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Noch sitzt kein Polizist im Gefängnis

Am 20. Juli 2001 erschoss ein 20-jähriger italienischer Carabiniere während der Ausschreitungen beim G8-Gipfel in Genua den Demonstranten Carlo Giuliani. Der Gewaltexzess in der Hafenstadt ist heute in Italien kein Thema mehr, obwohl noch immer Urteile ausstehen.

Von Kirstin Hausen | 20.07.2011
    "Ich habe gesehen, wie sich der Carabiniere in dem Jeep umgedreht hat. Ich sah sein schwarzes Haar und ich sah, wie er seine Pistole hob."

    Der Carabiniere Mario Placanica bestreitet später, als Einziger geschossen zu haben. Er war mit Kollegen in einem nicht gepanzerten Jeep von Demonstranten umzingelt worden und in Panik geraten. Notwehr, entscheidet eine Richterin zwei Jahre später und legt den Fall zu den Akten. Giuliano Giuliani, der Vater des getöteten Demonstranten, gibt daraufhin selbst die Rekonstruktion der Ereignisse in Auftrag.

    "Um festzustellen, wie das passieren konnte, nicht, weil wir nach Rache dürsten. Wir streben nach Vergebung, aber wir wollen wissen, wer für Carlos Tod die Verantwortung trägt und zwar auch die politische Verantwortung. Deshalb wollten wir einen Prozess."

    Doch ein Prozess gegen den Carabiniere kam nicht zustande. Bis heute ist nicht abschließend geklärt, ob Carlo Giuliano gezielt erschossen wurde, oder ob ein Stein das in die Luft geschossene Projektil umlenkte. Dagegen wurden Strafverfahren gegen gewalttätige Demonstranten eingeleitet sowie gegen Polizisten und Carabinieri, die unverhältnismäßig brutal vorgegangen waren. Beispielsweise bei der Räumung eines Sit-Ins friedlicher Demonstranten, die der Journalist Mario Portanuova beobachtet hat, während nur zwei Straßen weiter vermummte Randalierer Autos angezündet und Bankautomaten zertrümmert haben:

    "In vielen Fällen haben sie sich auf friedliche Demonstranten gestürzt statt auf die Gewalttäter. Und auch Journalisten sind verprügelt worden, obwohl wir alle einen Aufkleber trugen, der uns klar als Journalisten auswies."

    Die Polizei hat in Genua Hunderte Demonstranten verhaftet und in die Kaserne von Bolzaneto außerhalb der Stadt gebracht. Bolzaneto wurde zu einer Gefangenensammelstelle. Und zu einem rechtsfreien Raum. Die Festgenommenen mussten sich ausziehen und stundenlang mit erhobenen Armen mit dem Gesicht zur Wand zu stehen. Sie durften nicht schlafen und nicht zur Toilette gehen.

    "Die festgenommenen jungen Frauen wurden außerdem als Huren beschimpft, Polizisten sangen faschistische Lieder. In Bolzaneto hat sich eine widerwärtige Gewalt- und Machtorgie abgespielt."

    Sieben Jahre später werden 15 der 44 beteiligten Polizisten zu Haftstrafen verurteilt. Das Berufungsgericht spricht dann zwei Jahre später alle Angeklagten schuldig. "Das, was in Bolzaneto geschah, ist eine Schande für jeden Vertreter der Staatsgewalt" schreiben die Richter in ihrer Urteilsbegründung. Im Gefängnis sitzt jedoch kein einziger der Verurteilten. Denn sie haben das Kassationsgericht in Rom angerufen und dessen Urteil steht noch aus.

    "Jeder, der bei dieser Art von Folter und Misshandlungen mitgemacht hat, muss aus dem Polizeidienst entlassen werden."

    Sagt der Vorsitzende der italienischen Polizistenvereinigung. Aber das ist nicht geschehen. Und auch die Carabinieri und Polizisten, die am letzten Tag des G8-Gipfels ein Übernachtungslager von Demonstranten stürmten und 63 Menschen teilweise schwer verletzten, wurden nicht vom Dienst suspendiert. Die Polizei rechtfertigte die Brutalität des Einsatzes damals mithilfe gefälschter Beweismittel. Angeblich sichergestellte Molotowcocktails hatten die Polizisten selbst mitgebracht, und der Messerangriff durch einen Demonstranten, den ein Beamter zu Protokoll gab, war schlicht erlogen. Die Gerichte haben das inzwischen zweifelsfrei festgestellt, aber Konsequenzen sind ausgeblieben. Der Polizeieinsatz von Genua vor zehn Jahren ist in Italien kein gesellschaftlich relevantes Thema mehr, wie diese beiden Frauen auf dem Weg zur Arbeit sagen:

    "Wie immer in Italien wurde erst viel geredet und dann interessiert es plötzlich keinen mehr."

    "Das verläuft alles im Sande, dabei waren das damals Szenen wie in Argentinien."