Sonntag, 14. April 2024

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Noel Gallagher wagt musikalischen Neuanfang
Sex, Drugs & Gartenscheren

Oasis war Aushängeschild des "Brit-Pop" - und ihr Chef hieß Noel Gallagher. Nach 70 Millionen verkauften Alben und Disputen mit Bruder Liam ließ Noel als Solokünstler das Gewesene hinter sich. Warum es heute keine Rockstars mehr gibt und ihm grandioser Misserfolg genauso lieb ist wie Erfolg, erzählt er im Dlf.

Noel Gallagher im Corsogespräch mit Marcel Anders | 18.11.2017
    Noel Gallagher von der britischen Band High Flying Birds bei einem Konzert in München 2016
    Noel Gallagher startet mit seinem neuen Album die "Phase Zwei" seiner Karriere (dpa / Sven Hoppe)
    Die moderne Rockmusik, so sagt Noel Gallagher, sei eine Farce - genau wie ihre Protagonisten: langhaarige, tätowierte Schulabbrecher mit viel Attitüde, aber wenig Hirn. Dass es auch anders geht, unterstreicht der ehemalige Oasis-Chef mit seinem dritten Solo-Album "The Man Who Built The Moon", das am kommenden Freitag erscheint und im Corsogespräch mit Marcel Anders.
    Marcel Anders: Herr Gallagher, es gibt dieses berühmte Zitat von Ihnen: "Wer nie einen Fernseher aus dem Fenster geworfen hat, weiß nicht, wie viel Spaß das macht." Ist das noch aktuell?
    Noel Gallagher: Ich habe keine Ahnung, warum ich das gesagt habe. Denn ich glaube nicht, dass ich das je getan habe. Ich mag Fernseher viel zu sehr, um mich auf die Art von ihnen zu trennen. Ich meine, ich habe Kollegen dabei beobachtet - und fand es lächerlich. Nach dem Motto: "Was für eine Energieverschwendung! So uncool!"
    Rockmusiker heute: "Schlechtes Haar und schlimme Schuhe"
    Anders: Aber ist das nicht, was Rockstars machen?
    Gallagher: Es gibt keine Rockstars mehr, schon gar nicht in England. Bei dem, was sich heute Rockstar schimpft, muss man aufpassen, dass man nicht laut loslacht. Dagegen hat man bei den Rockstars, mit denen ich aufgewachsen bin, wirklich gedacht: "Wow, was sind denn das für Typen?" David Bowie, Keith Richards, John Lydon - die waren irre. Die heutigen Rockmusiker sind entweder bescheuert und weit über 40 - oder sie schreiben nicht einmal ihre eigene Musik und haben schlichtweg nichts zu sagen. Außerdem haben sie schlechtes Haar und schlimme Schuhe.
    Anders: Dann ist da niemand mehr, zu dem es sich aufzublicken lohnt? Der ein gutes Idol abgeben würde?
    Gallagher: Nur die, zu denen ich immer aufgesehen habe - wie Morrissey, Paul Weller, Johnny Marr, Paul McCartney oder U2. Dieselben Jungs, die ich schon immer mochte. Und mein Respekt für sie ist über die Jahre noch gewachsen. Nur: Da ist niemand hinzugekommen.
    Anders: Woran liegt es? Ist es fehlender Geltungsdrang? Oder die Angst, sich nicht politisch korrekt zu verhalten?
    Gallagher: Es gibt zwei simple fundamentale Gründe für diese Entwicklung: Ende der 90er haben die Plattenfirmen aufgehört, für ihre Künstler zu arbeiten. Sie haben den Spieß umgedreht und dafür gesorgt, dass die Bands nur noch für sie schuften. Heute sind die meisten Künstler so verdammt glücklich, überhaupt noch einen Plattenvertrag zu haben, dass sie alles dafür tun - und sich komplett verbiegen lassen. Als wir mit Oasis anfingen, war es eher so: "Wir tun euch einen verdammten Gefallen, dass wir bei eurem Label anheuern. Und nicht anders." Es ist ein dreckiges Geschäft, Mann! Doch es funktioniert, solange es Menschen gibt, die verzweifelt nach Ruhm streben. Als ich anfing, wollte ich nicht berühmt sein, sondern reich. Das war alles, was mich interessierte. Ruhm ist okay, er stört mich nicht - aber er war nie die treibende Kraft.
    "Ich gehe lieber mit einem großen Knall"
    Anders: Was ist mit dem Rockstar Noel Gallagher? Existiert der noch?
    Gallagher: Ich habe mich nie für einen Rockstar gehalten. Kann sein, dass ich das technisch gesehen bin. Aber dieser Tage bewege ich mich eher außerhalb des Musikgeschäfts. Als ich Oasis verlassen habe, wollte ich keinen Plattenvertrag mehr. Und den habe ich bis heute nicht, weil ich meine Karriere lieber so handhabe, wie ich es will. Würde ich zum Beispiel bei Universal unter Vertrag stehen, hieße es garantiert: "Was zum Teufel machst du da? Wir wollen Platten, die wie Noel Gallagher klingen. Und das ist es auch, was die Leute wollen. Das wissen wir, weil wir durch die sozialen Medien Kontakt zu ihnen haben." Da spiele ich nicht mit. Ich glaube an künstlerische Freiheit und freien Ausdruck - was immer das ist.
    Anders: Bedauern Sie manchmal, was Sie in der Vergangenheit gesagt haben?
    Gallagher: Nur ein paar Dinge, mit denen ich einigen Kollegen vielleicht ein bisschen zu nahe getreten bin. Aber die künstlerischen Entscheidungen, die ich getroffen habe, habe ich nie bedauert. Und wenn sich dieses Album als Flop erweist, ist es zumindest ein spektakulärer Flop. Sprich: Ich will entweder riesigen Erfolg oder spektakulären Misserfolg. Ich meine, wenn du eine Rakete baust, was ist spannender: Dass sie in Flammen aufgeht oder schon auf der Abschussrampe umkippt? Da will ich eher, dass sie in Flammen aufgeht. Denn dann könnte ich zumindest sagen: "Wow! Schaut euch das an" (lacht). Ich gehe lieber mit einem großen Knall.
    Bruderzwist mit Liam
    Anders: Was ist mit Ihrem Bruder Liam? Haben Sie sein Solo-Album gehört oder seine Interviews verfolgt?
    Gallagher: Nein.

    Anders: Er hat seine Pressetermine genutzt, um eine Entschuldigung von Ihnen zu fordern - dafür, dass Sie ihn bei der Trennung von Oasis im sprichwörtlichen Regen stehen lassen haben.
    Gallagher: Er scheint mir immer noch böse zu sein. Auch, wenn ich das nicht nachvollziehen kann. Und es ist mir egal. Oasis ist vergessen und vorbei. Wenn er das anders sieht, ist das sein Problem. Ich meine, worüber sollte er auch sonst reden? Wie er sein neues Album geschrieben hat? Mann, da hat er nicht einen Ton zu verantworten. Insofern wünsche ich ihm alles Gute. Zumindest solange er am Ende seiner Konzerte die Gema-Formulare ausfüllt. Und was Liams anhaltenden Nonsens über den Abend in Paris betrifft, an dem wir uns getrennt haben: Chris und Gem waren dabei. Und sie spielen jetzt wieder mit mir. Sie sind Mitglieder der High Flying Birds. Muss ich noch mehr sagen? Vielleicht ist es genau das, worüber er wütend ist.
    Liam (l.) und Noel Gallagher von der britischen Rockband Oasis bei einer Pressekonferenz 1999 in London, wo sie bekanntgaben, dass Bassist Paul "Guigsy" McGuigan angekündigt habe, die Band zu verlassen.
    Die einst in Oasis vereinten Brüder Liam und Noel Gallagher liegen seit Jahren im Streit (picture-alliance / dpa / epa PA Fiona Hanson)
    "Zeit für einen Neuanfang"
    Anders: Ihr Album "The Man Who Built The Moon" hat etwas von einer musikalischen Neuerfindung - mit einem Hybrid aus Electronica und Rock. Brauchten Sie eine Veränderung? Einen Tapetenwechsel?
    Gallagher: Es war mir nicht bewusst, aber nach der "Chasing Yesterday"-Tour hatte ich das Gefühl, das Ende der Fahnenstange erreicht zu haben. Nach dem Motto: Ich habe diese Sache, die ich 1993 gestartet habe, so weit ausgereizt, wie es nur geht. Aber jetzt habe ich keine Lust mehr darauf. Und da kam mir David Holmes, mein Produzent, gerade recht. Er meinte: "Langsam wird es Zeit für einen Neuanfang - für Phase zwei". Und das ist dieses Album: Der zweite Akt. Jemand hat mir die Tür zu einer anderen Welt geöffnet, hinter der sich ein französisches Mädchen mit Umhang und Schere verbirgt (kichert).
    Anders: Wie bitte?
    Gallagher: Eigentlich sollte sie nur in meiner Band singen. Doch dann meinte ich zu ihr: "Kannst du auch Tamburin spielen?" Und darauf reagierte sie auf diese verächtliche Weise, wie es nur französische Frauen hinkriegen: "Ich spiele kein Tamburin, sondern Schere und habe das auch schon in einer Band getan." Das habe ich mir auf YouTube angesehen und war begeistert. Jetzt tut sie das auch bei mir - und dazu trägt sie einen schwarzen Umhang. Das ist völlig abgefahren.
    Anders: Haben Sie keine Angst, Ihre Fans komplett zu überfordern?
    Gallagher: Nein! Ich hatte genug Erfolg, um auch mal andere Platten zu machen - und den Leuten entgegenzutreten, die nur eine bestimmte Sache von mir erwarten. Denen sage ich: "Wisst ihr was? Ihr habt mich noch lange nicht durchschaut. Und wenn Ihr mir übel nehmt, was ich gerade tue, ist das Euer Problem." Ich folge meinem Sinn für Abenteuer, ich mache etwas, was sich momentan niemand traut. Und ich habe eine tolle Zeit.
    "Ich will Schönheit und Wahrheit"
    Anders: Haben Sie eine Erklärung für die kreative Flaute der Rockmusik?
    Gallagher: Weil sich die Künstler zu sehr nach der Meinung der Fans richten. Mit denen kommunizieren sie über soziale Netzwerke und lassen sich zu stark beeinflussen. Genau wie von dem, was ihnen die Plattenfirma diktiert. Oder Live Nation, die den Konzertmarkt kontrollieren, und ihnen vorschreiben, wo sie zu spielen haben. Da mache ich nicht mit - mich besitzt keiner. Weder, was meine Gedanken, mein Outfit, die Zusammensetzung meiner Band noch mein Programm betrifft.
    Anders: Bei allem kämpferischen Spirit: Warum klingen die Songs dann so optimistisch - wie ein Gegenpol zur aktuellen Rockmusik?
    Gallagher: Wenn man sich vor Augen führt, was heute in der Rockmusik passiert, dann ist dieses Gefühl von Spaß und Zuversicht geradezu revolutionär. Ich meine, es ist so einfach, zur Gitarre zu greifen und über das zu singen, was in den Nachrichten läuft. Trotzdem halten Kritiker das für intelligente, tiefgründige Musik. Dabei ist sie einfach langweilig! Wenn ich wissen will, was in der Welt passiert, schalte ich den Fernseher ein - aber dafür höre ich keine Musik. Wenn ich das tue, will ich Schönheit und Wahrheit.

    Anders: Und deshalb schreiben Sie lieber über Mädchen?
    Gallagher: Darum ging es schon immer: nämlich Mädchen für sich zu gewinnen, Sex zu haben, Drogen mit ihnen zu nehmen und mit ihnen zu tanzen während man auf Drogen ist. Aber bei Dave Grohl oder Green Day denke ich: Könntet Ihr bitte aufhören zu schreien und zu jammern? Das gilt für all diese amerikanischen Typen, die vollkommen identisch angezogen sind, Tattoos haben, Ohrringe tragen und sich die Haare färben. Das hat nichts mit Rock'n'Roll zu tun - das ist einfach schlimm. Deswegen habe ich ein Album in dieser Manier gemacht - und dazu brauche ich weder Lederjacken noch wildes Gebrüll. Rock'n'Roll hat mit Freiheit zu tun, was das Denken und den Ausdruck betrifft.
    Anders: Was erwartet uns auf Ihrer kommenden Tournee? Und noch wichtiger: Wird die Scheren-Spielerin auch dabei sein?
    Gallagher: Sie ist definitiv dabei - auch als Sängerin und Keyboarderin. Ich denke, die Konzerte werden diesmal ein bisschen länger ausfallen, weil ich so viel Material habe - nämlich drei Solo-Alben. Wenn ich fünf Stücke aus jedem spiele, bin ich schon bei 15. Und ich bin ja geradezu verpflichtet, noch ein halbes Dutzend Oasis-Songs zu bringen. Dann sind wir bei über 20. Von daher werden das lange Konzerte. Jetzt nicht im Sinne von Bruce Springsteen, aber fast zwei Stunden. Und wenn wir im April zu Euch kommen, werden wir unglaublich gut sein. Wir tragen dann die Hüte von Zauberern und spielen alles mit Gartenscheren!
    Noel Gallagher ist mit seiner Band High Flying Birds bei insgesamt fünf Deutschland-Konzerten im Frühjahr 2018 zu bewundern. Sein neues Album "The Man Who Built The Moon" erscheint am 24.11.2017.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.