nicht ganz fern, nicht mehr ganz nah. Ein Schaustück in einem Museum, in dem wir uns - nicht ohne Widerwillen - selbst erkennen können. Oder die, die uns vorangegangen sind.

    Stig Dagerman. Schwedische Hochzeitsnacht. Roman. Aus dem Schwedischen von Herbert G. Hegedo. Mit einem Vorwort von Per Olof Enquist. Die Andere Bibliothek. Eichborn 2010