Donnerstag, 18. April 2024

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Norbert Niemann: Wie man´s nimmt

Es geht also doch nicht. Die bundesdeutsche Generation, die mit Pop-Mythen aufwuchs, die im Studium lernte, daß der Mensch eine Erfindung von Institutionen sei und die skeptisch und fasziniert zugleich die eigenen Leidenschaften und Revolten als schillernde Oberflächeneffekte genoß, diese Generation findet nicht zur Romanform zurück. Selbst wenn sie sich wieder politisch versteht, wenn sie den Konsum geißelt und die Beschwörung des Scheins und der Simulation nur mehr degoutant findet, mißtraut sie den fiktiven Setzungen des Romans zutiefst. Die Schriftsteller dieser in den sechziger Jahren geborenen Generation sind klug, belesen und beredt, und bevor sie von einer ihrer Figuren etwas Besonderes behaupten, machen sie aus ihr lieber einen Kleiderständer aus Moden und Ideologien, Welt- und Fernsehbildern, Jargons und Diskursen. Und wenn diese Schriftsteller solch reflektierte Köpfe sind wie Norbert Niemann, decken sie dieses Verfahren auch noch minutiös und umständlich auf, damit auch ja nicht der Eindruck von Naivität, Unmittelbarkeit und Authentizität entsteht. Nichts wäre fataler. Kein Sinn, keine Geschichte, keine Tradition dürfen die Figuren stützen, aber sich einfach im Nächstliegenden verstricken dürfen sie sich deswegen noch lange nicht. Das macht den Unterschied zwischen Ingo Schulze und Norbert Niemann. Schulze läßt seine deklassierten und aus jedem geistigen und gesellschaftlichen Horizont entlassenen Provinzhelden im konkreten Alltag ums Überleben kämpfen, Niemann läßt seine provinziellen Aufsteiger und Underdogs in einem üppigen intellektuellen Feld schwelgen: kein Funken Sinn, doch tausend Erklärungen, warum nicht. Schulze schneidet jede Erläuterung aus seinem Erzähltext hinaus, bis dieser karg, kalt und kantig im leeren Raum steht, Niemann stopft seine Erzähltext mit Erläuterungen voll, bis die Figuren, die Handlung, der ganze Text daran erstickt. Vielleicht ist dies der ganze Unterscheid: Ob die Leere aus dem Mangel, oder ob er aus der Fülle kommt - und mit Leere und Fülle ist durchaus auch der soziale Standard gemeint, das Gefälle zwischen Ost und West.

Hubert Winkels | 22.03.1998
    In einem niederbayrischen Provinzstädtchen verknoten sich die Lebensläufe von fünf scheinbar sehr verschiedenen Personen. Peter Schönlein führt mit seiner Frau Christa und ihren zwei kleinen Kindern ein materiell gut abgesichertes und lifestylemäßig durchgeformtes Familienleben, hat aber den unstillbaren Drang nach Niedrigerem. Er will raus aus der Konstruktion der idealen Lebenspraxis. Lisa, eine etwas verschlampte Discogängerin, nimmt Schönlein wie er kommt, kriegt ein Kind von ihm und will ansonsten das Gegenteil: Normalität, auch wenn sie billig aussieht. Mattias Boker ist ein sozial heruntergekommener, aber intellektuell durchaus überheblicher VHS-Dozent aus Hannover, der im bayrischen Städtchen Urlaub macht, die Schönleins bewundert, nach deren Trennung von Christa mit Wucht und Tränen verführt wird und sich schließlich mit Lisa und ihrem Kind zusammentut, um eine unvollkommene Familie zu spielen. Boker, der sich als Wiedergeburt des späten Lessing versteht, in jener Mischung aus aufklärerischer Hellsicht und Verzweiflung über den Lauf der Welt, ist dem Erzähler von allen Gestalten die nächste. Schließlich geistert da noch der immer abwesende Künstler und Trinker, der radikale Karl Kreiner durch die Biographien der anderen. Und wie jeder Abwesende tut er die größte Wirkung, ranken sich um ihn doch die Spekulationen und Projektionen. Es gibt einige Begegnungen zwischen diesen Figuren, die durchaus ihren Reiz haben: Wenn Lisa Schönlein empfängt, wenn sich Christa mit den Kindern am Bahnhof verabschiedet, wenn Christa Boker verführt und wenige mehr, aber immer sucht Norbert Niemann den schnellsten Weg, um aus der Balance zu geraten. Kaum ist ein szenisches Tableau auch nur entworfen, setzt er alle Sprachgewalt (und die ist durchaus nicht gering) daran, mittels Selbstbefragung und Situationserklärungen der Figuren die Imagination kippen zu lassen. Der Wille zum Wissen ist übermächtig, also die Frage: Was steckt dahinter? Und wer zieht die Fäden? Es mutet an wie bei einem Marionettenspiel, wo der Regisseur der Überzeugung folgt, die Figuren störten nur, es käme auf die Fäden und deren Bewegung alleine an.

    Norbert Niemann hat mit seinem ersten Roman "Wie man´s nimmt" ein geradezu paradigmatisches Beispiel dafür geliefert, welche ideologischen Impulse im zeitgenössischen kulturellen Diskurs wirksam sind, und wie sie sich nicht in erzählende Literatur ummünzen lassen. Dies aber mit einer solchen Verve, mit solcher inhaltlicher und formaler Konsequenz, daß man ihm den Respekt für diese Leistung nicht verweigern kann. Zunächst hat Niemann jede Strategie der Bejahung postmoderner Lebensverhältnisse, auch die zynische, hinter sich gelassen und aus der sanften Sphäre des Waren- und Medienkonsums mit ihren schlauen Lockungen und versteckten Imperativen einen unüberwindlichen anonymen Apparat der Lebensformatierung gemacht, der einer Vernichtungsmaschine gleichkommt. Diesen Apparat hat er im Hintergrund seines Romans aufgebaut, und dann erst hat er seine fünf Personen vorne an die Rampe geschickt. Diese müssen nun aktive menschliche Romanfiguren spielen, sind aber als passive, als gespielte Figuren immer schon erkannt. Ein Dilemma. Denn diese Fünf lieben und hauen sich, bauen Häuser und reißen welche ab, kriegen Kinder und hegen Mordgelüste gegeneinander wie nur je ein Romanpersonal, aber all dies darf nicht auf herkömmlichen Weg psychologisch oder sozial motiviert sein. Sie müssen von außen gesteuert handeln, sie müssen an den künstlichen Bildern, die die Welt bedeuten, kleben, müssen mit diesen Bildern von Anfang an identisch sein.

    Kein kleiner Vorsatz, ein intimes Grüppchen von Leuten ohne Ich-Substanz, nur als Träger eines medialen Unbewußten vierhundert Seiten lang intim miteinander kommunizieren zu lassen. Zu diesem Zweck werden alle konventionellen Teile bürgerlicher psychischer Konstruktion aufgefahren und zugleich dementiert durch die immer wieder behauptete Außensteuerung durch Medien. Eine romanhafte Variante der Dekonstruktion kann man darin sehen. Doch allzu eindeutig und geheimnislos führt der Weg von außen nach innen. Und das auf jeder Seite. Ich habe Maschinen konstruiert, Maschinen, die wie Menschen aussehen, sagt uns Norbert Niemann unentwegt. Entschuldigung, daß ich den romanhaften Eindruck von privaten Erfahrungsträgern hervorrufe, in Wirklichkeit rufe ich nur Fernseh- und Filmeffekte hervor. Weh dem, der Menschen sieht! - "Schönlein als Film" sollte der Roman denn auch ursprünglich heißen.

    Peter Schönlein führt ein schönes Leben. Der erfolgreiche Restaurator sonnt sich in der Illusion, gegen alle kulturkritischen Einwände ein perfektes Leben zu führen. Man hat Geld, Geschmack, Kinder und Verstand, und man weiß, daß es das alles nicht geben darf, weil diese Gesellschaft die Standards, nach denen man Glück und gelungenes Leben definiert, retortenmäßig produziert, um die Energien des Lebendigen zu binden, zu verwalten und einzuspeisen in die abstrakte Maschine, die sie nun einmal ist. Dies zu wissen und es trotzdem zu genießen, das ist die Lebenskunst der Schönleins, die uns aber leider nicht einfach erzählt wird, sondern erst nachdem wir erfahren haben, wie dieser Traum zerbrochen ist. Schönlein nämlich zieht es sogleich hin zu Abfall und Schmutz, zu Gemeinheit und Gewalt, Zerfall und Häßlichkeit. Damit wir das Dilemma nicht zu spät bemerken, bekommen wir es buchstäblich plakativ und parabelhaft, wie so vieles im Roman, vorangestellt. Ganz am Anfang des Romans wird uns Schönlein durch ein vielsagendes Bild charakterisiert: ein kaputtes, verrottendes Haus und ein Fuß Schönleins, der dabei ist, diese Domäne der Auflösung und des Verschwindens zu betreten. Wer hier noch zögert, dem hilft Niemann mit dem Begriff Entropie weiter. Für die weniger begrifflich operierenden Leser fährt er ein dickes Konvolut von Kennzeichnungen auf, wie "Korrosionen", "Abplatzungen", "Fraßbefälle", oder adjektivisch: "schmierig", "lieblos", "schaurig" usw. für die chaotische Seite; auf der anderen Seite lauten die Markierungen jener falsch schönen und schön falschen Denk- Fühl- und Lebensweise der Schönlein-Hintereders dieser Welt: Attrappe und Kulisse, Monitor und Modell, Schein und Simulation usw.

    Der Roman beginnt mit dem Aufeinandertreffen, der Durchdringung dieser beiden Sphären. Schönlein trifft gewissermaßen Schmützchen, und er will in sie eindringen. Dieses Schmützchen heißt Lisa, ist die Lebenspartnerin eines Jugendfreundes von Schönlein, dem trinkenden Künstler Kreiner, und sie lebt in eben jenem Haus des Verfalls inmitten von ungespülten Tassen und Schweißgeruch. Schönlein dringt, von Ekel und Haß geschüttelt, in dieses Haus und diese Frau ein und verfällt stehenden Gliedes dem Verfall. Diese Episode ist die beste des ganzen Romans, und zurecht hat Norbert Niemann mit ihr den letztjährigen Ingeborg Bachmann-Preis gewonnen. Hier funktioniert die ungenaue, verschliffene Spaltung zwischen der Erzählerstimme und der inneren Rede der Figuren. Zwar sind die Charakter auch hier bereits restlos zu Chiffren einer Parabel verhärtet - Lisa muß das Verworfene so ausschließlich verkörpern wie Schönlein die aggressiv behauptete Souveränität darüber -, aber die Eindringlichkeit der Schilderung, der rhythmisierte Furor der zugleich begehrlichen wie abwehrenden Rede Schönleins und die für Augenblicke vom Bedeutungszwang entlastete atmosphärische Darstellung machen ein imposantes Stück Prosa, das im übrigen Roman nur noch selten ähnlich gelungene Seitenstücke findet.

    Das scheitert schlicht an der Erzählermanie, alles und jedes im Roman mit Erläuterung und Erklären bis zum Verschwinden zuzustellen. Auf die Idee, daß der Leser die Aufgabe der Scheidung oder Durchdringung von Realem und Imginärem gerne selbst übernehmen würde, kommt Niemann nie. Er kaut ihm mittels Figurenreflexion vor, was er denken soll, terrorisiert ihn geradezu mit der im Kern paranoiden Einsicht, daß alles, was sich ereignet, Funktion eines undurchsichtigen Anderen ist. Man kann dieses Denken auch für religiös halten und Gott als eine Art Weltenverschlinger in und hinter den Medien verorten. Aber auch dieses Denkmotiv, leider, wird uns redselig serviert. Denn nichts Gescheites darf nicht gesagt sein im Roman.

    Niemanns "Wie man´s nimmt" ist sicher kein Generationenroman, als der er schon im Vorfeld der Publikation gehandelt wurde. Aber er ist tatsächlich eine medial und technisch gewendete und zugespitzte Reprise jener totalen Gesellschaftsverwerfung wie sie eine Generation vorher noch als politische Haltung verbreitet war. Der anonyme Apparat ist alles, alles ist der anonyme Apparat. Dadurch, daß er jetzt mit Fernsehen und Kino, Computerspielen und Werbung läuft, ändert sich seine totalisierende Funktion nicht. Un(an)greifbar ist er, in seinen Wirkungen universell.

    Die Generation, die mit Pop groß und mit Diskurs- und Medientheorien schlau geworden ist, hat es schwer mit dem schönen alten Instrument des Romans. Sie wird es kaum benutzen können, ohne sich selbst zu verändern. Norbert Niemann hat eine große Anstrengung unternommen, um unter selbst auferlegtem Erzählverbot dennoch einen Roman zu schreiben. Er markiert exakt das Gegenteil von dem, was zur Zeit als unterhaltsame Erzählliteratur gefeiert wird. Niemann flüchtet davor in die überdrehende, die rasende Diskursivierung (während Ingo Schulze die extreme Reduktion wählt). Süffig sind beider Romane nicht. Aber der popsozialisierte und theoriegetriebene Westler mißtraut seinem Medium zutiefst. Noch opfert er in Haßliebe den anderen, den technischen Medien.